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Yom HaShoah
Das Hirn konnte nicht fassen, was die Augen sahen

Fanny Englard
© privat

„Juden mussten immer um ihr Leben kämpfen. Das macht uns anders als andere Völker. Wir haben aus der Shoah gelernt. Das Recht zu leben lassen wir uns nicht noch einmal nehmen... In Deutschland heißt es: „Nie wieder Krieg“. Für uns heißt es: Niemals wieder werden wir erneut wehrlose Opfer des Judenhasses sein.“  (Fanny Englard)

Von Yael Goldman


Fanny Alter wurde am 6. September 1925 in Köln als Tochter von Eltern, die vor Pogromen aus Polen nach Deutschland fliehen mussten, geboren. Mit ihren Eltern und ihren vier Brüdern lebte sie in einer gemischten Nachbarschaft mit jüdisch-religiösen und christlichen Familien. Nach Hitlers Machtergreifung, Fanny war sieben Jahre alt, mussten sie den Familiennamen in Dominitz ändern. 1936 kehrte der Vater nach Polen zurück, in der Hoffnung, dort eine neue Existenz aufbauen und die Familie nachholen zu können.

1938 wurden die polischen Juden von den Nazis aus dem Land gewiesen. Das Shabbat-Essen, Hühnersuppe und Hefekuchen, waren zubereitet, als die Mutter sich, ohne Abschied, von ihren Kindern trennen musste.

Der vierzehnjährige älteste Bruder und der kleinste, der bei der Mutter bleiben wollte, begleiteten sie. Die dreizehnjährige Fanny blieb mit ihren elf- und neunjährigen Brüdern allein. Da Fanny nicht ins Heim wollte, lief sie mit ihren Geschwistern davon. Die Mutter schickte eine Postkarte, in der sie beschrieb, dass die Ausgewiesenen auf den Bahngleisen in der Kälte im Niemandsland, zwischen deutschen und polnischen Absperrungen vegetieren mussten, da auch Polen sich nicht für die Menschen verantwortlich zeigte. So blieb den zurückgebliebenen Geschwistern nichts anderes übrig, als in ein Kinderheim zu gehen.

Mit 15 beschloss Fanny, zur Jugend-Hachschara nach Hamburg zu gehen, wo sie den Rabbiner Dr. Joseph Carlebach kennenlernte, der sich um die Jugendlichen kümmerte. Am 6. Dezember 1941 wurde sie mit dessen Familie und vielen anderen Juden und Jüdinnen aus Hamburg in das Vernichtungslager Jungfernhof in Riga deportiert und von dort zu Aufräumarbeiten ins Ghetto Riga abkommandiert. Die vorigen Bewohner waren gerade zur Ermordung abgeholt worden, in den Häusern stand noch das Essen auf den Tischen und die Herde waren noch warm.
Die meisten Menschen, die in Jungfernhof geblieben waren, unter ihnen die Familie des Rabbiners Carlebach, wurden im Wald von Bikernieki ermordet. Fanny erzählte, dass das Hirn nicht fassen konnte, was die Augen sahen.

Als Zwangsarbeiterin betonierte sie Flugbahnen, schleppte Bretter über die zugefrorene Düna, flickte mit gesundheitsschädlichem Klebstoff Schlauchboote der Wehrmacht, arbeitete in einer Zuckerfabrik und als Torfstecherin - bei Hunger, Kälte und Nässe in völlig unzureichender Kleidung. Sie musste Massenerschießungen miterleben, litt unter Läusen und Karbunkeln, erkrankte an Diphterie und musste trotzdem immer weiter arbeiten.
 

Die Knechtschaft im Holocaust 
Warum ist Jude sein so eine Qual?
Als Jude geboren, wurde mir zum Schicksal
Die Jugendzeit in der Knechtschaft des Holocaust zu verbringen
Und jeden Tag mit Hunger und schwerer Arbeit zu ringen.
Diese Arbeit, sie war so schwer, ach, so schwer,
dass oft ich glaubte, ich kann schon nicht mehr.
Eine Peitsche dann auf mich niedersauste
Und meine Ehre, mein Ehrgefühl in alle Winde zerzauste.
Meine Seele, sie schrie und tat immer wieder dasselbe sagen:
Ein Hund, sogar ein Hund wird nicht so geschlagen.
Was ist mein Verbrechen? Oh, Seele, dies darfst „Du“ nicht fragen,
denn als Jude geboren bist du und musst dies Schicksal ertragen.
Fanny Englard (aus Gedenke – Vermächtnis des Überlebens, Fanny Englard)

Carlebachs Gebete, das „Schma Israel“ und ihr persönlicher Glaube gaben Fanny Kraft.
Von Riga kam sie ins KZ Kaiserwald, wo sie in der Kantine der SS Wachleute putzen musste. Dem Offizier, der sie mit den Worten „Wenn du nicht so putzt, wie ich es will, wirst du dein blaues Wunder erleben!“ bedrohte, antwortete sie „Das erlebe ich jeden Tag“.
Im Sommer 1944 wurde sie weiter nach Stutthof deportiert, wo sie im Lager Sophienwalde, Baumwurzeln ausgraben und Loren mit Kies beladen und transportieren musste, um Wege mit diesem Kies zu ebnen. Manchmal mussten die Frauen auch Gleise verlegen und Ziegeldächer decken. Das weibliche Wachpersonal quälte die Zwangsarbeiterinnen und sie litten unter dauerndem Hunger, träumten von Brot. In den eiskalten Baracken froren ihnen sogar die Haare an den Pritschen fest.
Zu ihrem 19. Geburtstag bekam Fanny von ihrer Cousine Rosel zwei kleine Pellkartoffeln geschenkt. Beim Todesmarsch schleppte Fanny die apathische Rosel, die ihr in diesen letzten Monaten ein so wichtiger Halt war, mit.

Anfang März 1945, auf einer Etappe des 100 km langen Todesmarsches, wurden sie in Lauenburg (Hinterpommern) von der Roten Armee befreit. Fanny wog nur noch 30 Kilo und konnte kaum noch aus eigener Kraft gehen.

Sie und einer ihrer vier Brüder waren die einzigen Überlebenden aus ihrer Familie.

Über Leipzig kam Fanny nach Belgien. Dort lernte sie ihren späteren Mann kennen, mit dem sie im Mai 1947 nach Israel auswanderte. Sie war dabei, als Israels Unabhängigkeit erklärt und ausgelassen in den Straßen gefeiert wurde. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, Zilla und Ruthi.

Nie Wieder!

Nach der Shoah widmete Fanny ihr Leben dem Gedenken und der Mahnung „Nie wieder!“ Jahrelang war sie fast täglich in der Bibliothek des Goethe-Insituts zu Gast, wo sie aus Tageszeitungen und Magazinen Artikel zur Aufklärung suchte und kopierte, und unterstützte das Zentrum für Antisemitismusforschung der Tel Aviver Universität als freiwillige Mitarbeiterin.
Als Zeitzeugin hat Fanny vor Soldat*innen gesprochen und unzählige Jugendgruppen bei sich zu Hause empfangen, bewirtet und aufgeklärt. Ihr Lebenszeugnis wurde von dem Hamburger Lehrer Hédi Bouden für den Schulunterricht didaktisiert.
Unermüdlich hat diese streitbare Person gemahnt, appelliert und auch von anderen hartnäckig eingefordert, bei antisemitischen oder israelfeindlichen Vorfällen Stellung zu beziehen. Das hat viele Menschen beeindruckt.
Mit der nach Palästina eingewanderten Tochter des Rabbi Carlebach Miriam Carlebach (Z“L) blieb Fanny in Kontakt. Sie überlebte ihre Tochter Zilla und ihren Mann Arie und hatte sechs Enkel und dreizehn Urenkel, auf die sie sehr stolz war.

Sie sagte immer:
 

Meine Kinder, meine Enkel und meine Urenkel sind meine späte Rache an den Nazis

Fanny Englard



Die jungen Leute, die ihr begegneten, hat Fanny aufgefordert, ihre Botschafter des Gedenkens zu sein. Ihre unermüdliche Energie ist am 27.02.2022 friedlich erloschen.

Jetzt ist die Reihe an uns, ihre Bemühungen weiter zu führen.


 

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