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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Die Grenzen unserer Ethik

Illustration: Zwei Personen mit Sprechblasen, in denen sich Augen befinden
Nachdichten heißt auch, jemandem eine Stimme zu geben | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Bei jeder Nachdichtung sieht sich Ulrike Almut Sandig auch mit ungewohnten moralischen Grundsätzen konfrontiert. Das öffnet ihr den Blick für andere, nichtdeutsche Sichtweisen auf gesellschaftliche Zustände – und Abgründe.

Von Ulrike Almut Sandig

Unsere Wahrnehmung der Welt ist geprägt davon, wo und unter welchen Umständen wir aufwachsen. Unser Moralverständnis ist es auch. Das Übertragen internationaler Poesie ins Deutsche stellt oft infrage, was ich für selbstverständlich hielt. Im besten Fall lerne ich, wie die Welt außerhalb des deutschen Blickwinkels aussieht.

Baumwollbomben

Manchmal fühlt sich das wie körperlicher Schmerz an. Als ich im Tonstudio stand und einen ukrainischen Poesiesong einsang, an dessen Remix wir als Poesiekollektiv Landschaft arbeiteten, ging mir das so. Ich sang die deutschen Fassungen der Verse von Lyubov Yakimchuk und Irena Karpa ein und erschrak über meine eigenen Worte:
 
Schlaf, mein Weidenkätzchen, mein Schatz
Streitkräfte sind im Einsatz
der Himmel voller Drohnen
soll Russland weiß belohnen

Ich war mit Antikriegsliedern großgeworden, mit Gandhis Aufruf zum Gewaltlosem Widerstand, mit dem biblischen „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Nun musste ich einsehen, dass „Nie wieder Krieg!“ nur rufen kann, wer eine Wahl zu haben glaubt.

Das Titelwort „Bavovna“ bedeutet wörtlich „Baumwolle“, ist aber ein ukrainischer Euphemismus für militärischen Gegenschlag, auch weil die weißen Bällchen an Explosionswolken erinnern. Ja, ich singe jetzt von Bomben. Ich wünschte, ich müsste es nicht.

Static Range

Nachdichten heißt auch, jemandem eine Stimme zu geben. In der Nachdichtung, die ich Euch hier vorstelle, ist es die fiktive Stimme eines plutoniumbetriebenen Spionagegerätes. Dem liegt ein realer Verdachtsfall von radioaktiver Verseuchung einer Himalaya-Region zugrunde.

1965 sollte ein solches Gerät mit einem Generator, halb so groß wie die Bombe auf Hiroshima, durch den CIA in Zusammenarbeit mit dem Indian Intelligence Bureau am Höhenzug der Nanda Devi installiert werden. Wegen eines Unwetters musste die Expedition abgebrochen werden. Das Gerät wurde vor Ort versteckt – und ging verschütt.

Die Strahlungswerte des betreffenden Gebietes sind bis heute leicht erhöht. Auch eine signifikante Zahl an Krebserkrankungen innerhalb der lokalen Sherpa-Community deutet auf eine mögliche radioaktive Verseuchung der Region hin.

Die in London und Delhi lebende Künstlerin Himali Singh Soin verarbeitet den Fall in ihrem interdisziplinären Multimediaprojekt Static Range. Bisher umfasst es eine animierte indische Briefmarke, Stickereien, Pflanzungen, Heilsitzungen sowie eine Performance-Installation. Die Arbeit wurde international viel gezeigt, in Deutschland im Berliner Haus der Kulturen der Welt und im E-Werk Luckenwalde.

„und der berg fand sich bewegt. be_weg_t.“

Herzstück der Arbeit ist ein toxischer Brief aus der Perspektive des Spionagegerätes, der spionin, an die bergin.
 
„(…) ich habe saphirhöhlen in dein inneres gebrannt, übel ist dir, die störung ist kaustisch, sie haftet, kratzt am schnee an deiner stirn, der in den heiligsten der flüsse tropft.
naturwissenschaft.

eine frau taucht mit einem aluminiumbecher auf und schöpft, was für sie heiliges wasser ist,

einatmen – ausgeistern.

sie nippt daran, schöpft es dann mit beiden händen und spritzt es sich über die stirn, ein tropfen durchdringt ihre retina, sie kneift die augen zu. als sie sie öffnet, sieht für einen augenblick purpur, blau, dann nimmt ihre iris ein unheimliches graugrün an, und das dorf denkt, sie sei entweder hexe oder göttin, und hält sie nah genug auf distanz. (…)

Die spionin, die alles hört und vieles weiß, berichtet aber auch vom Fund eines Heilkrautes. Gemeint ist eine mythische Pflanze mit dem Namen Sanjīvani, „Wiedererwecker der Toten“. Indische Hindunationalisten behaupten von ihr, sie könnten sie finden und so belegen, das Rāmāyaṇa, einer der grundlegenden Texte des Hinduismus, beruhe auf historischen und naturwissenschaftlichen Fakten beruhe. So können sie ihren Anspruch auf Indien als reine Hindunation untermauern.

Meine deutsche Fassung dieses Briefes steht auf der Website der Autorin zum Download zur Verfügung. Außerdem habe ich sie eingesprochen und in ein Stück von David Soin Tappeser, das Teil von „Static Range“ ist, eingebettet. Darin arbeitet er mit Rhythmen der in China unterdrückten, uigurischen Minderheit in Xinjiang. In dieser Region fanden die chinesischen Atomraketentests statt, welche das verschwundene Spionagegerät ursprünglich überwachen sollte. Durch Störungen, Interferenzen und Mutationen verweist Tappesers Musik auf Verschränkungen und Parallelen zwischen den Schicksalen der marginalisierten Bevölkerungsgruppen auf beiden Seiten des Spionageprojekts.

Dieses Kernstück aus Himali Singh Soins Arbeit nachdichtend, begriff ich erst richtig, dass die Beschädigung lokaler Volksgruppen ohne starke Lobby oft unheilbar ist.

„dass sie vom beten sterben werden“

Ursprünglich hatte ich vor, dieses Musikstück, das meine Nachdichtung des Briefes der spionin enthält, hier in diesen Text für das Goethe-Institut einzubetten. Da Himali Singh Soin und David Soin Tappeser jedoch im Moment die Zusammenarbeit mit (deutschen) Kulturinstitutionen ablehnen, die sich nach der Verurteilung des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht ebenso unmissverständlich gegen die Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung Gazas positionieren, ist es hier nicht zu hören.

„Static Range” beschreibt die Mechanismen der „langsamen Gewalt”, mit welcher Minderheiten unterdrückt und ausgelöscht werden. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, hatte Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus geschrieben. Hier ist eine von ihnen.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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