Yom HaShoah
Ohne Weinen, ohne Tränen

Nathan Diament und seine Geschwister nach dem Krieg
v.l.n.r. Paul (Amos), Jacky, Nathan | Diament Collection © privat

Ohne Weinen, ohne Tränen, mussten Mütter ihre Kinder an den Bahnhof bringen. Es hätte sie als Jüdinnen verraten und sich und ihre Kinder in die Hände der Nazis ausgeliefert.

Von Yael Goldman

Nathan Diament (1938-2024) war vier Jahre alt, als ihn seine Mutter Gitla zum Gare du Midi in Brüssel einer unbekannten Frau übergab. Diese Dame war die junge Lehrerin Andrée Geulen, die mit ihren Freundinnen ein ausgeklügeltes System erfunden hatte, jüdische Kinder zu verstecken und zu retten. Der Widerstandsgruppe gelang es mindestens 1000 jüdische Kinder zu retten. Nathan hatte sehr viel Glück. Er kam zu der gebildeten und liebevollen Familie Brunin in Gent, die den kleinen Spielkameraden „Albert Dumont“ für ihren Sohn einfühlsam und als Familienmitglied aufnahm und ihn förderte. Nathans echten Namen erfuhren sie erst nach der Shoah. Nathans kleiner Bruder Paul kam zweijährig zu einer flämischen Landwirtschaftsfamilie, der ältere Bruder Jakob (Jacky) blieb in einem Kinderheim, die Eltern konnten sich ebenfalls verstecken. Sie waren in den dreißiger Jahren aus Polen nach Brüssel ausgewandert. Als die Schlinge der Deportationen sich 1944 immer enger zog, nahm die Mutter das Risiko einer langen Fahrt auf sich, um Nathan noch einmal zu sehen. Seine Pflegemutter Ginette versicherte Gitla, dass sie Nathan selbst im Todesfalle der Eltern, nicht fortgeben würden. „Ihr werdet überleben. Er ist wie unser Sohn“ gab sie der bedrückten Mutter auf den Weg.

Nach der Shoah kam die kleine Familie wieder zusammen. Alle fünf hatten überlebt, im Gegensatz zu den Familienangehörigen, die in Polen geblieben waren.

Als Nathan 8 Jahre alt war, kam ein stiller, gebrochener Onkel zu Besuch. Jehezkiel D. Kirszenbaum - ein Maler, dessen Werke zwei Mal von den Nazis vernichtet wurden. Das erste Mal in Berlin, wo Kirszenbaum engagiert mit den großen Künstlern seiner Zeit arbeitete und verkehrte und wo er 1933 als „entarteter Künstler“ mit seiner Frau Helma Hals über Kopf Berlin verlassen musste. Sie flohen, wie hunderte andere Künstler, nach Paris, wo sie täglich in Cafés zusammenkamen, malten oder gemeinsam Ausstellungen organisierten. In Paris zerstörten die Nazis zum zweiten Mal hunderte seiner Ölgemälde und Aquarelle, während seine Frau und er in französischen Lagern inhaftiert waren. Für beide war ein Versteck organisiert, aber Helma wurde geschnappt und in Auschwitz ermordet.
Dieser Onkel prophezeite Nathan, die Seele eines Künstlers zu haben.

1949 wanderte Familie Diament nach Israel aus. Für 1957 war eine Ausstellung von Kirszenbaums Werken im Tel Aviv Museum geplant, doch Kirszenbaum starb 1954. Nathans Weg führte ins Ausland. Mit den Familien, die Paul und ihn versteckt hatten, blieb bis heute eine generationsübergreifende, lebendige Verbindung. Mit einem Baum auf der Allee der Gerechten unter den Völkern in Yad VaShem wurden sie geehrt.

Baumpflanzen, Yad VaShem

Ehepaar Brunin im Garten der Gerechten, Yad VaShem | © privat

Die Prophezeiung seines Onkels blieb in Nathans Kopf lebendig. Nachdem Nathan Ende der 90er Jahre das Kirszenbaum Archiv erbte, wuchs in ihm das Bedürfnis, den Maler Jehezkiel David Kirszenbaum aus der Vergessenheit zu holen und ihm den gebührenden Platz in der Kunstgeschichte zu geben. Der Hauptkurator des Israel Museums begutachtete die Bilder Kirszenbaums und meinte „Er ist ein wichtiger Maler. Bitte lass ihn nicht sterben.“ Daraufhin begann Nathan ein Kunststudium an der Hebräischen Universität Jerusalem. In diesem Zusammenhang kam er in die Bibliothek des Goethe-Instituts in Tel Aviv, wo er mithilfe der Fernleihe Fachbücher ausleihen konnte. Er stöberte in vielen Museen und Kellern mehrerer Länder, um Bilder von Kirszenbaum ans Licht und ins Bewusstsein zu bringen und baute ein umfangreiches Netzwerk von Partnern und Helfern auf. 2013 veröffentlichte er zusammen mit 2 Autor*innen das Buch J. D. Kirszenbaum - The Lost Generation (La Ge`neration Perdue, Somogy Edition D`Art). Zusätzlich organisierte er Ausstellungen.
Ruth Rey und Nathan Diament

Ruth Rey und Nathan Diament, Goethe-Institut in Tel Aviv, 2018 | Foto: Cedric Dorin© Goethe-Institut Israel


Das Goethe-Institut konnte ihm für die Recherchearbeiten Volontäre vermitteln, die mit Interesse, Engagement und mit modernen Techniken vertraut, seine Bemühungen unterstützen konnten.
So konnten Ausstellungen von Kirszenbaums Werken im Muzej Mimara, Zagreb (2018/19) und im Museum für Verfolgte Künstler, Solingen (2019) verwirklicht werden.

Zum Jubiläumsjahr „1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ konnte das Goethe-Institut eine Ausstellung der Karikaturen Kirszenbaums, die er unter dem Namen Duvdivani in den Berliner Jahren zum Broterwerb gezeichnet hatte, unterstützen, die in vier Ländern und in über 50 Städten gezeigt wurde. (2021 - 2024)

Zuletzt arbeitete Nathan parallel auf Französisch und Hebräisch an seinen Lebenserinnerungen, die kurz vor seinem überraschenden Tode fertiggestellt werden konnten, und den gleichen Titel wie dieser Artikel tragen. Ohne Weinen, ohne Tränen

Nathan starb im März im Alter von 86 Jahren. Er hinterlässt seine Frau Gili, zwei Kinder und sechs Enkelkinder und seinen Bruder Amos (Paul).

Wer diesem klugen, bescheidenen und lächelnden Menschen, mit einer feinen Prise Humor ausgestattet, immer das halbvolle Glas wahrnehmend, begegnen konnte, wird ihn nie vergessen. Er schätzte die kleinen Dinge, die kleinen Gesten. Er schätzte und erzählte gute Geschichten. Die Familie war sein größter Schatz. Für den jährlichen Yom HaShoah war er ein viel geladener Redner.

Yael Goldman, Goethe-Institut Israel
 
Lieber Nathan, in Erinnerung an die Zeit unserer gemeinsamen Arbeit, möchte ich Dir gerne noch einmal ein paar Zeilen schreiben.

Als junge Studentin habe ich mich 2017 auf den Weg gemacht, um mehrere Monate lang Israel zu bereisen, die Sprache zu üben und Kultur und Leute kennenzulernen. Das war gerade zu der Zeit, als Du dich entschlossen hattest, beim Goethe-Institut Tel Aviv für dein Herzensprojekt, die Spurensuche um das Werk des Malers J. D. Kirszenbaum, um Unterstützung zu bitten. Und so kam es, dass ich für zwei sehr interessante Monate mit Dir zusammenarbeiten durfte.
Beim Lesen von persönlichen Briefwechseln, beim Ordnen, Katalogisieren und Archivieren von Zeitungsartikeln und beim Erfassen von Gemälden und Zeichnungen, bin ich der Person Kirszenbaum, aber auch der Geschichte meines Heimatlandes und Europas so nahegekommen wie nie zuvor. Dies wurde noch ergänzt durch Deine eigene Geschichte, die ich in den vielen persönlichen Gesprächen mit Dir erfahren durfte. Dieser persönliche Austausch ist mir bis heute in besonderer Erinnerung geblieben. Dein einladendes Wesen, Deine Großzügigkeit und Offenheit, die Einladungen zu Dir nach Hause und das Treffen mit Deiner ganzen Familie sind ein wichtiger Bestandteil meiner Zeit in Israel und so wirst Du mir immer als warmherziger und aufgeschlossener Mensch in Erinnerung bleiben.

Am Ende bleibt mir nur zu betonen, wie dankbar ich bin, dass ich Dich kennenlernen und mit Dir arbeiten durfte und Deiner Familie mein herzliches Beileid auszudrücken!
In tiefer Verbundenheit,
Ruth


2. April 2024, Ruth Rey
 

 

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