Aufklärung
Wie ‘Agents of Ishq’ Indien beibringt, über Sex zu sprechen
Es gibt diese etwas frech-witzige Bemerkung, die man über Indien oft hören kann: “Schon komisch, dass in einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen und einer rasant wachsenden Bevölkerung niemand jemals Sex hat!“
Von Rhea Almeida
Das Bonmot weist auf jene in der indischen Gesellschaft weit verbreitete und in allen Schichten, Kasten und Religionen, in der Stadt wie auf dem Land gleichermaßen gültige Tradition hin, nach der es sich nicht schickt, offen über Sex zu sprechen. Die sozialen Sitten lassen es nicht zu, dass man in der Öffentlichkeit über die Gewohnheiten im Schlafzimmer spricht; im Falle von Unverheirateten ist das Thema gänzlich tabu. Diese moralische Kontrolle sorgt für eine Zensur von sinnlichen Filmszenen, für die Stigmatisierung von Pornographie, für die Kriminalisierung von Sex-Arbeit und für die Ausfassung, vorehelicher Sex sei Sünde. Es gibt für die allerwenigsten Inder und Inderinnen geschützte Räume, an denen sie über sicheren, einverständlichen und respektvollen Sex sprechen oder lernen können. Die folgenreichsten Konsequenzen hat dies in einer solchen Gesellschaft für Kinder und Jugendliche, die falsch informiert werden und denen vermittelt wird, Sex, Begehren und natürliches Verlangen seien als etwas anzusehen, für das man sich schämen muss.
Zum einen befassen sich Eltern und Lehrer (jene Erwachsene, die Einfluss auf das Leben der Kinder und Jugendliche haben) entweder gar nicht mit dem Thema oder sie liefern unzureichende und unvollständige Informationen, was nicht weniger gefährlich ist. Zum anderen informieren sich Jugendliche, wenn es um die Themen Sex, Sexualität, Anatomie, Begehren und so weiter geht, anhand von weitergeleiteten WhatsApp-Botschaften und orientieren sich an Pornos, was beides zu wenig fundiertem Wissen führt. Abgesehen von den klinischen Diagrammen, wie sie sich in Biologie-Lehrbüchern finden, aber gänzlich kontextlos daherkommen, bekommen Jugendliche sonst keinerlei Informationen über einen ganz natürlichen und wichtigen Teil des Lebens. Dies stellt ein systemisches Problem dar, nicht das eines Einzelnen. Dieses nicht funktionierende System mit einer guten Portion Farbigkeit, Spaß und Kreativität zu reparieren, machen sich die Agents of Ishq (Liebesagenten) zur Aufgabe.
Paromita Vohra und die Agents of Ishq
“Indien ist ein so komplexes und vielfältiges Land, dass bestimmte Dinge in einem Teil des Landes tabu sind, andere dann in einem anderen Landesteil. Wenn man sich alles immer nur von all diesen Tabus vorschreiben lässt, dann kann man über gar nichts mehr reden,“ meint Paromita Vohra, Künstlerin, Filmemacherin, Autorin und Mitbegründerin der Plattform Agents of Ishq. Agents of Ishq ist eine kreative Online-Plattform, auf der sich Videos, Bilder, Gedichte, Podcasts, Artikel, Zeichentrick, Comics und vieles mehr finden, um “Sex in ein gutes Licht zu rücken.“ Das Projekt will einen gesunden, informativen Dialog über Sex und Sexualität in einem Land initiieren, in dem das Gespräch darüber sonst von geschichtlicher, politischer und moralischer Jauche erstickt wird.
Die Initiatorin des Projekts erzählt von den Anfängen: “Unser Ziel war es von Anfang an, Agents of Ishq in einer Weise zu gestalten, die Schönheit, Wärme und Freundlichkeit ausstrahlt. Und als eine sichere Umgebung, in der jeder und jede offen über Liebe, Sex und Begehren sprechen kann – ohne jegliche Vorgaben.“ Die Multimedia-Plattform bietet Hilfestellungen für Eltern, Lehrer, Schüler und Studenten, Freunde, Gleichgesinnte und jeden Einzelnen bei dem nicht immer einfachen Gespräch über Sex und Liebe – auch setzt dabei auch auf Comic-Zeichnungen und Info-Grafiken.
Von singenden Kondomen zu Memes des Begehrens
Alle Informationen kommen in bunten Farben, in witziger Sprache und mit einer das Herz entzückenden Begeisterung daher. Die Botschaft von AOI ist einfach zu verstehen. Alle Informationen sind kostenlos, finden sich auf Englisch wie auf Hindi, was den Zugang einfach machen soll. “Es ist schwer zu sagen, mit welcher Sprache wir die Kinder und Jugendlichen am besten erreichen. Und an welchem Punkt wir sie mit unseren Informationen abholen können. Alle, die an der Webseite arbeiten, sind Künstler. Das heißt, wir liefern künstlerische Lösungen. Alles wirkt locker und fröhlich, doch das Einfache und Fröhliche ist immer ein Ergebnis harter Arbeit. Wir tauschen uns viel mit Pädagogen, Eltern, Lehrern aus, bieten Workshops an Colleges an, um auf emotionaler Ebene besser zu verstehen, was die Leute anspricht. Wir wollen Eltern keine Vorgaben machen, wie sie mit ihren Kindern über Sex sprechen sollten, ohne uns selbst vor Augen zu halten, dass niemand mit ihnen über Sex gesprochen hat, als sie Kinder oder Jugendliche waren. Was nämlich bedeutet, dass sie heute nicht unbedingt wissen, wie man solche Gespräche über Sex am besten führt, nur weil sie nun Eltern sind,“ erklärt Vohra.
Singende Kondome, Comics zu Lust und Begehren im Retro-Stil, informative Sex-Memes und Weiteres findet sich regelmäßig auf den Webseiten – alles sehr leicht zugänglich, um damit Spaß zu haben und sich auszuprobieren. Die Künstlergruppe hinter AOI produziert und wählt die Inhalte mit Sorgfalt aus, so dass eine Vielzahl von Themen behandelt wird. Menstruation, ein positives Körpergefühl, Safer Sex, gegenseitiges Einverständnis, Rechte von Transgender-Menschen, Homosexualität, Liebe und Lust und die erotische Geschichte Indiens sind nur einige der Themen, die wiederholt auftauchen. Während der Planungsphase für die Plattform war Vohra klar, dass sie bewusst Positives in die öffentliche Debatte von Sex einbringen wollte, während sich die Medienberichterstattung gegenwärtig hauptsächlich um sexuelle Gewalt dreht.
“Ich bemerkte”, sagt sie, “dass in der Öffentlichkeit viel von Sex die Rede war, doch in welcher Form? In den vergangenen zwei oder drei Jahren gab es beispielsweise zahlreiche Berichte über gewalttätige sexuelle Übergriffe oder Kindesmissbrauch. Zum anderen fanden sich in Zeitschriften Angebote für Konsumenten, die sich in gewisser Weise heute freizügiger und sexuell befreiter fühlen. Es gibt entsprechend viele Artikel in Lifestyle-Zeitschriften. Doch in meinen Augen diente beides weder einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Thema noch einem Informationsgewinn in einer Gesellschaft, die sich nicht besonders informiert über Sex zeigt. Man will keine sexuelle Aufklärung in der Schule. Und im Allgemeinen wird über Sex nicht wirklich gesprochen. Thematisiert wird Sex entweder nur als Ausdruck eines Lifestyles oder aber im Kontext von Gewalt und Missbrauch oder eines Krankheitsbildes. Nicht aber als eine Erfahrung in unserem Leben. Es schien mir notwendig, mich da einzumischen, um ein gefühlvolleres und wärmeres Gespräch über Sex zu befördern, das inklusiv informativ zugleich ist.“
Aufklärung mit Spaß – kostenlos und respektvoll
In einer Kultur der öffentlichen Bloßstellung von Sex leiden Heranwachsende und junge Erwachsene auch darunter, als Jungfrauen verspottet zu werden. Das ist ein weiteres Stigma, das AOI bekämpfen möchte. “Eine Überlegung hat die Gestaltung der Seiten mitbestimmt: Früher gab es viel Scham im Zusammenhang mit Sex. Heute leben wir in einer Zeit, in der viele Scham empfinden, weil sie eben keinen Sex haben. So hat sich die Vorstellung dessen, was als ‘cool’ oder ‘okay’ gilt, mit der Zeit verändert – und ist selbst in gewisser Hinsicht zu einer neuen Norm geworden.”
Während es für sich schon eine große Herausforderung darstellte, die passenden Inhalte gut zugänglich zu gestalten, war die große Frage, wie das Projekt ankommen und angenommen würde. Wie würden Zeichentrick-Genitalien und Gedichte über die Menstruation in einem Land ankommen, in dem das Thema Sex entweder unter den Teppich gekehrt wird oder das Gespräch vom Porno-Konsum geprägt ist? Vohra erklärt, das sei eine Frage der Perspektive: “Wie wird Pornografie definiert? Was für den einen erotisch, ist für den anderen pornografisch. Die meisten Leute bekommen ihre Informationen zur Sexualität über Online-Pornos. Und zwar solche, die in der Regel sehr mainstreamhaft und frauenfeindlich sind. Pornos zu verbieten, stellt aber auch keine Lösung dar. Denn dann werden sie zum Untergrund-Phänomen. Entsprechend geringer wird auch unsere Aussicht auf einen breiteren vernünftigen und hilfreichen Austausch über das Thema.”
Als Vohra die frauenfeindlichen Tendenzen in den meisten Gesprächen über Sex und Begehren erwähnt, frage ich sie nach der feministischen Perspektive auf Sexualität und Einverständnis innerhalb des Spektrums von AOI.
“Es ist wichtig zu verstehen, dass die Sprache des Einverständnisses nicht etwas ist, womit wir groß geworden sind“, erklärt sie. „Wir wachsen nicht mit der Vorstellung auf, dass Frauen ein eigenes sexuelles Begehren besitzen. Stattdessen lernen wir, dass es sich bei ihnen um Objekte des Begehrens handelt. Es ist ganz entscheidend, Frauen als aktive sexuelle Wesen sehen zu lernen, denn wenn alle als sexuell aktiv betrachtet werden, geht es automatisch um das gegenseitige Einverständnis.” Eine von Unterdrückung geprägte Lebenswelt versucht sie mit gesunden Beschreibungen weiblicher Masturbation, mit Videos für Kinder- und Jugendliche zum Üben von gegenseitigem Einverständnis sowie mit anderen gender-positiven Inhalten zu verändern.
Das Verhalten ändern, offline wie online
Da Online-Medien in ihrer Wirkung Grenzen haben, umfasst die Strategie auch den Blick über die Netzwelt hinaus. “Uns ist die Offline-Welt sehr präsent. Vor allem die Tatsache, dass in Indien nicht jeder online ist. Unsere Inhalte entstehen in enger Zusammenarbeit mit anderen Gruppen. Die verwandeln ihre offline gemachten Erfahrungen in neue online-Inhalte und ermöglichen uns dann wiederum Ideen für Offline-Aktivitäten. So sind einige der entwickelten Podcasts beispielsweise schon in Schulbücher übernommen worden”, berichtet Vohra.
Es war ein weiter Weg seit der Gründung von AOI durch Parodevi Pictures im Jahr 2016. Obwohl noch immer viele Herausforderungen vor ihnen liegen, ist der Erfolg, den das Künstlerteam bereits erreicht hat, einfach phänomenal.
“Die Debatte ändert sich nicht über Nacht. Indem man immer mehr Materialien herstellt und die Leute sie verwenden, entwickelt sich eine Debatte, die zunehmend Kreise zieht. Es ist nicht wirklich hilfreich, Leute für ihr althergebrachtes und überholtes Denken schlecht zu reden oder zu bestrafen, denn sie hatten vielleicht schlichtweg keine Gelegenheit, ihre Muster zu überdenken. Meiner Meinung nach ist es aussichtsreicher, sich auf die Inhalte zu konzentrieren, die man in die Welt tragen möchte“, resümiert die Künstlerin.