Kunst im öffentlichen Raum
Raum für Neues – es ist an der Zeit
Wie können künstlerische Produktionen in Zeiten von pandemiebedingtem Distanzverhalten umgesetzt werden und ein Publikum erreichen? Florian Geiger, Dramaturg und Mitbegründer der AMP Dance Company, beschreibt ein innovatives, neues Format, das dem Publikum Tanz näher bringt, als jemals zu vor - fernab von großen städtischen Bühnen.
Von Florian Geiger
Die partielle Schließung aller deutschen Bühnen in 2020 und 2021 hat uns gezeigt, wie wichtig die Szene der darstellenden Kunst ist. Abgesehen von den sozialen Aspekten, bietet die Kunst einzigartige Möglichkeiten sich inspirieren zu lassen, auf andere Gedanken zu kommen, der Fantasie freien Lauf zu lassen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Das Wegfallen dieser Instanzen wird Folgen für die Kultur- und Kreativwirtschaft und unser aller geistiges und seelisches Wohlbefinden haben, die zurzeit noch nicht absehbar sind.
Die notwendigen staatlich vorgegebenen Distanz- und Sicherheitsmaßnahmen verlangen ein Umdenken in der künstlerischen Produktion. Mit Raum für Neues haben wir eine fest installierte, für die Künstler*innen jederzeit frei zugängliche Bühne geschaffen auf der, unter Einhaltung aller notwendigen Sicherheitsmaßnahmen wieder geprobt und wieder vor Publikum aufgetreten werden kann. „Dabei ist Raum für Neues eine vier Mal vier Meter große, gelbe Fläche, die abwechslungsreiche Impulse aus Tanz, Schauspiel und Musik direkt ins Stadtleben bringt“, so Florian Geiger, der Direktor, Dramaturg und Gründer der AMP Dance Company.
Distanzen überwinden
Auf einem ersten Aktionstag „Making Frankfurt“ wurde dieses neue künstlerische Konzept im August 2020 am Mainufer in Frankfurt am Main als Idee präsentiert. Das Projekt zeigte, wie die alternative Nutzung von urbanen Räumen - in diesem Fall ein Transit-Raum - uns im Alltag wieder inspirieren und letztlich auch stärken können. Tanz spielt dabei eine besondere Rolle. Das Format reduziert die Distanz zwischen dem Publikum und den Tänzer*innen radikal. So kommt es zu einer neuen, unmittelbaren Rezeption von Tanz. Tanz zu erleben, erfordert die Empathiefähigkeit der Zuschauer*innen und diese verleiht ihnen die Möglichkeit des eigenen, körperlichen Erlebens. Mit dieser „Shared Experience“ kommen sich die Zuschauer*innen untereinander trotz der verordneten Distanz nahe. Raum für Neues schafft eine neue Aufmerksamkeit für Tanz im öffentlichen Raum. Es gibt zudem keine Zugangsbeschränkungen, wodurch auch soziodemografische Grenzen überwunden werden.Bei dem zweiten Aktionstag „Post-Corona-Innenstadt“ der Initiative Making Frankfurt, der am 18. September 2021 in der Frankfurter Innenstadt stattfand, wurden die Idee in die Tat umgesetzt. Als Leitidee der Aktion fungierten die gelben Aktionsflächen von Raum für Neues, die in vielfältige, kreative und kollaborative Laboratorien verwandelt wurden. Die AMP Dance Company zeigte Auszüge aus Performances, darunter eine offene Probe der aktuellen Produktion Der Himmel über meinem Kopf, welche am 30.09.2020 Premiere feierte. Eine Wiederaufnahme durch das Gallus Theater Frankfurt findet im Februar 2022 statt.
Das Stück wurde in intensiven drei Wochen einstudiert und geprobt, wobei sich die sieben Tänzer*innen in dieser Zeit sehr nahe gekommen sind, da sie sich für den Zeitraum der Proben weitestgehend von anderen isoliert haben und teilweise zusammen in einer eigens angemieteten Wohnung gewohnt haben.
Nähe und Distanz im kreativen Schaffensprozess
Nähe schafft zunächst Nähe und Distanz. Für Kunstschaffende der darstellenden Künste ist das generell ein ständiges Thema und der Aspekt von Nähe und Distanz spielte auch vor der Pandemie eine oft entscheidende Rolle – wie weit nähere ich mich? Wie viel Nähe lasse ich zu? Welche Distanz benötige ich zu den Zuschauer*innen, also meinem Gegenüber? Welche Nähe lassen die Zuschauer*innen zu?Raum für Neues ist in seinem Format als öffentliche Bühne und mit einem Mindestabstand von 1,5 Metern zu allen Seiten zugänglich und einsehbar - eine maximale Reduktion. Die Künstler*innen sind somit noch nahbarer als sonst auf der Bühne, es fehlt der Raum zum Rückzug – sie sind maximal exponiert. Das macht ein Spannungsfeld auf, in dem Tänzer*innen oft den Schritt nach vorne wagen – sie öffnen sich mehr, verlassen sich auf ihre Resilienz, bauen Ängste ab und sich dadurch Freiräume auf. Fehler und Imperfektion sind nicht mehr ein Scheitern und das Vorankommen durch Iterationen wird zum Programm - für die Choreografin der AMP Dance Company Marika Ostrowska-Geiger eine ganz neue Herausforderung: feststehende Scores aufbrechen, verändern und noch viel sensibler sein für die Reaktion und Interaktion mit dem Publikum.
Reaktionen, Formate und Konsequenzen
Die Wertschätzung des Publikums war eine andere und um ein Vielfaches größer als im tradierten Umfeld. Durch die Nahbarkeit der Künstler*innen und das unmittelbare Erlebnis der Darbietungen entsteht eine ganz neue Identifikationsebene für die Betrachter*innen. Zuschauer*innen sind nicht mehr ein homogenes Format, sondern sie lassen sich durch eine wesentlich höhere Empathiebereitschaft im Einzelnen zur spontanen Bekundung von Freude und Mitgefühl hinreißen.Als Konsequenz arbeitet die AMP Dance Company gerade an neuen Formaten: Wie können wir noch direkter werden? Wie können wir die Zuschauer*innen noch tiefer berühren und somit in kurzer Zeit Impulse geben? Was ist, wenn wir uns vollständig abkehren, uns verweigern? Welche Themengebiete entstehen hier und wie können wir diese mit einer Nachhaltigkeit und Relevanz verknüpfen, die wiederum dazu führt, dass Rezipient*innen sich bewegt fühlen? In einem ersten Versuch wurden verschiedene Formate kombiniert: klassische Musik, live gespielt von der Frankfurter Kammerphilharmonie mit vier Streicher*innen, und ein improvisiertes Pas de deux aus dem klassischen Ballett.
Raum für Neues schafft eine Plattform für Tanz als feste Instanz im öffentlichen Raum. Jenseits von Bühnen suchen wir nach Formen der Bewegung, die einen anderen Umgang und Ausdruck des Körpers mit und im Raum zeigen. Städtische und urbane Räume haben unterschiedliche Strukturen und Atmosphären. Sie bestimmen in hohem Maße die Art, wie wir uns im öffentlichen Raum verhalten und bewegen. Mit Raum für Neues bringen wir die Zuschauer*innen ihrem eigenen Bewegungsraum wieder näher und regen an, diesen zu erkunden.
Bisherige Produktionen der AMP Dance Company
- MUSE1, Tanzperformance, Jahresproduktion 2019
- Prequel, Tanzperformance Video, 2020
- Raum für Neues, Installation im öffentlichen Raum / Raumkonzept, 2020-2021
Video auf Vimeo - Don’t die dead, Tanzperformance, Jahresproduktion 2020
Video auf Vimeo - Der Himmel über meinem Kopf, Tanzperformance, Jahresproduktion 2021-2022