DER STROM / THE STREAM
Von Roland Schimmelpfennig
1.
Allgemein ist verbreitet, die Welt sei eine Kugel. Wir haben die Welt bereist,
wir sind von Peking über Baghdad und Tripolis und Accra bis nach Feuerland gereist
und wieder zurück über Cali und Tijuana
und Pittsburgh und Neuschottland und Spitzbergen, wir waren im tiefsten Regenwald
und auf dem höchsten Dach der Welt,
und wir sind auf einem unsichtbaren Seil über den Ozean balanciert,
wir haben die Welt gesehen,
- und die Wahrheit ist:
Nein, die Welt ist
keine Kugel, sie ist eine Scheibe,
und man hüte sich vor dem Rand dieser Scheibe, denn wer von diesem Rand stürzt,
der stürzt ins Nichts -
aus „Der halbe Mond / Roland Schimmelpfennig“
2.
Über Theater zu schreiben, ist mir noch nie leicht gefallen.
Über Theater zu schreiben, erscheint mir ähnlich schwierig wie über Musik zu schreiben oder über ein Bild. Keine Beschreibung wird der „wirklichen“ sinnlichen Begegnung mit Kunst gerecht, wobei bei einer Theatervorstellung als besondere Schönheit und Komplikation noch hinzukommt, daß „wirklich“ und
„unwirklich“ gar nicht vollständig von einander zu trennen sind.
In der Pandemie ist für die „Unwirklichkeit“ des Theaters nicht mehr viel Platz. Die Pandemie trifft das Theater hart. Alles in der Pandemie ist „wirklich“ - Krankheit, Ansteckung, Gefahr. Angst. Atemnot. Tod. Die Sehnsucht ist groß, dieser übermächtigen, erdrückenden Wirklichkeit mit den Mitteln der Poesie, der Erfindung, der Kunst der Erzählung auf dem Theater zu begegnen, aber die Realität macht dies im Augenblick weitgehend unmöglich. Das Theater als Ort der Begegnung, des Austauschs, der Utopien, der sinnlichen Aufklärung und der Hoffnung existiert nur noch virtuell.
In Deutschland gibt es seit Monaten kein Theater mehr. Die Theater sind geschlossen.
Es ist damit etwas eingetreten, was mir nahezu vollkommen undenkbar schien. Ich hatte immer gedacht, daß das Theater eine der wenigen Kunstformen ist, die so ziemlich alles überstehen können, denn man braucht so gut wie nichts, um Theater zu machen, außer Schauspielerinnen und Schauspieler und einen Text oder eine Geschichte - und das Publikum. Man braucht keine Bühne, keine Scheinwerfer, nicht einmal Strom. Theater kann immer und überall stattfinden, dachte ich, früher. Aber, nein, das ist nicht so.
In dem Moment, in dem Menschen nicht mehr zusammenkommen können, ist das Theater am Ende. Zusammenkommen: genau das ist, das wird mir durch die Pandemie immer klarer, der eigentliche Sinn von Theater. Eine Geschichte gemeinsam erleben, teilen.
Theater hat viele Facetten. Es ist manchmal eine bürgerliche oder sogar elitäre Institution, oft verkommt es zu bloßem, austauschbaren Entertainment. Relevantes Theater ist aber deutlich mehr als das: es ist eine soziale Kunstform. Theater ist seit seinen Anfängen ein Ausdruck von Gemeinschaft. Es ist ein Ort des Dialogs.
Menschen spielen für Menschen. Menschen teilen einen Moment, einen Gedanken, eine Emotion. Im Theater starren die Menschen nicht auf eine Leinwand oder einen Bildschirm oder ein Telefon, auf dem sich Bilder bewegen, die man anhalten, fortlaufen lassen oder auch einfach ausschalten kann. Theater lebt. Kein „Streaming“ kann es ersetzen.
Wenn ich über Theater schreiben soll, dann flüchte ich mich oft in eine eher narrative Form und versuche so, mich aus der Affäre zu ziehen. Die Theorie des Theaters macht mich oft müde, denn Theater ist Praxis. Theater handelt von Menschen, nicht von Systemen, nicht von Technik, und keinem System und keiner Technik und keinem Dogma und keiner Theorie wird es auf lange Sicht gelingen, das Theater für sich zu vereinnahmen. Im Theater werden Geschichten erzählt, auf unendlich vielen unterschiedlichen Weisen.
Theatertexte reisen von Kopf zu Kopf, von Mund zu Mund und Ohr zu Ohr, und dabei verändern sie sich ständig. Wo sie auch auftauchen, an welchem Ort oder zu welcher Zeit auch immer, stets materialisieren sie sich in einer anderen, neuen Form.
Ein Film bannt Bilder und Sätze in eine feste Form. Das Theater läßt die Bilder und die Sätze frei - und manchmal fliegen sie dann um die Welt.
Um aber auf dieser Reise von Küste zu Küste zu kommen braucht das Theater Übersetzungen.
Mit der Pandemie kamen die verschiedenen Lockdowns, und
mit den Lockdowns kam die Einsamkeit, die Isolation. Jayashree Joshi in Mumbai und das Goethe Institut- Netzwerk-Südasien hatten lange vor Corona geplant, daß ich für Begegnungen und Workshops mit den Übersetzerinnen und Übersetzern einer ganzen Reihe meiner Stücke auf Marathi, Hindi, Urdu, Simhili, Tamil und Bangla nach Indien kommen sollte.
Letztlich ging es neben allen möglichen sprachlichen Detailfragen um die zentralen Aspekte des Theaters: Zusammenkommen, Austausch. Die gemeinsame Entwicklung von Gedanken und Sprache. Dialog. Was für ein schöner, großer Plan. Ein Traum.
Ich hatte mich auf die Begegnungen mit dem großen Team von Beteiligten sehr, sehr gefreut, aber plötzlich war durch die Pandemie der Plan undurchführbar. Das war sie:
die Realität der Pandemie, die die fragile Utopie des Theaters bedrohte.
Schließlich fiel die Entscheidung, die Übersetzer- Werkstatt online durchzuführen. Eine Alternative gab es nicht.
Es gab Probe-Online-Meetings. Ich lernte, mit dem entsprechenden Programm oder der entsprechenden Plattform umzugehen, es wackelte - natürlich - im entscheidenden Moment meine Internetverbindung, entweder verstand man man mich nicht oder ich hörte nichts.
Also kaufte ich ein Headset, ich kaufte ein gelbes Soundso-Kabel, um mögliche Schwankungen der Wifi-Qualität zu vermeiden. Ich bat alle anderen Menschen in meiner Wohnung während der Online-Meetings keine Filme zu streamen oder großen Daten-Volumen zu bewegen, da ich Angst hatte, die Internet-Leitung könnte sonst zusammenbrechen.
Ich glaubte, ich wäre vorbereitet.
Am ersten offiziellen Tag des Workshops stand ich morgens um acht auf, kochte Kaffee und ging den gesammelten Fragenkatalog für die Werkstatt noch einmal durch. Ich dachte kurz, daß es vielleicht nicht ganz einfach werden würde, bei einem solchen Online- Video—Meeting mit etwa dreißig Teilnehmern und acht Stücken in sechs Sprachen den Überblick zu behalten.
Ich setzte mich an den Computer, öffnete das Programm,
und dann stürzte der Computer ab.
Das war um 9.52, acht Minuten vor dem Beginn des Workshops.
Ich begann zu schwitzen, und gleichzeitig war mir kalt.
Um 10.01 fuhr der Computer wieder hoch.
Das Programm öffnete sich. Ich drückte eine Taste, und dann befand ich mich in einem virtuellen Meeting- Room.
Ich war allein.
Ich wußte, daß ich nicht allein sein konnte. Ich wartete.
Alles war still. Niemand außer mir war da. Und niemand kam.
Ich entdeckte noch einen anderen Meeting-Room. Dieser Meeting-Room trug denselben Namen wie der Raum, in dem ich war, aber ich konnte ihn nicht betreten.
Ich fragte mich, wie es möglich sein konnte, daß ich in einen Raum nicht hineinkommen konnte, in dem ich doch bereits war.
Ich fand innerhalb des Programms die Möglichkeit, einen dritten Raum zu erschaffen, aber dieser Raum war
identisch mit dem Raum, in dem ich war und in dem ich nicht war. Es war ein Raum im Raum im Raum, den ich
sofort wieder verließ, nur um ihn damit gleichzeitig zu betreten, weil er identisch mit dem leeren Raum war, in dem ich vorher gewesen war. Es war dunkel. Es war nicht dunkel. Es entstand ein ganzer langer Korridor von identischen Räumen, wie in einem Hotel, in dem alle Zimmer die selbe Nummer haben.
Hallo, sagte eine Frauenstimme. Ich antworte „Hallo“, aber sie hörte mich scheinbar nicht.
Was tun wir jetzt?, sagte die Stimme nach einer Weile.
Ich weiß es nicht, sagte ich.
Ich kann ihn hören, aber ich kann ihn nicht sehen, sagte ein Mann. Ich weiß nicht, ob er mich hören kann. Hallo?
Hallo? fragte ich wieder.
Ich kann ihn sehen, aber nicht hören, sagte jemand anders.
Wer spricht da?, antworte eine weitere Stimme.
Mein Telefon klingelte, aber als ich den Anruf annahm, hörte ich nur Knistern.
Die Welt zerfiel in winzig kleine magnetische Teile ohne Zahl.
Ich streckte meine Hand aus, als ob ich am Ufer eines Flusses knien würde.
Ich sah alles und nichts.
Und dann waren sie plötzlich alle da:
Amitra Dhara und Romit Roy und Sunanda Basu und Parthapratim Chattopadhyay und Subroto Saha und Pratima Shekhawat und Namita Khare und Kamal Pruthi und Ishani Joshi und Nidhi Mathur und Shailesh Kumar Ray und Shiv Prakash Yadav und Mrunmayee Shivapurkar und Prasad Pakti und Sunanda Mahajan und Milind Sant und Jayashree Joshi und Ashani Ranasinghe und Hem Mahesh und P. Seralathan ( XXX HIER HABE ICH NICHT DEN VORNAMEN, BITTE EINFÜGEN) und Lalitha G. (XXX HIER HABE ICH NICHT DEN NACHNAMEN XXX)
und Ramu Ramanthan und Mansi Bapat und Barbara Christ und Hamsavahini Singh und Syed Salman Abbas und Sadique Raza Khan und MD Khalid ( XXX HIER HABE ICH NICHT VORNAMEN,
BITTE EINFÜGEN) und Mohammad Uzair.
(BITTE GGF DIE LISTE VERVOLLSTÄNDIGEN, ICH MÖCHTE HIER NIEMANDEN VERGESSEN)
und wir waren in Mumbai und Berlin und in (LISTE ALLER WOHNORTE DER ÜBERSETZER*INNEN) gleichzeitig.
3.
KRETA
Draußen: Felsen, Steine, Sträucher. Ziegen mit Glocken um den Hals.
Die Uhr ist stehengeblieben. Der Fernseher läuft ohne Ton. Eher Schatten als Bilder. Gleichzeitig ist das Radio an. Es ist 11 Uhr. Es ist 11 Uhr dreißig. Es ist zwölf Uhr. Die Nachrichten.
Mit einem Blick aus dem Fenster:
Sieh mich an, sagte sie. Was siehst du? Wie alt bin ich? Wie alt bist du?
Das Geräusch eines Motors in der Ferne.
Worauf warten? Nicht warten. Man darf nicht warten. Wartest Du? Du musst aufhören zu warten, sagte sie.
Es ist 12 Uhr dreißig.
Die sagen im Radio immer die Uhrzeit, den ganzen Tag, damit wir denken, dass etwas weitergeht, aber die Zeit, was soll das sein? Wer hat sich das ausgedacht?
Komplizierte Sache, ich habe darüber nachgedacht. Es gibt keine Zeit. Es gibt nur den Anfang und das Ende von etwas, und das Ende ist gleichzeitig der Anfang von etwas und der Anfang ein Ende. Alles dreht sich im Kreis.
Die Ziegen mit Fenster.
den Glocken. Sie ruft etwas aus dem Es gibt keine Zeit. Es gibt nur den Stillstand und die Veränderung.
4.
Wir waren in demselben Raum und gleichzeitig in dreißig verschiedenen Räumen. Der Raum war gleichzeitig klein und groß, er hatte grüne Wände, er hatte blaue Wände, er hatte weiße Wände, da waren verglaste Bücherregale und bunte Vorhänge, es war kalt, es war heiß, hinter einer offenen Tür sah ich Schnee- oder ich glaubte, Schnee zu sehen, ein Sonnenstrahl fiel schräg durch ein vergittertes Fenster, jemand saß auf einem offenen Platz, auf dem niemand sonst war, vielleicht war es auch ein Dach, ich hörte Autos, Hundegebell, Vogelgezwitscher, einen Gebetsruf, Musik, klingelnde Telefone in der Ferne. Ein Kind lachte.
Wir sprachen über Musikinstrumente, für die es in unseren Sprachen keine Namen gab - so weit waren wir voneinander entfernt.
Wir hörten wie ein deutsches Kinderlied auf Urdu und auf Bangla klingen könnte. Wir bekamen Gänsehaut. Wir applaudierten.
Die Grille aus „Vorher/Nachher“ kann nicht „Grille“ auf Marathi oder Tamil heißen, obwohl das Tier überall lange Beine hat. Was tun? Plötzlich schwirren Glühwürmchen und Schmetterlinge und Marienkäfer durch den Raum. Wir stießen an die Grenzen des Möglichen, (aber das taten wir ja schon die ganze Zeit,) und dann überquerten wir sie mit größter Leichtigkeit, während verzerrte Tonsignale durch das gelbe Kabel heulten und wir manchmal nichts mehr sahen außer eckigen Punkten, für einen bangen Moment ins Leere sprachen und uns dann wiederfanden, froh und glücklich, wie nach einer Fahrt auf einem reissenden Strom, obwohl wir uns nicht von der Stelle bewegt hatten. Wir staunten - fast als wären wir im Theater. Wir lachten.