OFF-Biennale
WASSERMELONENREPUBLIK beim Symposium Season of Darkness der OFF-Biennale
Katalin Erdődi, Dramaturgin und Kuratorin spricht über das von ihr mitinitiierte kollaborativ-künstlerische Projekt Wassermelonenrepublik, das vom Internationalen Koproduktionsfonds des Goethe-Instituts unterstützt wurde.
Melonen fliegen von Hand zu Hand. Zehn bis fünfzehn Kilo schwere Kugeln[1] . Auf den Melonenfeldern von Süd-Békés bilden die Tagelöhner:innen eine Menschenkette, um das Pflücken zu beschleunigen. Die Landwirte von Nagykamarás und Medgyesegyháza streiten oft darüber, welche der beiden Gemeinden mehr mit dem Melonenanbau verbunden ist. Heute ist die "Süße von Medgyes" landesweit bekannt, aber István Fehér, ein pensionierter Geschichtslehrer, der die Geschichte von Nagykamarás erforscht, erzählt uns, dass in Kamrás bereits während der türkischen Besatzung um 1600 ein Stück Turkestan-Melone von einem osmanischen Steuereintreiber erfasst wurde.
Die Melonen fliegen, aber wir befinden uns nicht mehr auf den Feldern, sondern auf dem Obst- und Gemüsemarkt am Mars-Platz in Szeged. In Abwesenheit der Tagelöhner:innen bittet der Melonenbauer János Sallai das Publikum des Theaterfestivals THEALTER, ihm beim Ausladen der Ware zu helfen. Die Aufführung von Wassermelonenrepublik hat begonnen. Ein Ensemble von Bewohner:innen aus Nagykamarás und Medgyesegyháza hat in Zusammenarbeit mit der bildenden Künstlerin Antje Schiffers, der Dramaturgin Katalin Erdődi, der Schauspielerin Orsolya Török-Illyés und dem Dokumentarfilmer Máté Kőrösi dieses unkonventionelle Gemeinschaftswerk geschaffen, das sowohl auf die Tradition des dörflichen Volkstheaters als auch auf die partizipativen und kollaborativen Praktiken der zeitgenössischen Kunst zurückgreift.
Die Aufführung nimmt die Situation der Melonenbauern als Ausgangspunkt. Die aktuellen Schwierigkeiten und Kämpfe werden von den beteiligten Kleinbauern erzählt, die äußerst betroffen sind von der politischen Korruption, die ihre Region in den letzten Jahren plagte und schließlich in einen der größten Korruptionsskandale in der Geschichte Ungarns mündete. Antje Schiffers hat ein Ölgemälde als Teil des Bühnenbilds gemalt, das mit den dunklen Gewitterwolken, die sich über den Melonenfeldern sammeln, diese explosiv angespannte Situation visuell einfängt und zugleich auf den Namen der Region verweist, die durch ihre reiche Geschichte an Unruhen und Bauernaufständen als „Stürmischer Winkel” bekannt ist. Mit dem Titel Wassermelonenrepublik hallt die Aufführung nicht nur in der Bezeichnung „Bananenrepublik” nach, sie macht auch zum Thema, dass immer weniger Menschen Melonen anbauen. „Diese Republik schrumpft”, bringt es János Sallai auf den Punkt. Die einzige Möglichkeit, diesem Schrumpfen entgegenzuwirken, sieht er in der Bündelung der Kräfte: Die Kleinbauern sollten sich mit den lokalen Gemeinden zusammenschließen und eine Verkaufsgenossenschaft gründen.
Weitere Protagonist:innen der Performance, die im Sommer 2021 beim THEALTER Festival in Szeged, mit Unterstützung des Koproduktionfonds des Goethe-Instituts aufgeführt wurde, sind Zsuzsa Nagy, eine vielseitige Geschäftsfrau, die als Melonenhändlerin, Friseurin, Gemeinderätin und Chefin der örtlichen Bürgerwehr tätig ist. Ihre Karriere hat sie als Melonenverkäuferin auf dem Markt am Mars-Platz in Szeged begonnen. István Fehér, der Geschichtslehrer, der die Ortsgeschichte von Nagykamarás erforscht, spricht über die glücklichste Zeit des Dorfes und was wir aus der Vergangenheit lernen können. Plötzlich fährt ein Autocross-Auto mit brüllendem Motor auf den Marktplatz ein und wir erfahren, wie die Familie von Tünde Sallai und Gábor Tóth den Melonenanbau mit ihrer neuen Leidenschaft, dem Amateur-Autocross-Rennen, das ihre 13-jährige Tochter Viktória Tóth für sich entdeckt hat, in Einklang bringt.
Melonen fliegen von Hand zu Hand - dieses Mal in Niedersachsen, Deutschland, am Modellflugplatz am Rande von Bostelwiebeck, einem kleinen Dorf mit vierzig Einwohner:innen. Vor dem Hintergrund der umstrittenen Windräder, die die örtliche Gemeinschaft gespalten haben, wird das Melonenpflücken zu einer Melonenchoreografie. An dieser, in der Landschaft komponierten Aktion sind Dorfbewohner:innen aus der Umgebung und Mitglieder der Familie Sallai-Tóth beteiligt. Gábor Tóth hat die letzte Ernte der Melonensaison 2022 aus Ungarn mitgebracht. Die Zuschauenden fahren mit Treckerkorso und Fahrrädern an der Szene vorbei. Damit schreiben Antje Schiffers und Katalin Erdődi mit ihren Mitstreiter:innen aus Ungarn die Geschichte der Melonenproduzenten auch in ihrem nächsten Gemeinschaftswerk in Deutschland fort. Erzählungen aus verschiedenen Dörfern und Regionen werden miteinander verwoben.
Wassermelonenrepublik ist Teil eines langfristigen künstlerischen Forschungsprojekts, das Antje Schiffers und Katalin Erdődi 2021 unter dem Titel Collaborative Village Play ins Leben gerufen haben und das nach Ungarn auch in Deutschland und Spanien umgesetzt wurde. In jedem Fall arbeiten sie mit lokalen Bewohner:innen und Kooperationspartner:innen als „Erfindungskommittee” zusammen, um gemeinsam zu entscheiden, welche Themen und Geschichten das Village Play verhandeln soll, und führen diese experimentierfreudigen Performances meist vor Ort in den mitwirkenden Gemeinden auf. Die Kollaborationen werden in Zusammenarbeit mit lokalen Filmemacher:innen, jeweils in Form eines experimentellen Dokumentarfilms erfasst, um einen Einblick in den gemeinschaftlichen Entwicklungsprozess sowie in die verschiedenen Gegenden und Situationen zu gewähren, in denen die Künstler:innen mit den Menschen vor Ort zusammengearbeitet haben.
Im Jahr 2023 wurden die drei bisherigen Kooperationen in einer großen Ausstellung mit dem Titel Redes do país (Vernetztes Land) präsentiert, die am 4. März im Museum Fundación Luis Seoane in A Coruña (Galizien, Spanien) eröffnet wurde. Die Ausstellung ist bis zum 3. September zu sehen.
Am 26. Mai wird Katalin Erdődi, Dramaturgin und Kuratorin, eine der Initiatorinnen von Wassermelonenrepublik und Collaborative Village Play, im Rahmen des OFF-Biennale-Symposiums Season of Darkness im Panel The Borough über die Freuden und Herausforderungen der kollaborativen künstlerischen Arbeit in ländlichen Gebieten sprechen.