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Schwindel auf dem schmalen Grat
Aus dem Leben eines Spieleentwicklers

Ein Tag im Leben eines Spieleentwicklers
© Jan Bojaryn

Videospiele sind eine Herausforderung, schon bei der Herstellung. Das können Poornima Seetharaman und Sebastian Hollstein bestätigen. In Bangalore und Berlin entwickeln sie sehr verschiedene Spiele und stehen doch vor ähnlichen Aufgaben.

Von Jan Bojaryn

„Ich liebe es, daheim zu arbeiten“, beteuert Poornima Seetharaman. Über den Anlass kann sie sich aber nicht freuen; das Büro ihres Arbeitgebers in Bangalore ist wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Zu Hause sitzt auch Sebastian Hollstein. Er arbeitet sonst in dem Berliner Coworking-Space Saftladen. Auch ohne Pandemie hätten die deutschen und indischen Arbeitstage in der Games-Branche vieles gemeinsam: Beide Profis müssen zwischen Meetings, Organisation und tatsächlicher Spieleentwicklung abwägen. Beide müssen darum kämpfen, dass ihr Tag nicht zu lang wird.

Poornima Seetharamans Arbeitsplatz – auch deutsche Entwickler dekorieren ihren Schreibtisch gern mit Vinyl-Figuren und Postern. Poornima Seetharamans Arbeitsplatz – auch deutsche Entwickler dekorieren ihren Schreibtisch gern mit Vinyl-Figuren und Postern. | © Poornima Seetharaman
Poornima Seetharaman meistert eine besondere Herausforderung: Die Game Designerin hat die meisten ihrer Kolleg*innen noch gar nicht persönlich getroffen. Sie hat im April bei dem Spielegiganten Zynga angeheuert – das Büro in Bangalore war da schon wegen der Corona-Pandemie geschlossen, und es wird wohl bis Juni 2021 nicht wieder öffnen. Zynga steht für leicht zugängliche Hit-Spiele wie FarmVille 2: Country Escape. Das Handyspiel ist zwar schon 2014 erschienen, wird aber immer noch verändert und weiter entwickelt. Wir stellen sicher, dass es heute noch Spaß macht“, erklärt Seetharaman.
 

Mir wird schnell mal schwindlig bei zu vielen Aufgaben."

Sebastian Hollstein

Sebastian Hollstein kennt seine Kolleg*innen schon lange. Er arbeitet immer noch in dem Studio, das er selbst 2011 mitgegründet hat. Studio Fizbin ist in Ludwigsburg gestartet, hat inzwischen auch einen Standort in Berlin und beschäftigt 27 Menschen. In Deutschland kennt man das Studio für The Inner World, ein klassisches Grafik-Adventure mit einem originellen Setting. Seitdem hat sich das Studio „professionalisiert und gewandelt“, erklärt Hollstein. Die Firma lässt sich coachen, um bei dem schnellen Wachstum den Überblick zu behalten. Drei angekündigte Spiele hat Fizbin aktuell in der Produktion, alle werden voraussichtlich im kommenden Jahr erscheinen. Das ist eine Herausforderung für Hollstein, der sich selbst eher als kreativen Typen einschätzt, und der freimütig zugibt, ihm werde „schnell mal schwindlig bei zu vielen Aufgaben“.

Gesperrte Kalender

Auch Seetharaman muss sich die Übersicht erarbeiten. Als Lead Game Designerin ist sie bei Zynga für eine große Bandbreite von Aufgaben zuständig. Einerseits legt sie Wert darauf, selbst „mitanzupacken“ und das eigentliche Spiel mitzugestalten. Andererseits muss sie die Richtung vorgeben, den Fortschritt der beteiligten Teams kontrollieren, nach Problemen Ausschau halten, Mitarbeiter*innen führen. Damit das alles funktionieren kann, braucht es nicht nur viele Meetings, sondern auch Zeiträume, in denen garantiert Ruhe herrscht. „Manchmal blockiere ich meinen Online-Kalender, damit ich mich auf eine Aufgabe konzentrieren kann“, erzählt sie.
 
Erfolgreiche Handyspiele wie FarmVille 2: Country Escape werden auch Jahre nach dem Erscheinen weiter entwickelt. Erfolgreiche Handyspiele wie FarmVille 2: Country Escape werden auch Jahre nach dem Erscheinen weiter entwickelt. | © Zynga Inc.
Die Spielebranche ist berüchtigt für ihre mitunter schwierigen Arbeitsbedingungen. Exzessive Überstunden, in der Szene als „Crunch“ bezeichnet, sind immer noch verbreitet. Allerdings ist das Problembewusstsein gewachsen, auch bei Hollstein: „Anfangs war es nicht so gut“, erzählt er von den Frühzeiten seines Studios. Das junge Gründerteam arbeitete immer weiter an dem großen Ziel des ersten eigenen Spiels, bis einige „auf dem Zahnfleisch gingen.“ Heute wird gegengesteuert: Bei Fizbin „darf man nicht“ länger als acht Stunden pro Tag arbeiten. Einige arbeiten kürzer, es gilt eine Kernarbeitszeit. Alle zwei Wochen werden die Aufgaben im Studio verteilt, täglich wird in Stand-up-Meetings der Fortschritt besprochen.
Say No! More ist eines von mindestens drei Spielen, die Sebastian Hollstein gerade im Blick behalten muss. Say No! More ist eines von mindestens drei Spielen, die Sebastian Hollstein gerade im Blick behalten muss. | © Studio Fizbin
Hollstein bekämpft möglichen Schwindel mit einer robusten Planung. So kann er Spieleentwicklung, eine Lehrtätigkeit, Fachtagungen und Kundenakquise jonglieren. Auch Seetharaman spielt viele Rollen auf einmal. Neben ihrem Job bei Zynga hält sie Vorträge und berät andere Entwicklerinnen – ihre Erfahrung ist gefragt, in diesem Jahr wurde sie als erste Inderin in die Global Hall of Fame der NGO Women in Games aufgenommen. Dass die Zeit am Ende reicht, ist für sie auch eine Frage der Prioritäten. Crunch ist ihrer Meinung nach eine Ausrede für „schlechte Planung“. Gerade während der Heimarbeit in der Pandemie sei der Grat zwischen Arbeit und Privatleben schmal. Meetings könnten jetzt schnell überhandnehmen. Seetharaman rät zu einer gewissen Gelassenheit: „Allen kommt es so vor, als sei alles wichtig. Aber das stimmt nicht.“

Mehr Geld für Kunst

Wichtig ist für Seetharaman das Medium selbst. Sie beschreibt sich als Person mit einer „Indie-Gesinnung“ – sie liebt Spiele, die einen kulturellen Anspruch und eine Botschaft haben, wie das Plattform-Abenteuer Gris des spanischen Indie-Entwicklers Nomada Studio. Sie selbst hat ein Jahr lang auf eigene Rechnung „experimentiert“, bevor sie den Posten bei Zynga angetreten hat. Sie entwickelt eigene Ideen; als sie ihren Kontakten jedoch vor Jahren von ihrem Ansatz eines biografisch inspirierten Spiels über Karnatische Musik erzählte, herrschte Skepsis vor. „Wer würde das denn spielen?“, wurde sie gefragt.

Wer in Indien kreative Spiele machen will, muss auf den globalen Markt zielen."

Poornima Seetharaman


Die Spielefinanzierung in Indien wird besser, aber „wir brauchen mehr Geld für Indies“, fasst Seetharaman das Problem zusammen. Auch Kunstprojekte müssen sich nach kommerziellen Kriterien behaupten.
Hollstein hat es in Deutschland zwar nicht einfach, aber er hat genau mit diesem Ansatz der kreativen Selbstverwirklichung Erfolg: „Wir hätten nichts dagegen, Millionäre zu werden“, grinst er, „aber deswegen haben wir das Studio nicht gegründet.“ Tatsächlich waren Spiele seines Studios auch finanziell erfolgreich, aber „wir rechnen immer mit null Euro“ Gewinn. Inzwischen helfen Länder-, Bundes- und eine EU-Förderung bei der Finanzierung. Auch Publisher steuern einen zentralen Teil des Geldes bei. Die Geldgeber muss Hollstein von seinen Spielen überzeugen; er muss wachsende Budgets begründen. Auch das erfordert eine Balance. „Natürlich wollen wir mit unseren Spielen Geld verdienen, aber dabei nicht unsere Haltung und Vielschichtigkeit über Bord werfen“, sagt Hollstein. „Aber wir beugen uns nicht dem Markt.“
Das Fizbin-Firmenjubiläum wurde dieses Jahr virtuell gefeiert. Das Fizbin-Firmenjubiläum wurde dieses Jahr virtuell gefeiert. | © Studio Fizbin
Mit dem Geld produzieren Fizbin keine Reichtümer, aber einen kulturellen Gewinn. Den würde Seetharaman gern auch in Indien sehen. Sie beobachtet schon eine Entwicklung zum Besseren, mit neuen Geldgebern und einer dynamischen Entwicklerszene. Bei allen Schwierigkeiten sei jetzt „eine tolle Zeit für Indies“, konstatiert sie. Publisher öffnen in Indien nicht nur neue Dependancen, erste investieren auch in unabhängige Künstler. Neuere Erfolgsspiele wie Raji: An Ancient Epic erregen international Aufsehen.

Eine Generation zu früh

Unzufrieden ist Seetharaman aber noch mit der Wahrnehmung ihres Mediums daheim. Spiele seien in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch gefangen zwischen Casual-Titeln wie Candy Crush Saga und Shootern wie PlayerUnknown's Battlegrounds. Das Spannungsfeld reiche vom Suchtmittel zur Zeitverschwendung. Sie wünscht sich mehr Interesse und Offenheit für die Schönheit des Mediums, gerade auch von Eltern – sie telefoniert gern mit ihrem achtjährigen Neffen, um über Minecraft zu fachsimpeln.

Die Zeit ist reif für Indies."

Poornima Seetharaman


Einerseits hat Hollstein es leichter: Politisch sind Videospiele als Kulturgut akzeptiert. Angela Merkels Eröffnungsbesuch der Gamescom gilt als Meilenstein der Anerkennung. „In Deutschland bewegt sich viel“, erkennt er an. Aber er sieht einen Teil des Problems auch bei den Spielen selbst: Schon die typischen Gamepads seien für Nichtspieler ein Buch mit sieben Siegeln. Und wer nicht schon mit 13 gelernt habe, der könne sich heute kaum durch ein 3D-Spiel bewegen. Hollstein stört sich an den Barrieren, die Spiele um das Medium errichten.

Auch er kennt Eltern, die mit ihren Kindern nicht so recht über Spiele reden können. Bis Minecraft-Anekdoten am Abendbrottisch zum Normalfall werden, „braucht es vielleicht noch eine Generation“, schätzt er nüchtern. Das sieht auch Seetharaman so. Das Medium ist international, seine Probleme sind es auch.
 

Wussten Sie Schon?

Poornima Seetharaman ist die erste Inderin, die in die Women in Games (WIGJ) Hall of Fame aufgenommen wurde.

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