Ein Fotoprojekt über das Leben der Nachkommen deutscher Auswanderer auf fünf Kontinenten
5x Deutschland in aller Welt
Der Hamburger Fotograf Jörg Müller erzählt uns im Interview wie er im Rahmen dieses einzigartigen Fotoprojekts – einer Kooperation mit dem Goethe-Institut – die Kultur, Identität und Lebenswelt dieser deutschen Gemeinschaften erlebt hat.
Wie entstand die Idee zu der Ausstellung?
Bei einem Reportage-Auftrag für die Zeitschrift National Geographic über die mennonitische Siedlung Rot-Front (Bergtal) in Kirgistan entstand die Idee, deutsche Sprachinseln auf fünf Kontinenten zu fotografieren. Ich war beeindruckt von den enormen kulturellen Gegensätzen zwischen den tief religiösen christlichen Mennoniten und den muslimischen Kirgisen. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die Mennoniten nach Kirgistan und trotz großer Unterschiede entwickelte sich ein positives Miteinander der beiden Volksgruppen, von dem alle profitierten. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme und ihrer Auswirkungen war dies – neben der Migrationshistorie meiner eigenen Eltern und Großeltern, die in den letzten Kriegstagen aus Ostpreußen und Pommern nach Westdeutschland kamen – ein Beweggrund für mich, mich mit den Auswanderungsströmen der Vergangenheit zu beschäftigen. Für mein Projekt wählte ich Orte (jeweils einen pro Kontinent mit Ausnahme von Australien) mit einem möglichst großen deutschstämmigen Bevölkerungsanteil, einer deutschsprachigen Schule und von Deutschland unterstützten Schulen (Ausnahme: Litkowka) sowie einer funktionierenden Wirtschaft, die die Gemeinden zukunftsfähig machen. Äußerst überraschend bei der Recherche war, dass es gerade in fernen Ländern noch so zahlreiche intakte deutsche Sprachinseln gibt.
Wie wurden die Länder und die Orte ausgewählt, die Sie dann bereisten und porträtierten?
Dem Projekt vorangestellt habe ich eine ausführliche Recherche. Mein Ziel war es für jeden Kontinent einen deutschen Ort zu finden, der für etwas Besonderes steht und den Ort innerhalb des Ausstellungsprojekts interessant macht und sich natürlich auch gut fotografieren lässt. Mit Litkowka war dies z.B. ein kleines russlanddeutsches Dorf in Sibirien, vollkommen abgeschieden und komplett unbekannt. Als ich den Ort recherchiert habe, gab es zu dazu keinen Treffer bei Google.
Im Gegensatz dazu war Pomerode schon vor meiner Recherche sehr bekannt als „die deutscheste Stadt Brasiliens“. Niederlassungen großer deutscher Unternehmen und regelmäßig stattfindende deutsche Stadtfeste, die brasilienweit berühmt sind, waren so ziemlich das Gegenteil von dem was ich in dem abgelegenen Litkowka vorgefunden habe.
Wieso ist das Thema der Ausstellung im Jahre 2022 aktuell?
Das Thema ist heute hoch aktuell aufgrund der Flüchtlingswellen, die seit Jahren Europa erreichen. In meinem Fotoprojekt zeige ich die Nachfahren von Deutschen, die im 19. Jahrhundert (und auch schon in früheren Jahrhunderten) ihre Heimat aufgrund von Kriegen, Hungersnöten, extremer Armut und religiöser Verfolgung verlassen haben. Es sind die selben Gründe aus denen heute Flüchtlinge nach Europa kommen. Daher lautet der Untertitel der Ausstellung auch „Im Spiegel der Migration“.
Bei vielen Menschen ist in Vergessenheit geraten, dass Deutschland noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein armes Land war, in dem verschiedene Kriege herrschten, die Hungersnöte zur Folge hatten und Teile der deutschen Bevölkerung ihre Existenzgrundlage raubten. Dies waren die Gründe weswegen viele Auswanderer alles hinter sich gelassen haben und ihre deutsche Heimat in ihrem Leben nie wieder gesehen haben. Es waren nicht wenige Auswanderer, die die ersten Jahre im neuen Land nicht überlebt haben. In Brasilien (Pomerode) z.B. starben viele der ersten Auswanderer-Generation an Schlangenbissen, Tropenkrankheiten und durch Giftpfeile der dort ansässigen Indianer. Ärzte gab es keine.
Mein Projekt soll zeigen, wie letztendlich trotz aller Schwierigkeiten, die deutschen Gemeinschaften von ihren Gastländern gut aufgenommen wurden, sie sich integriert haben und dies für die Nachfahren der Auswanderer, aber auch für ihre Umgebung, heute soziale, politische, sprachliche und wirtschaftliche Vorteile bedeutet und gelungene Migration zudem ein wichtiger Beitrag zur Völkerverständigung ist.
Wie wird die deutsche Sprache verwendet und gepflegt an den einzelnen Orten?
Der Stand der deutschen Sprache ist in den einzelnen Orten sehr unterschiedlich. Generell geht die Tendenz dahin, dass die jüngeren Generationen immer weniger Deutsch sprechen (insbesondere in Brasilien und Russland), während die älteren Generationen fast immer noch fließend Deutsch sprechen. Oft klingt dies etwas altertümlich. Moderne Begriffe werden durch Begriffe aus der jeweiligen Landessprache ersetzt (z.B. Parabrisa - für das deutsche Wort „Windschutzscheibe“ - in Brasilien).
Ich habe festgestellt, dass dort wo die Chancen gesehen werden, die das Erlernen der deutschen Sprache mit sich bringt (z.B. die Möglichkeit in Deutschland zu studieren), wie bei den wohlhabenden Farmersfamilien in Südafrika, aber auch bei den progressiven Mennoniten in Mexiko, wird großer Wert darauf gelegt, dass die Kinder auch zu Hause Deutsch sprechen. Zudem werden die Kinder und Jugendlichen meist auf deutsche Privatschulen geschickt, wo der Focus nicht nur auf der deutschen Sprache liegt, sondern auch das Bildungsniveau insgesamt deutlich höher ist, als in den staatlichen Schulen.
Beeindruckt hat mich sehr, dass in Rumänien und Südafrika sowie auch bei den progressiven Mennoniten in Mexiko schon die Jugendlichen neben Deutsch meist auch noch drei weitere Sprachen fließend sprechen.
Was waren ihre interessantesten Erlebnisse, Erfahrungen und Begegnungen?
Das lässt sich pauschal so nicht sagen. Jeder der fotografierten Orte hat etwas sehr Spezielles und Ungewöhnliches. Die überragende Freundlichkeit und Großzügigkeit der Menschen in dem fotografierten russlanddeutschen Dorf, das Herodesspiel der Zipser zu Weihnachten in Rumänien, die große Lebensfreude der Deutsch-Brasilianer, die Lebensart der Farmer in Südafrika (einem wunderschönen Land), aber auch die über Jahrhunderte erhaltenen Traditionen der Mennoniten haben mich sehr beeindruckt.
Wenn ich über einzelne herausragende Ereignisse berichten soll, waren dies für mich vielleicht der Besuch eines Gottesdienstes der konservativen Mennoniten, wo ich leider nicht fotografieren konnte und ein paar Tage später mein Besuch in einer Sonntagsschule der traditionellen Mennoniten (ein Bild davon ist auch in der Ausstellung zu sehen). Dort wurde ich von einem der traditionellen Mennoniten gefragt, ob ich ihm nicht Bilder aus den anderen deutschen Orten zeigen könnte, die ich bereits fotografiert hatte. Auf meinem Smartphone zeigte ich ihm die Bilder aus dem sibirischen Dorf, das ich fotografiert hatte. Innerhalb von kurzer Zeit bildete sich eine Menschentraube um uns herum und es ging bei jedem Foto ein Raunen durch die Menge. Die Vorfahren der Mennoniten hatten auf ihrer 500-jährigen Wanderung, nach dem sie Deutschland verlassen hatten, über 200 Jahre in Russland gelebt. Erst 1922 kamen sie nach Mexiko. Dadurch war ihnen die russische Kultur (mit den blau angestrichenen Häusern, deren Einrichtung, aber auch das Essen) sehr nah. Die Bilder erinnerten sie an ihre eigene Jugend und an die Häuser ihrer Großeltern.
Welche Rolle spielt Deutschland noch im Leben der Menschen (der Nachfahren der Auswandere) der bereisten Orte?
Deutschland spielt nach wie vor eine große Rolle, allerdings auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Eine Klammer ist sicherlich, dass es durch die gemeinsame Herkunft einen großen Zusammenhalt in den deutschen Gemeinden gibt. Wichtige Faktoren dabei sind die deutsche Sprache, die deutschen Schulen, die deutschen Feste, die deutsche Kultur (insbesondere Musik) und das deutsche Essen.
Es gibt aber auch strategische Überlegungen, dass z.B. der Besuch einer deutschen Schule verbunden mit Schülerausstauschprogrammen mit Schulen aus Deutschland, eine gute Vorbereitung auf ein Studium in Deutschland sind. In Europa und der ehemaligen GUS ist es natürlich relativ einfach auch wieder zurück ins Land der Vorfahren zu gehen. Die meisten Rumänien- und Russlanddeutschen z.B. haben diese Chance auch genutzt.
Interessant ist, dass Deutschland in den einzelnen von mir besuchten Orten sehr unter schiedlich wahrgenommen, in Brasilien z.B. extrem positiv, in Südafrika eher kritisch.
Natürlich können enge Kontakte nach Deutschland auch direkte wirtschaftlichen Vorteile für die deutschen Orte mit sich bringen. So gibt es z.B. mit Netzsch (weltgrößter Pumpenhersteller aus Franken) und Bosch Rexroth zwei große deutsche Produktionsstandorte in Pomerode/Brasilien.
Letztendlich sind diese Orte auch Brückenköpfe nach Deutschland. Die meisten Menschen, die ich auf meinen Reisen getroffen habe, sind stolz auf ihre deutsche Herkunft. Und was vielleicht wenig bekannt ist, allein in Brasilien gibt es über 6 Millionen Nachfahren deutscher Auswanderer, die auch ein Grund dafür sind, dass es sehr viele deutsche Unternehmensfilialen in Brasilien gibt. Zudem stehen auch hinter vielen großen brasilianischen Unternehmen Nachfahren deutscher Auswanderer.