Marius Goldhorn
Marius’ Sturz nach Kalkutta
Foto (Detail): | © Unsplash, Rimjhim Agrawal
Über den Köpfen von Pratyan und Marius fliegen die Flughunde, während im Kopf von Marius Goldhorn „alles zu groß ist“, um Worte für seinen Besuch in Indien zu finden. Er versucht es trotzdem.
Von Marius Goldhorn
Dieser Text hat zwei Teile. Im ersten Teil geht es um „mich“. Im zweiten Teil geht es um „etwas Wichtigeres“. Wenn du am mir interessiert bist, lies „mich“. Wenn du an etwas Wichtigerem interessiert bist, lies „etwas Wichtigeres“.
- Marius Goldhorn
1. Teil: mich
Wie war’s in Indien? Ich weiß nicht, warum ich immer alles vergesse, es ist nicht so, dass ich es nicht weiß, es gibt nur keine Worte. Alles ist immer zu groß in meinem Kopf. Es war ein Riesendrama. Ich wollte nicht weg. Ich war im Himalaya, ich wollte nach Kalkutta, dann hatte ich keine Zeit und kein Geld mehr, dann musste ich zurück nach Delhi, dabei bin ich doch obsessed mit Bengal, ich muss doch dorthin für meinen Text, flehte ich die Flughafen-Security an. Ich stand im Metalldetektor. Der Security-Mann winkte mich lachend mit seinem Scanner in der Hand heran.„Das ist nicht lustig, lieber Mann“, sagte ich: „Ich habe doch alles schon geplant.“
Es geht los mit dem Besuch des bengalischen Lehrers Rabindrath Tagore auf der Jugendburg Waldeck im Hunsrück, die mein schwuler Uropa und seine schwule Rasselbande, die sich „Nerother Wandervögel“ nannten, besetzt halten, wobei sie fast verhungern. Und so zeichneten sie 1930 ihre Körper vor. Für die Bilder, die kommen werden. Andere Phantasieuniformen, diesmal im Lager und an der Front.
Als nächstes sieht man mich in Delhi, fast hundert Jahre später, wie ich das Penguin Book of Bengali Short Stories in einer Buchhandlung im Khan Market kaufe, in dem es auch Import-Geschäfte gibt, die zwischen leuchtenden Früchten Getränkespezialitäten aus ganz Asien verkaufen. Nescafé Xpress von den Philippinen, Coca-Cola aus Vietnam, Gerstentee aus Korea, Wasser aus dem Himalaya. Eine Woche später, im Himalaya, lese ich in einer Bäckerei in der Nähe von George Everests Haus, diese Kurzgeschichte Aadaab von Samaresh Basu, in der sich vor einer bürgerkriegsartigen Szenerie zwei Männer im Dunklen gegenübersitzen, aus der Ferne die Rufe „Allahu Akbar“ und „Bande Mataram“. Beide Männer weigern sich, ihre Identität preiszugeben. So sitzen sie sich unbekannt gegenüber, keiner kennt die Religion, „die Seite“ des anderen, sie erkennen sich in gegenseitigem Respekt.
Zurück in Delhi, eine Woche später, sitze ich mit Pratyan auf einem Dach und sie erzählt mir von Aadaab und ich lasse mir die Kurzgeschichte nacherzählen und Pratyan redet immer weiter, erzählt von der Mutter-Göttin Shakti und später liest sie ihre Gedichte vor, während über uns Milane und Flughunde fliegen. Und dann in der nächsten Szene hätte ich auf der Howrah-Brücke stehen sollen und in Richtung Kalkutta laufen sollen, aber da waren wir schon am BER gelandet.
„Ich bin noch nicht bereit für Deutsche, die an verlassenen Straßen an roten Ampeln stehen“, sagte ich zu dem Steward. „Wissen Sie, wegen meines Reports muss ich eigentlich zurück.“
Ich flehte ihn an.
Er versuchte mich mit einem dieser orangenen Schokolädchen zu trösten, aber es half nichts.
Mein Gott, an die Armut in Deutschland muss ich mich immer erst gewöhnen. Immer fürchte ich mich, dass wenn ich nach Berlin zurückkehre, dass es den Deutschen inzwischen aufgefallen sein könnte, wie ärmlich hier alles ist und dass sie etwas dagegen unternehmen wollen. Stellt euch das mal vor.
Bloß nicht auffallen, sagte ich mir, einkaufen und mir schnell etwas Anderes vorstellen, unter die Bettdecke und an meinem K-drama-artigen Revolutionsroman weiterschreiben, der sich für mich zunehmend wie ein Exorzismus anfühlt, den ich in fremden Betten und vertrauten Betten ausführte und der ja bald abgeschlossen sein sollte.
„Nicht träumen, junger Mann!“
An der REWE-Kasse schlug mir ein Mann mit Wallrossbart an den Hinterkopf, weil ich den PIN meiner deutschen Karte vergessen hatte.
„Sind Sie nicht der Handballtrainer?“, fragte ich, aber da hatte er mich mit seinem Thomy-Glas mittelscharfen Senf schon überholt und war weg. Wenigstens war ich hier jung, dachte ich, und da ging es mir schon gleich besser.
Ich schälte Kartoffeln, Aloo. Ich hörte ein Interview mit dem britisch-palästinensischen Chirurgen Ghassan Abu-Sittah, über den die Deutschen, nachdem er mit Ermittlern des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesprochen hatte, Einreiseverbot in den Schengen-Raum verhängt hatten. Dann kam ein Interview mit dem griechischen Politiker Yanis Varoufakis, über den die Deutschen ein Einreiseverbot verhängt hatten, weil er auf dem „Palästina-Kongress“ sprechen wollte, den die Deutschen verboten hatten. YouTube schob mich weiter zu einem Werner-Herzog-Interview mit Piers Morgan, über den die Deutschen noch kein Einreiseverbot verhängt hatten.
„Was hatte das denn schon wieder miteinander zu tun?“, klagte ich den Algorithmus an.
„Mit wem sprichst du?“
Tanita stand plötzlich in ihrer Küche.
„Ich?“
Wir sahen Piers Morgan in seine runden Augen. „Was ist das für ein Nazischeiß?“, sagte sie und nahm mir den Sparschäler aus der Hand.
„Hilfe“, sagte ich. Ich spürte meinen Körper nicht mehr.
„Der Pinguin“, sagte Tanita, als sie die Stimme von Werner Herzog hörte.
„Ich weiß nicht, wie … “, sagte ich.
„I can give you a hint“, sagte Werner Herzog plötzlich: „A bengal filmmaker in the 1950 Satyajit Ray, who made the so called Apu Trilogy, a boy growing up in rural india, in a village.“
„Ich muss los“, rief ich.
„Ja“, sagte Tanita, die mich sehr gut kennt und weiß, was passiert, wenn ich wieder denke, dass ich Signale aus dem Universum empfange. Ich gab ihr die seltsam quadratische Thomy-Sauce-Hollondaise- Tüte in die Hand und ließ alles stehen und liegen.
„Wir sehen uns“, sagte sie und machte einen Militär-Salut.
2. Teil: etwas Wichtigeres
Es ist unglaublich, was man erreichen kann, wenn man fünf Stunden nicht online ist.Die Apu-Trilogie besteht aus drei Filmen, die Satyajit Ray, 1921 in Kalkutta geboren, 1955, 1956 und 1959 in Kalkutta und Uttar Pradesh drehte. Sie basieren auf zwei Büchern des bengalischen Autors Bibhutibhushan Bandyopadhyay. Alle drei Filme hatten ein verschwindend geringes Budget und erhielten Preise in Cannes, Berlin, Venedig. Seitdem gilt Satyajit Ray als einer der größten Autoren-Filmemacherinnen des 20. Jahrhunderts. Er drehte insgesamt sechsunddreißig Filme, bei manchen schminkte er die Schauspielerinnen selbst. 1967 schrieb er einen Film namens The Alien, dessen Verfilmung nicht zustande kam. Das Drehbuch zirkulierte in Hollywood, Steven Spielberg plagiierte es und machte daraus E.T.. 1992 wurde Ray im Krankenhaus von Audrey Hepburn der Ehren-Oscar verliehen.
Die Apu-Trilogie erzählt die Geschichte von Apu, von seiner frühen Kindheit bis er selbst Vater wird. Die drei Filme spielen 1910, 1920 und 1940. Indien unterliegt massiven gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen. Man sieht Apu und seine Schwester Durga, wie sie das erste Mal Stromtrassen sehen, wie Apu die Züge entdeckt und die Züge den Subkontinent entdecken. Wie Apus Familie vom Dorf in die Stadt zieht, erst nach Varanasi, später nach Kalkutta. Wie eine Familie vom Land mit britischem Geld, städtischen Drogen und enzyklopädischen Globalwissen konfrontiert wird und wie Apu modern wird, ohne zu morden. Wie gestorben wird. Wie viel gestorben wird, weil wir alle sind vom Fieber bedroht.
Wie Apu das Leiden erträgt, wie er zum Schriftsteller wird, um in den Bergen auch das hinter sich zu lassen. Wie sich alles verändert, aber unveränderliches Dharma – ewig.
Die Apu-Trilogie erzählt in Episoden, aber die freien Form wird von einer unbestimmbare, unerklärliche, zentrumslose Spannung durchstrahlt. Die Wendungen des Films kündigen sich lange an, man wartet nur auf das Eintreffen, dann aber wenn der Tod kommt, ist man ratlos in Ungläubigkeit und Trauer verbannt.
Für ein paar Szenen zwischen Apu und seiner Schwester im ersten Teil Pather Panchali (Ballade vom Weg) werde ich ewig dankbar sein. Für Millisekunden wusste ich, wie es sich anfühlen muss, eine Schwester zu haben.
Im zweiten Teil Aparajito (Der Unbesiegte) wird in einer metafiktionalen Szene innerhalb von zehn Sekunden mehr über den Begriff „Autofiktion“ gesagt, als in den zehntausend Büchern der letzten Woche, von zehntausend Schriftstellerinnen auf der Suche nach ihrer Persona.
Im dritten Teil Apur Sansar (Apus Welt) wandert Apu und lässt alles hinter sich, bis er zu seinem Sohn Kajal zurückkehren kann, für den die Züge, die Apus Leben erst ermöglicht haben, zu einem uninteressanten Spielzeug geworden sind. Dass am Ende der Trilogie dem Sohn Kajal die Entscheidung überlassen wird, ob er mit Apu mitgehen will, zeigt den durchgehend hohen, Alien-artigen Respekt, der allen Familienmitgliedern entgegengebracht wird, insbesondere den Kindern.
Heute habe ich nicht geweint, obwohl ich Apu gehört habe, wie er seine Mutter fragt, ob er zur Schule gehen darf.
Und dann fiel mir doch noch etwas ein, wann war es, ich weiß es nicht mehr, es war so nah, dass ich danach greifen konnte.
Ich stand mit meinem Freund Abhyudai vor einem immensen Einkaufszentrum in C. R. Park. Gerade hatten wir uns ein paar upcoming Rapperinnen angesehen. Es war Nacht, tausend Autorikschas fuhren vorbei und ein Kind bettelte uns an – etwas, das man in Delhi seltener erlebt als in anderen Städten. Abhyudai, dessen Vater Air-Force-Pilot war und der im ganzen Land, auf verschiedenen Bases aufgewachsen war, in Europa studiert, für die UN gearbeitet hatte, und der mir mit seinem globalen Mindset simple Erscheinungen in Delhi erklären konnte, begann plötzlich vor dem Kind zu beten. Lange stand er da mit gefalteten Händen vor dem Gesicht und das Kind und ich sahen ihm schweigend zu. Als er fertig war, gab er ihm wortlos einen Zwanzig- Rupien-Schein.
„Abhyudai, I didnt know you were a believer“, sagte ich.
„I am not“, sagte Abhyudai:
„But everytime you meet a child, you meet god.“