Christian Drosten
Schillerrede
Ende 2020 hielt der Virologe Christian Drosten die Schillerrede in Marbach. Er sprach von der Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung, die auch dieses Jahr viele von uns beschäftigen kann.
An Friedrich Schillers Geburtstag am 10. November hält jedes Jahr eine anerkannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens im Deutschen Literaturarchiv Marbach die Schillerrede. Letztes Jahr sprach der durch seine Coronavirus-Forschungen bekannt gewordene deutsche Wissenschaftler Christian Drosten. Die Veranstaltung fand digital statt, Links zu einer Videoaufzeichnung wie der Originalquelle finden sich am Ende folgender Textdokumentation.
Sehr geehrte Frau Professor Richter,
Sehr geehrte Frau Ministerin,
Liebe Freundinnen und Freunde von Friedrich Schiller,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben ausgerechnet mich – einen Virologen – eingeladen, die traditionelle Festrede zum Geburtstag von Friedrich Schiller zu halten. Damit haben Sie eine ausgesprochen ungewöhnliche Wahl getroffen – auf jeden Fall eine, die von Offenheit zeugt und von echtem Mut zum Risiko.
Ich kann hinter dieser Einladung auch Neugier erkennen. Neugier, das vertraute Terrain zu verlassen. Und Neugier auf etwas Neues, Unbekanntes und vielleicht sogar Unbequemes. Das finde ich reizvoll, auch weil Neugier genau das ist, was mich und andere Forscher ohnehin seit jeher umtreibt.
Ihre Einladung hat auch bei mir Neugier geweckt. Schließlich gab sie mir die Möglichkeit, mir Gedanken über mein ganz persönliches Verhalten zu Schiller zu machen. Auch und gerade deshalb möchte ich mich an dieser Stellte herzlich für Ihre Einladung bedanken, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Augenscheinlich haben Schiller und ich schon einmal eine große Gemeinsamkeit: wir beide haben Medizin studiert. Zudem haben wir – wenn auch aus unterschiedlicher Motivation und unterschiedlicher Zielrichtung – die praktizierende Medizin hinter uns gelassen. Ihn zog es in die Literatur, mich in die medizinische Forschung.
Als Forscher mit naturwissenschaftlich-rationalem Fokus bin ich fasziniert davon, die Natur zu verstehen und ihre Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten zu durchdringen. Mein Interesse ist auf den Gewinn valider wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichtet. Ich möchte anhand von Experimenten, Beobachtungen und Studien zu Schlussfolgerungen kommen, die durch jeden nachprüfbar sind. Ich verfolge in meiner Arbeit keine politischen Absichten. Aus rein professioneller Sicht ist mein Verhältnis zum Literaten Friedrich Schiller daher zunächst einmal distanziert.
Allerdings ist es gerade für einen Wissenschaftler faszinierend, sich auf diese ganz andere Welt einzulassen und Schillers Sturm und Drang näher zu erkunden. Mir ist dabei klar, dass ich auf dem Gelände der Literatur und der Philosophie leicht auf Abwege geraten kann. Daher möchte ich mich heute vor zwei Dingen hüten: Erstens möchte ich Ihnen Friedrich Schiller nicht erklären. Das haben Legionen von Literaten und Historiker längst eingehend und überzeugend getan. Und zweitens möchte ich Friedrich Schiller nicht für mich vereinnahmen oder vor meinen Karren spannen. Das verbietet schon die Hochachtung vor der historischen Person Schiller.
Aber auseinandersetzen mit ihm möchte ich mich schon. Auf die Kernfrage, was Schiller mir persönlich bedeutet und inwieweit sein Leben und Werk fürs uns heute Relevanz besitzt, werden wir am Leitmotiv von Schillers Werk nicht vorbei können: der Freiheit. Aber genauso werden wir auch über Verantwortung reden müssen, denn beide Elemente bedingen sich für mich elementar.
Aber lassen Sie uns der Reihe nach vorgehen – und damit zunächst zur Freiheit, dem zentralen Begriff, um den sich Leben und Werk Friedrich Schillers ranken. In der Mehrzahl seiner Werke geht es darum, wie sie erkämpft, gesichert und beschützt, aber auch wieder verloren gehen kann. Schiller ist ein überzeugter Kämpfer für die Freiheit. Sein Anliegen ist es, das Freiheitsvermögen und Freiheitsbewusstsein des einzelnen Menschen und der Gesellschaft insgesamt zu stärken. Sich selbst bezeichnet er dabei als „Weltbürger, der keinem Fürsten dient“.
Aus dieser Perspektive betrachtet ist mir Schiller durchaus vertraut. Auch als Forscher und Wissenschaftler will ich frei und unabhängig arbeiten können. Alles andere wäre für mich mit den Grundvoraussetzungen für wissenschaftliche Forschung schlicht nicht vereinbar. Wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht davon abhängig sein, wer sie zutage fördert, in Auftrag gibt oder am Ende bezahlt. Sie gilt universell und steht jedem zur Verfügung. Damit ist also auch der Forscher eine Art Weltbürger im Schiller’schen Sinne, der keinem Fürsten, sondern der Erkenntnis dient.
Es sind vor allem drei Dimensionen dieser Freiheit, die mir besonders wichtig sind. Es ist zunächst die Freiheit der Wissenschaft selbst. Ich bin Virologe mit einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Coronaviren. Dieses Thema habe ich mir selbst ausgesucht. Ich fand Viren schon immer faszinierend, aber diese Viren reizen mich seit vielen Jahren ganz besonders. Wie sind sie aufgebaut? Wo kommen sie her? Wie werden sie übertragen, wie schnell breiten sie sich aus und verändern sich dabei? Diesen Fragestellungen gehe ich aus eigenem Antrieb mit hoher Motivation seit vielen Jahren nach. Niemand gibt mir dabei eine Richtung vor oder verlangt, dass ich gewissen Fragestellungen oder Themen vielleicht eher nicht nachgehen sollte.
Friedrich Schiller musste sich diese Freiheit hart erkämpfen. Was er zu Papier brachte, fand nicht überall Anklang. Es gab Landesherren, die mit seinen Ansichten nicht einverstanden waren. Er war mit Schreibverbot bedroht und zur Flucht gezwungen. Meine Liebe zur Freiheit des Wortes hat mich weniger hart getroffen. Im Gegenteil: sie wird honoriert und hat mich zuletzt an die Charité geführt.
Das zweite für mich wichtige Element der Freiheit betrifft die Methode,
nach der ich wissenschaftliche Erkenntnis gewinne. Dieser Prozess findet weltweit nach etablierten Regeln und denselben hohen Standards statt. Meine Freiheit besteht darin, dass niemand mich zwingen kann, von diesen Standards abzuweichen – etwa durch Vorgaben, wie ich Themen anzugehen, Experimente zu planen oder Studien auszuwerten habe. Die Regeln und Leitplanken wissenschaftlicher Forschung gelten universell. Ich bin ausschließlich den Fakten verpflichtet – dem wissenschaftlichen Experiment, meinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Was zählt, ist mein eigener Verstand, der kollegiale Austausch, das beständige Ringen um belastbaren Erkenntnisfortschritt. Dabei muss ich mich jederzeit der harten wissenschaftlichen Debatte über meine Arbeit stellen. Diese Art zu arbeiten macht mich als Forscher unabhängig von möglichen Erwartungen und Interessen Dritter.
Auch für den Aufklärer Friedrich Schiller – und da erkenne ich eine weitere Gemeinsamkeit – bedeutet Freiheit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er war ganz bestimmt niemand, der anderen nach dem Mund geredet oder Ideen Dritter einfach weitergetragen hätte. Er hat es als Auftrag verstanden, auf die Fragen, die ihn umtrieben, authentische, eigenständige Antworten zu finden. Die Freiheit des Denkens war ihm lustvolle Herausforderung und Verpflichtung. Dafür war er persönlich sogar bereit, Härten hinzunehmen, zu fliehen und immer wieder von vorne anzufangen.
Schließlich und drittens genieße ich die Freiheit, meine Forschungsergebnisse ungehindert mit anderen teilen zu können. Diese Möglichkeit ist ein elementarer Bestandteil der Wissenschaft. Nur wenn Erkenntnisse geteilt, diskutiert und überprüft, im weiteren Prozess widerlegt oder weiterentwickelt werden, kommen wir in der Forschung voran. Damit die Gesellschaft davon profitieren können, ist es aber auch wichtig, dass wir Forscher unsere Ergebnisse verständlich und transparent kommunizieren.
Dieser Aspekt ist für mich persönlich gerade in den letzten Monaten besonders wichtig gewesen. Und wird es absehbar auch bleiben. In der Pandemie sehe ich mich wie viele andere Wissenschaftler in der Pflicht, zu informieren und Orientierung zu geben. Je besser wir alle das Virus und die Pandemie verstehen, desto eher können wir eigenverantwortlich die richtigen Entscheidungen für unser Verhalten treffen. Wie stoppen wir die rasante Ausbreitung? Wie schaffen wir es, unser Gesundheitssystem nicht zu überfordern? Wie können wir Ansteckungen und schwere Krankheitsverläufe bis hin zum Tod vermeiden?
Gerade weil es auf unser persönliches Verhalten ankommt, brauchen wir verlässliche Informationen. Die Pandemie ist kein unabwendbares Schicksal. Wir selbst bestimmen durch unser Verhalten, ob sich die Lage verschlimmert oder verbessert. Jeder von uns leistet – so oder so – seinen persönlichen Beitrag. Daher ist die wissenschaftsbasierte Information der Öffentlichkeit für mich eine genauso wichtige Strategie im Kampf gegen das Virus wie die Entwicklung eines Medikaments oder Impfstoffs.
Damit sind wir beim zweiten zentralen Punkt angekommen, dem ich heute nachgehen will: der Frage nach der mit der Freiheit in Zusammenhang stehenden Verantwortung. Was fangen wir mit all der Freiheit an, die wir so sehr schätzen? Was leiten wir daraus für den Umgang mit anderen Menschen und der Gesellschaft als Ganzes ab?
Bei der Antwort auf diese Fragen scheint mir Schiller besondere Aktualität zu haben. Für ihn war klar, dass persönliche Freiheit nicht losgelöst von der Gesellschaft gelingen kann. Schiller war bereit, auch seinen Mitmenschen Freiheit zuzugestehen. Damit die Freiheit aller geschaffen und erhalten werden kann, ist es wiederum notwendig, dass die Menschen füreinander einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen. Umso besser das klappt, umso weniger bedarf es auch Eingriffen „von oben“.
In der Pandemie hat sich gezeigt, wie relevant dieser Grundsatz noch heute ist. Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen. Je unbedachter und egoistischer ich aber handle, desto eher muss der Staat meine Freiheit beschränken, um das Gemeinwesen wie auch das Wohlergehen der anderen Menschen wirksam zu schützen.
Was aber bedeutet „verantwortliches“ Handeln? Reicht es – frei nach Schiller – aus, die Menschen auf ihre freie Entscheidung hinzuweisen, in der Pandemie nur aus Neigung und ohne äußeren Zwang das Richtige, Vernünftige zu tun? Werden sie dann freiwillig mitmachen? Oder brauchen wir – frei nach Immanuel Kant – einen eher strengen Hinweis auf Pflicht und Verantwortung? Eine Art pandemischen Imperativ: „Handle in einer Pandemie stets so, als seist Du selbst positiv getestet, und Dein Gegenüber gehörte einer Risikogruppe an“?
Ich verstehe meinen Auftrag als Wissenschaftler so, dass ich Menschen mit Informationen und Erkenntnissen in die Lage versetze, diese Frage für sich selbst entscheiden zu können. Meine Rolle und mein Beitrag bestehen darin, die Methoden meines Fachgebietes zu erklären, die Grenzen wissenschaftlicher Studien aufzuzeigen, einzuordnen, was Fakt und was Fiktion ist. Und natürlich fühle ich mich dazu verpflichtet, korrigierend einzugreifen und ausgemachten Unsinn auch einmal beim Namen zu nennen. Dabei muss ich die Sprache der Wissenschaft in anschauliche, aber immer noch stimmige Bilder und Analogien übersetzen, die jedem eingängig sind.
Wenn Sie sich heute als Wissenschaftler auf dieses Experiment einlassen, sind Sie sofort mittendrin im breiten öffentlichen Meinungskampf um die Coronavirus-Pandemie. Und das ist für jemanden, dem es um Fakten und gesicherte Erkenntnis geht, eine, sagen wir mal, interessante und lehrreiche Erfahrung. Sie stellen zum Beispiel fest, dass ihre Beiträge Teil einer ungemein hart geführten Debatte werden. Wissenschaftliche Ergebnisse werden hier nicht sachlich und kühl im Kreis der Fachwelt seziert. Sie werden im Hinblick auf ihre politischen, sozialen und persönlichen Auswirkungen diskutiert und mit hoher Emotionalität bewertet. Das Ganze findet rund um die Uhr bei hohen Temperaturen im Schleuderwaschgang der sozialen Medien statt.
Unter diesen sehr speziellen Voraussetzungen ist es besonders wichtig, als Wissenschaftler authentisch, also bei sich und erlerntem methodischen Rüstzeug zu bleiben und „keinem Fürsten zu dienen“. Ich bin Virologe und Wissenschaftler. Ich bin kein Politiker. Keine Wahl hat mich dazu legitimiert, politische Entscheidungen zu treffen. Ich kommuniziere die Fakten und helfe dabei, sie einzuordnen. Nicht mehr und nicht weniger.
Im Hinblick auf das Coronavirus habe ich als Wissenschaftler damit zwangsläufig den Job, unangenehme Wahrheiten zu kommunizieren. Das Virus kann ich nicht wegretuschieren. Es ist da. Es wartet auf seine Gelegenheit, und es wird sie nutzen, wenn wir nicht dazwischenschlagen. Es verhandelt nicht und geht keine Kompromisse ein. Aufgabe von uns Virologen ist es, dieser von wissenschaftlichen Erkenntnissen getragenen Wahrheit in der Öffentlichkeit immer wieder Gehör zu verschaffen. Es liegt nun einmal in der Verantwortung des Wissenschaftlers, ein realistisches Bild zu zeichnen und nicht das gewünschte.
Gleichzeitig weisen die von uns aufgezeigten Erkenntnisse auch den Weg, wie wir mit diesem kompromisslosen Gegner fertig werden. Und dieser Weg ist gangbar: Wir müssen im Sinne Schillers Verantwortung für uns und andere übernehmen. Das heißt konkret, dass wir Abstandsregeln einhalten und unsere Mobilität und Kontakte möglichst beschränken.
Das ist für alle von uns hart und ruft daher nahezu zwangsläufig auch Widerstand hervor. Damit umzugehen, ist nicht immer einfach. Der natürliche Reflex wäre es, sich weg zu ducken. Genau das dürfen wir Wissenschaftler aber nicht machen. Auch hier kann Schiller uns als Beispiel dienen. Wir müssen unseren Überzeugungen treu bleiben und dürfen nicht kleinbeigeben. Es ist nicht zuletzt unsere Freiheit als Wissenschaftler, aus der die Pflicht erwächst, diesem Auftrag nachzukommen.
Und es ist bemerkenswert, dass immer mehr Forscher genau das tun. Sie bringen sich ein und übernehmen in dieser gesellschaftlich und politisch schwierigen Lage Verantwortung. Ich bin froh, dass viele Virologen, Epidemiologen, Kliniker und Psychologen einen wertvollen Beitrag leisten, die Auseinandersetzung zu versachlichen, die Qualität der Debatte zu steigern und den jeweiligen Stand der voranschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse einzuordnen.
Diese Einordnung ist nicht nur aufgrund der äußeren Begleiterscheinungen anspruchsvoll. Es haben sich auch inhaltlich zwei Problemfelder herauskristallisiert, auf die in der Kommunikation kontinuierlich eingegangen werden muss: das eine rührt aus der Besonderheiten der aktuellen Pandemieentwicklung und das zweite aus dem begrenzten öffentlichen Verständnis für den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung.
Lassen Sie mich mit der Pandemieentwicklung beginnen: Die Dimension der damit verbundenen Herausforderungen deutlich zu machen, fällt uns Wissenschaftlern nach wie vor schwer. Das hat einen ganz einfachen Grund: die menschliche Intuition und Erfahrungswelt. Ob Alter, Gehalt oder Familie: wir sind an lineare Entwicklungen gewohnt. Epidemien wollen sich an diese vermeintliche Gesetzmäßigkeit allerdings nicht halten. Viren haben das Potential, sich exponentiell zu vermehren. Wenn sich Menschen dessen nicht bewusst sind, reagieren sie überrascht oder gar überfordert, wenn Fallzahlen tatsächlich stark oder gar explosionsartig ansteigen.
Gerade auf Seiten der Politik ist ein Verständnis für diese Zusammenhänge wichtig. Schließlich müssen Politiker frühzeitig über Maßnahmen entscheiden, die ein exponentielles und nicht zu kontrollierendes Wachstum verhindern sollen. Allerdings muss auch in der Gesellschaft das Verständnis dafür verbreitet werden, sonst verliert die Politik zwangsläufig an Vertrauen und Zustimmung.
Aktuell werden die von der Politik erlassenen Beschränkungsmaßnahmen noch allzu oft auf Basis des Status quo beurteilt. Dem exponentiellen Wachstumspotential des Virus wird nur von Teilen der Gesellschaft Rechnung getragen. Dementsprechend werden die Maßnahmen nur allzu oft als übertrieben oder verfrüht gebrandmarkt. Gefühlt, im Jetzt, erscheint das Infektionsgeschehen weniger bedrohlich. Dementsprechend skeptisch sind viele Menschen gegenüber weiteren Beschränkungsmaßnahmen. Noch schwieriger ist die rückblickende Bewertung von Maßnahmen der Vorbeugung, also die Anerkennung dessen, was nicht eingetreten ist, weil es mit Kraftanstrengungen vermieden wurde. Dieses „Präventions-Paradoxon“ ist eine enorme Herausforderung, die wir nur mit einer proaktiven Kommunikation und wissenschaftsbasierter Information der Menschen begegnen können.
Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus dem begrenzten öffentlichen Verständnis für die Logik wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Der Weg dahin ist mit einer Expedition ins Unbekannte zu vergleichen, die Irrungen und Rückschläge miteinschließt. Ursprüngliche Theorien und Annahmen können sich als falsch erweisen und gleichzeitig wichtige neue Impulse liefern. Für Menschen, die dies nicht gewohnt sind, ist das mitunter schwer nachzuvollziehen, insbesondere, wenn sie sich – wie jetzt in der Pandemie – valide Informationen erhoffen, an denen sie ihr Handeln ausrichten können.
Gerade für politische Entscheider ist unser wissenschaftliches Treiben eine regelrechte Zumutung. Das politische Handeln folgt nämlich einer grundlegend anderen Logik. Es ist darauf ausgerichtet, möglichst langfristig tragende Rahmenbedingungen zu schaffen. Kurskorrekturen werden vom politischen Gegner jeweils als Zeichen des Scheiterns eines Politikansatzes gebrandmarkt. Und das war leider auch bei der Pandemiebekämpfung der Fall. Dass politische Entscheider die Maßnahmen aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder nachbessern oder korrigieren mussten – denken Sie nur an den Mund-Nasen-Schutz –, fand nicht überall ein positives Echo.
Dabei waren solche Kurskorrekturen absehbar und naheliegend. Dass die Politik diese vollzogen hat, spricht auch klar für und nicht gegen sie. Schließlich fußten deren Maßnahmen auf den jeweils neuen Erkenntnissen, die von der Forschung über das Virus zutage gefördert wurden. Und das waren – gemessen an der Kürze der Zeit – beachtlich viele.
Dank intensiver Forschungsarbeit wissen wir heute schon viel über das Virus. Wir können die Letalität und das unterschiedliche Risiko in verschiedenen Altersgruppen bemessen. Die Krankheitsentstehung und Immunität verstehen wir immer besser, und auch im Hinblick auf die Testmöglichkeiten und das Verbreitungsverhalten haben wir enorme Fortschritte gemacht. Nicht alle diese Erkenntnisse hätte man von Anfang an so erwartet, einige wurden und werden weiterhin bezweifelt und durch fortlaufende Studien auf die Probe gestellt. Gibt es etwas Neues, muss man seine Bewertung auch daran anpassen. So geht Wissenschaft nun einmal.
Und genau diesen Entwicklungsprozess müssen wir – die verantwortlichen Wissenschaftler – Politik und Gesellschaft aktiv erklären, wenn wir wollen, dass sie uns Vertrauen und Unterstützung schenken. Genau das treibt mich auch in meinen Kommunikationsbemühungen an. Ich möchte, dass die Menschen informiert sind. Der Rückgriff auf diese Informationen versetzt sie in die Lage, aktiv an der Diskussion über das jeweils Notwendige und Erforderliche teilzuhaben und damit die Pandemiebekämpfung mit auszugestalten. Die Möglichkeit der Partizipation sorgt hoffentlich für breite gesellschaftliche Akzeptanz.
In der Pandemie gilt dasselbe wie bei allen großen globalen Herausforderungen unserer Zeit: wenn wir unsere Freiheit und unser Wohlergehen erhalten wollen, müssen wir die Mühe auf uns nehmen, die gesamte Gesellschaft mit zu nehmen. Wir müssen auch komplexe Sachverhalte für die Allgemeinheit aufbereiten und sie sachgerecht informieren. Gerade als Wissenschaftler haben wir hier eine gesellschaftlich wichtige Funktion, in der uns niemand ersetzen kann. Das bedeutet explizit auch, unsere Erkenntnisse in die laufende öffentliche Debatte einzubringen und sie klar in der Sache und ohne Parteinahme zu vertreten.
Gleichzeitig dürfen wir nicht zusehen, wenn Fakten ignoriert, verdreht oder verkürzt werden. Wenn Wissenschaft politisiert, instrumentalisiert oder in ihren Standards verletzt wird, müssen wir mit nachweisbaren Fakten Stellung beziehen.
Und das gilt beileibe nicht nur für die Infektionsforschung in einer Pandemie. Es gilt für alle Wissenschaftsfelder, die sich drängenden Problemen mit Entscheidungsdruck und weitreichenden Konsequenzen widmen, etwa die Klimaforschung, die eine andere tückische Entwicklung globalen Ausmaßes bearbeitet.
Für die freie Wissenschaft ergibt sich also eine verantwortungsvolle Kommunikation als eine gesellschaftliche Verpflichtung. Es ist die Pflicht, die aus der Freiheit erwächst, an die uns heute Friedrich Schiller an seinem Geburtstag erinnert.
Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch einmal auf Friedrich Schiller zurückkommen, weil er noch einen weiteren wichtigen Hinweis für uns Wissenschaftler und unsere Arbeit parat hat. Es geht darum, wie wir unsere Stimme erheben und in welcher Haltung wir unseren Beitrag leisten. Das ist nicht ganz unwichtig, weil ja der Ton oft die Musik macht.
In den Xenien wendet sich Schiller in einer Art Spottgedicht gegen die rigorose moralische Strenge und die Überhöhung des Pflichtgedankens eines Immanuel Kant.
Es heißt:
„Gern dient' ich den Freunden, doch tu ich's leider mit Neigung. Und es wurmt mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat: Du musst suchen, sie zu verachten, und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.“
Ich deute die etwas verzwickten Verse so: Jeder von uns ist aufgefordert, nicht nur aus Pflicht und Verantwortung zu handeln. Die Neigung und die Lust gehören untrennbar dazu. Und auch wenn Kant uns mahnt, der Mensch solle seiner Vernunft nicht allein aus Freude gehorchen: Er darf es durchaus. Die Freude an der Erkenntnis darf also auch in der jetzigen Situation unser verantwortungsvolles Handeln antreiben. Von daher bin ich mir recht sicher: Auch Friedrich Schiller würde Maske tragen.
Mit dieser These will ich es bewenden lassen.
Bewahren Sie sich die Freiheit und die Freude des Denkens.
Zeigen Sie Verantwortung.
Und vor allem: Bleiben Sie gesund.
Ich danke Ihnen.