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Christiane Ritter
Eine Frau erlebt die Polarnacht

Bucheinband: Eine Frau erlebt die Polarnacht
© Pushkin Press

Eine Frau erlebt die Polarnacht von Christiane Ritter, in einer wunderbaren Übersetzung von Jane Degras erschienen bei Pushkin Press, gibt einen erstaunlichen Einblick in die unbelassene Schönheit und die unerbittlichen Herausforderungen des Lebens auf einer abgelegenen arktischen Insel. LeserInnen, die schon in Amy Liptrot’s Memoiren Nachtlichter Trost und Inspiration gefunden haben, werden zweifelsfrei die Erzählungen von Abenteuer, Überleben und tiefgreifender Selbstfindung vor dem Hintergrund der arktischen Wildnis geniessen.

Was zieht Menschen an die Ränder der Gesellschaft, um Einsamkeit in einer Landschaft zu suchen, die größtenteils unberührt von der Menschheit ist? Als junge Frau habe ich mich schon immer verbunden gefühlt mit den abenteuerlustigen Seelen, Gesetzlosen und Außenseitern, die ihren eigenen Weg bahnen und versuchen, sich selbst in der Natur zu finden. Um herauszufinden, wie das Leben ohne das soziale Konstrukt aussehen kann, an das wir alle gewöhnt sind. Ich verschlang Jack Londons Ruf der Wildnis und Jon Krakauers In die Wildnis nach dem ich den heutzutage Kultklassiker im Kino sah, der auf Krakauers Buch basiert. "Glück ist nur wirklich, wenn es geteilt wird", ist eine dieser Zeilen aus dem Film, die bis heute von RucksacktouristInnen in Hostels auf der ganzen Welt zitiert wird und ein Mantra, das ich mir seitdem ans Herz gelegt habe. Doch während meine Jugend von Geschichten männlicher Entdeckungsreisen geprägt war, fragte ich mich immer, ob es auch Frauen gab, die sich danach sehnten, in die Wildnis zu gehen?

"Eine Frau erlebt die Polarnacht" bietet eine dieser fehlenden Perspektiven und rückt die übersehenen Erfahrungen von Frauen in der Wildnis in den Vordergrund. Im Jahr 1934 begleitet die österreichische Malerin Christiane Ritter ihren Ehemann, einen erfahrenen Jäger und Abenteurer, um in einer Holzhütte auf der Insel Spitzbergen zu leben. Sie stellt sich vor, dass es ein Jahr wird voller Ruhe und Entspannung, mit Bücher lesen und es sich am Feuer gemütlich machen, aber schnell wird sie mit der Realität des Lebens auf einer isolierten Insel in der Arktis konfrontiert.

„Man muss hindurchgegangen sein durch die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen Selbstherrlichkeit. Man muss in das Totsein aller Dinge geblickt haben, um ihre Lebendigkeit zu erleben. In der Wiederkehr des Lichtes, im Lebensrhythmus der in der Wildnis belauschten Tiere, in der ganzen hier in Erscheinung tretenden ­Gesetzmäßigkeit alles Seins liegt das ­Geheimnis der Arktis und die gewaltige Schönheit ihrer Länder.“, schreibt sie, und mit jedem Umblättern werden wir tiefer in die Rhythmen des Lebens in der Arktis hineingezogen. Ihre Beobachtungen sind klar und poetisch und entführen die Leserschaft in eine Welt, in der die Zeit still zu stehen scheint und die Grenzen zwischen Menschheit und Natur in ihre Bedeutungslosigkeit verschwimmen.

Wie auch bei Amy Liptrots Nachtlichter, welches die Reise einer Frau zur Nüchternheit inmitten der rauen Landschaften der Orkney-Inseln beschreibt, erforscht Ritters Erzählung die transformative Kraft der Einsamkeit und Gemeinschaft mit der Natur. Während Liptrot in die Landschaft zurückkehrt, in der sie aufgewachsen ist, "mein Leben war rau und windig und verworren. Im Wind aufzuwachsen macht dich stark, biegsam und geschickt darin, Schutz zu suchen.”, so wird Ritter später sagen: "Eigentlich sollte ein Jahr in der Arktis für jedermann obligatorisch sein! Dort würde jeder erfahren, was in der Welt wichtig ist und was nicht. Was zählt, und worauf es im Leben ankommt." Beide Bücher bieten fesselnde Einblicke in die Pfade, auf denen die Wildnis den menschlichen Geist formt und ein tiefes Selbstbewusstsein fördert. Und es erinnert mich an etwas, das Joan Didion einmal sagte: "Glaubst du nicht manchmal, dass Menschen von der Landschaft geformt werden, in der sie aufwachsen?”

Im Zentrum von Eine Frau erlebt die Polarnacht steht der Beweis für die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes. "Unsere Herzen sind leicht, unsere Gedanken befinden sich in einem dauerhaften Zustand der Erhebung. Die Natur scheint alles zu enthalten, was der Mensch für sein Gleichgewicht braucht", schreibt Ritter, nachdem sie gerade einen Schneesturm überlebt hat. Trotz unvorstellbarer Härten und Widrigkeiten kehrt sie aus ihren arktischen Gefilden mit einem neugewonnenen Gefühl von Stärke und innerem Frieden zurück und lädt uns ein, über die zeitlose Frage nachzudenken, was es bedeutet, wirklich zu leben.

Bibliothek Glasgow: Die englische Übersetzung A Woman in the Polar Night wird alsbald zur Verfügung stehen.

ÜBER DIE AUTORIN

Sophia Hembeck © Sophia Hembeck Sophia Hembeck ist eine zweisprachige Autorin und interdisziplinäre Künstlerin, die in Edinburgh lebt. Sie studierte Dramaturgie an der Universität der Künste in Berlin und hat bisher zwei Essaysammlungen auf Englisch veröffentlicht (Things I Have Noticed & Things I Have Loved). Derzeit arbeitet sie an ihrer dritten Essaysammlung, die die Things-Trilogie abschließen wird. In ihrem monatlichen Substack-Newsletter The Muse Letter schreibt sie über die Seltsamkeit des Lebens.
 
Der Artikel wurde zuerst vom Goethe-Institut Glasgow im Dossier Buchblog: Literaturverkostung veröffentlicht.

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