Indien
Jetzt, wo die Distanz da ist, müssen beide Seiten sich annähern: Nähe und Distanz in der Pandemie
In Indien hat die Pandemie mehrmals die in den Medien verbreiteten Narrative von Fortschritt, blühender Zukunft und digitaler Transformation überschattet. Dennoch hat sie gleichzeitig bemerkenswerte Verbindungen und Gemeinschaften geschaffen: mal zum Zweck der Unterstützung, mal als Mittel zum politischen Protest.
Von Paromita Vohra
Wir halten uns an die Kunst und an den Austausch, weil die Medien uns diese Dinge vergessen lassen wollen. Das prägende Bild der Pandemie, als diese im Sommer 2020 über Indien hereinbrach, war ein apokalyptisches: Man sah lange Schlangen von Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund, denen durch den ungeplanten nationalen Lockdown auf einmal die Arbeitslosigkeit drohte, wie sie in der glühenden Sonne auf vor Hitze und Trockenheit flirrenden Straßen zu Fuß zurück in ihre Heimatdörfer gingen.
Die Mainstream-Medien spielten dies herunter und versuchten, diese Bilder der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Menschen von den komplexen Realitäten um sie herum fernzuhalten, ist eine Strategie, die die indischen Medien im vergangenen Jahrzehnt eifrig verfolgt haben. Damit haben sie dem höheren politischen Ziel gedient, einzelne Communities voneinander zu entfremden und einen von Polarisation geprägten politischen Diskurs herbeizuführen.
Von Fürsorge und Miteinander gekennzeichnet
Kurz vor Ausbruch der Pandemie wurde das Land Zeuge einer öffentlichen Protestbewegung gegen ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz. Die Proteste waren sehr kreativ und die politischen Inhalte emotional aufgeladen, was eine neue Welle an Solidarität unter sehr verschiedenen Gruppen von Bürger*innen entstehen ließ, die bis dato nicht viel miteinander zu tun hatten. Die dabei entstandene politische Sprache war eher von einer polyglotten und auf Erfahrung beruhender Artikulation als von derivativer ideologischer Ausdrucksweise gekennzeichnet; die politische Ausrichtung schrieb Fürsorge und Miteinander groß, was sich etwa durch Gemeinschaftsküchen und ein Aufblühen von Dichtkunst, Büchern und einem allgegenwärtigen liebevollen Miteinander zeigte. Allesamt Dinge, die bis dato in einer neo-liberalen Wirtschaft an den Rand gedrängt worden waren. Dieses Zusammenspiel von Distanz und Nähe war während der Pandemie oftmals deutlich zu spüren.Obwohl die Frage einer solchen kommunitarischen Spaltung im letzten Jahrzehnt viel diskutiert wurde, hat die ständige Präsenz genau dieser Frage manchmal auch dazu geführt, dass sich der Diskurs von den sozio-ökonomischen Bedeutungen der globalen Wirtschaft entfernt hat. So starb etwa ein Mann bei dem Versuch, auf einen lang erwarteten Zug für die arbeitende Bevölkerung aufzuspringen, da es keine öffentlichen Verkehrsmittel gab. Hilflos weinende Menschen wurden daraufhin von der Polizei auf Autobahnen aufgegriffen und zurückgeschickt.
Metaphorische und materielle Distanzen
Die Bilder von den Arbeitenden, die mit ihren Habeseligkeiten und Familien nach Hause laufen, quasi ein Sinnbild des Prekariats, haben die metaphorischen und materiellen Distanzen in unserer Gesellschaft aufgehoben. Sie sollten auf die bedrohliche Situation dieser Menschen aufmerksam machen, die lieber zu Hause im Kreis ihrer Familie sterben würden und die ohne ein gesichertes soziales Netz selbst in extrem verarmten Communitys eine größere Überlebenschance haben.Die zentrale Regierung wollte von dieser Wirklichkeit ablenken und setzte stattdessen auf eine fragwürdige Aktion: Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, sich an den Fenstern zu versammeln und auf Teller zu schlagen, um gemeinsam den Virus-Dämon zu vertreiben. Hintergrund dieser gemeinschaftlichen Bekundung war es, die wohlhabenden und folgsamen Bürger*innen zu inszenieren und somit das Bild von Menschen in prekären Situationen und Protestierenden in den Hintergrund treten zu lassen.
Die Distanz der Arbeiterklasse zum staatstreuen Bürgertum
Die teilnahmslose Distanz zwischen der Regierung und armen Bürger*innen, die die globale Wirtschaft mitfinanzieren, um nicht zu sagen die Distanz der Arbeiterklasse zum vom System versprochenen Wohlstand, wurde damit spontan, aber doch geplant durch eine entgegengesetzte Politik der Fürsorge ersetzt. Zahlreiche Organisationen von Bürger*innen haben die Arbeitenden mit Mahlzeiten versorgt: Stadtteilgemeinschaften, politische Parteien, religiöse Organisationen und Einzelpersonen. Ihre politischen durchaus unterschiedlichen Stimmen tauchten auf Social Media Feeds und in WhatsApp Gruppen auf: Sie sammelten Hygieneprodukte für Frauen, boten vorbeilaufenden Arbeiter*innen gekochte Eier und Roti (Brot) an, gründeten Gemeinschaftsbauernhöfe, unterstützten Künstler*innen, Transmenschen und Sexarbeiter*innen. Arbeiter*innen aus der Gegend, die immer noch bezahlt wurden und Rentner*innen haben in Eigenregie sogar jeweils drei bis vier Familien in ihrer Nachbarschaft mit Lebensmitteln unterstützt.Proteste inmitten wohlmeinender Solidarität
In der Monsunsitzung des Parlaments im September 2020, als das Land wieder langsam begann, sich zu öffnen, hat die Regierung die vergangene Krise mehr oder weniger geleugnet: „Es existieren darüber keine Daten,“ hieß es von den entsprechenden Ministerien in Bezug auf Todeszahlen und die Probleme rund um die Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund und mit direktem Kundenkontakt, „daher stellt sich die Frage nach Kompensationen erst gar nicht.“ Medien und Regierung waren nicht nur darum bemüht, die Fragen und Bilder der ersten Welle aus dem öffentlichen Gedächtnis zu streichen, sondern auch aus den Staatsarchiven. Im Vordergrund standen wohlhabendende, staatstreue Bürger*innen; wer sich dagegen aussprach, wurde als anti-national bezeichnet und damit als Person, von der es sich zu distanzieren galt.Dennoch sammelten verschiedene Organisationen und Bürgervereinigungen Daten. So gab etwa die Indian Medical Association an, dass 383 Ärzt*innen im Alter von 27 bis 85 Jahren an COVID-19 gestorben waren. Die Gruppe The Stranded Workers Action Network bezifferte die Zahl der verstorbenen Migrant*innen von April bis Juni 2020 auf 972.
Im Winter 2020 wehrte sich ein Landwirt vehement gegen neue Agrargesetze, was eine riesige Protestwelle an den Grenzen der indischen Hauptstadt Delhi auslöste. Auch dieser Protest war von Solidarität unter heterogenen Communitys und Klassen gekennzeichnet: Neben den politischen Reden und Demonstrationen, die trotz der Angst vor Ansteckung abgehalten wurden, gab es Essensangebote, Kunst und ein durchweg wohlmeinendes Miteinander.
Die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung wächst
Im April 2021 wurde das Land von der zweiten Welle kalt erwischt, und der öffentliche Diskurs wurde auf einmal bestimmt von Schreckensnachrichten und -bildern über fehlende Krankenhausbetten, den Mangel an Sauerstoffversorgung bis hin zum mangelnden Platz für die Einäscherung der Verstorbenen. Das bekam man besonders in der Hauptstadt zu spüren. Und es wurde schnell klar, dass die Regierung sich sehr von den Menschen entfernt hatte, und zwar nicht nur von den Armen und Andersdenkenden. Der Staat war nicht in der Lage beziehungsweise weigerte sich, Systeme zur Krankenversorgung zu errichten, und das aktive Blockieren staatlicher Bemühungen, sich um die Bürger*innen zu kümmern, offenbarte deutlich die Distanz zwischen Hauptstadt und Bundesstaaten.Die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung, die von Neoliberalen gerne „schlanker Staat“ genannt wird, wurde damit einmal mehr von den Bürger*innen überwunden. Über WhatsApp Gruppen, Twitter und Facebook wurden Betten an Patienten vermittelt, Sauerstoffvorräte aufgespürt, Geld und andere dringend benötigte Hilfsmittel aufgetrieben. Viele Menschen meldeten sich freiwillig für die Organisation dieser Dinge von zu Hause aus und bekamen damit zum ersten Mal das Leid ihrer Mitmenschen direkt vor der eigenen Haustür zu spüren. Auf unzählige Hilferufe folgte oftmals kurz darauf eine Nachricht: Wir brauchen kein Bett mehr, die Person ist verstorben.
Menschliche Nähe zu einem Gefühl der Fürsorge
Als der Finanzminister mit der Situation von 2020 – als die Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund nach Hause liefen – konfrontiert wurde, tat er deren Verhalten als „emotional“ ab. In den Kollektiven, Organisationen und Initiativen und durch die konstante Präsenz des Leids anderer Menschen war dennoch eine deutliche Nähe zu einem Gefühl der Fürsorge zu spüren, bei dem es in erster Linie um Menschen, nicht um Bürger*innen ging. Die Lücke, die diese Personen hier füllten, zeigte auch einen Mangel an fürsorglicher Zuwendung, den ein Konzept aus digitalen Netzwerken und machtorientierter Politik hinterlassen hatte.Dass diese Kollektive entstehen, ist ein Zeichen dafür, dass sich langsam eine neue politische Sprache herausbildet. Im derzeitigen Zusammenwachsen verschiedenartiger Solidargemeinschaften liegt eine politische Heterogenität, eine wogende politische Konversation und ein Reframing, das auf einem menschlichen Miteinander beruht, das weit von der Sprache der Regierung und von Unternehmen entfernt ist. Solche Akte der Solidarität, die sich über die Unzulänglichkeiten der Verwaltungsbehörden hinwegsetzen, müssen als vertrauensbildende Maßnahmen gesehen werden, die ein neues Bild von Miteinander und Zugehörigkeit schaffen.