Rosinenpicker | Literatur
So viel Alltagsrassismus

Kathrin Schrocke schreibt in ihrem aufrüttelnden Jugendroman über allgegenwärtigen Rassismus, weiße Privilegien und die typischen pubertären Gedankengänge eines 16-Jährigen.

Von Lena Maurer

Als weiße Jugendbuchautorin über weiße Privilegien zu schreiben – mit diesem Anspruch hat sich Kathrin Schrocke an ihr neuestes Buch gesetzt und erst einmal intensiv recherchiert. Über weiße Zerbrechlichkeit und ihren eigenen tiefsitzenden Rassismus. Denn weiße Menschen können aufgrund ihrer gesellschaftlichen Prägung gar nicht anders, als rassistisch zu sein – davon ist die Autorin überzeugt. Ihre Erkenntnisse verpackt Schrocke in ein Jugendbuch, das sowohl in den Schulunterricht passt als auch in einem Atemzug verschlungen werden kann – so einfach und doch ergreifend erzählt die Autorin in Weiße Tränen eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Leben, Tod und Alltagsrassismus.

Willkommen in der „Schule ohne Rassismus“

Der Protagonist des Buches ist Lenni, ein weißer 16-Jähriger, der nach den Ferien in seinem Gymnasium einen neuen Mitschüler kennenlernt: Benjamin, den „schwärzeste[n] Junge[n]“, den Lenni je gesehen hat. Und Benjamin hat die Nase schon nach den ersten Tagen gestrichen voll. Nachdem er vom Rektor überschwänglich empfangen wird („Wir sind hier sehr stolz auf die verschiedenen Nationalitäten unserer Schüler“), gefragt wird, von wo er „wirklich“ herkommt und ob er gut tanzen kann, vergeht Benjamin die Lust auf die sogenannte „Schule ohne Rassismus“ und er prangert die Diskriminierung offen an. Als in der Theater-AG dann auch noch Serkan, Lennis bestem Freund und einzigem Nichtweißen in der AG, die Rolle des Affen in King Kong gegeben wird, bezeichnet Benjamin die Theater-AG und allen voran deren Leiter Herrn Prasch als rassistisch.

Lenni weiß damit zunächst nicht wirklich etwas anzufangen. Denn Rassisten sind doch böse Menschen und sein Lieblingslehrer Herr Prasch ist einer der tollsten Lehrer von allen. Und doch scheint sein bester Freud Serkan Benjamins Kritik etwas abgewinnen zu können. Er bezeichnet Lennis Leben plötzlich als Ikea-Bällebad und wirft ihm vor, sich noch nie mit seinen Privilegien beschäftigt zu haben. Und auch Serkans Schwester Elif erzählt Lenni, wie offen rassistisch in der Schule mit ihrem Kopftuch umgegangen wird.

„Gerade ging es doch nur um King Kong…“

In der Ich-Form geschrieben, verfolgen die Leser*innen Lennis Gedanken, die die Geschichte wahrscheinlich so gut machen, wie sie ist. Denn obwohl Lenni erst 16 ist, fühlt man sich als weiße Person bei vielen seiner Überlegungen ertappt: Das rechtfertigende „die hat es doch nur gut gemeint“, mit dem Lenni plötzlich fremde weiße Personen zu verteidigen versucht. Das Gefühl, das Thema abhaken zu wollen und genervt davon zu sein, dass es plötzlich überall aufzutauchen scheint. Seine eigenen Privilegien nicht begreifen zu wollen und nicht reflektieren zu können, dass die Vorkommnisse, von denen BIPoC erzählen, vielleicht doch kein Zufall sind, sondern struktureller Rassismus.

Während Lenni langsam immer mehr über Rassismus lernt und Mikroaggressionen gegenüber BIPoC immer stärker wahrnimmt, taucht man als Leser*in in die Welt eines typischen Teenagers ein: Lenni, der konstant über Frauen nachdenkt (besonders über Elif), Lenni, der langweilige Sonntage verbringt und Lenni, der mit seinen peinlichen Eltern, die ein Bestattungsinstitut führen, rumdiskutiert.

Dabei fällt auf: Das ganze Buch dreht sich vor allem um Lenni. Und genau das war die Intention von Schrocke. Denn Rassismus, so schreibt sie im Nachwort ihres Buches, ist ein weißes Problem. Schrocke wollte nicht Benjamin in den Mittelpunkt der Geschichte stellen, sondern Lenni, eine weiße Person. Denn von weißen Menschen ausgehend, so Schrocke, berührt Rassismus das Leben von Nichtweißen. Passend schreibt die Autorin dazu: „Während Benjamin zu Hause sitzt, läuft die Maschinerie ganz ohne ihn weiter.“

Wer lernt von wem?

So wie Lenni in dem Buch vor allem durch Serkan, Elif und Benjamin über Rassismus lernt, hat auch Schrocke ihr Wissen mehrheitlich Schwarzen Forscher*innen zu verdanken. Ihr Nachwort schließt daher mit Lektüre- und Podcastempfehlungen, die über Rassismus aufklären sollen. Damit scheint Schrocke zu versuchen, BIPoC den Raum nicht wegzunehmen und ihre eigenen Privilegien aufzuzeigen.

Dank der leicht zugänglichen Sprache und den nachvollziehbaren Erzählsträngen ist Schrocke ein Jugendroman gelungen, der definitiv auch an Erwachsene empfohlen werden kann.
 
Kathrin Schrocke: Weiße Tränen
München: Mixtvision, 2023. 240 S.
ISBN: 978-3-95854-205-1

Top