Besetzung
Exzentrisch, skurril oder von düsterer Vorahnung erfüllt
Die Berlinale verspricht einen wilden Ritt durch eine thematisch abwechslungsreiche Fülle von Spiel‑ und Dokumentarfilmen – von Coming-of-Age-Geschichten bis hin zu rauen Neonoirs.
Von Prathap Nair
Wie vielseitig der Wettbewerb ist, zeigt schon die Begeisterung der Jurypräsidentin Kristen Stewart während der Pressekonferenz am Eröffnungstag. „Ich bin sehr gespannt zu sehen, was die kritische Auseinandersetzung mit den Filmen mit uns allen macht“, sprudelte es aus ihr hervor. Insgesamt 19 Filme konkurrieren im diesjährigen Wettbewerb um die Goldenen und Silbernen Bären, darunter bizarre Animationsfilme, bewegende Dokumentationen und eindrucksvolle Dramen.
Coming-of-Age-Geschichten und Kapitalismuskritik
Die Animationsfilme erzählen vom chinesischen Campusleben der 1990er Jahre oder von einer Teenagerin in Japan, die in ihrer Schuluniform die Welt vor dem nahenden Untergang rettet. Es gibt Coming-of-Age-Geschichten, Abhandlungen über die Härten des Kapitalismus, Beziehungsdramen, Auseinandersetzungen mit libertären Männlichkeitskults, in der Wüste angesiedelte raue Neonoir-Filme und Erkundungen der Mutterliebe. Die Wettbewerbsfilme, die an weltweiten Schauplätzen – im australischen Outback, im konfliktgeschüttelten Niger-Delta oder in den sonnigen Straßen New Yorks – angesiedelt sind, geben den Ton für das Festival vor. Die Stimmung ist mal exzentrisch, mal skurril und manchmal sogar von düsterer Vorahnung erfüllt.
Vielleicht fällt auch deshalb die Entscheidung so schwer, wem man in dieser Sektion die Daumen drücken soll. Mit Irgendwann werden wir uns alles erzählen unternimmt die deutsch-iranische Filmemacherin Emily Atef einen zeitgenössischen Ausflug in die deutsche Romantik. Christian Petzolds Roter Himmel wird als realistisches und tragikomisches Beziehungsdrama angekündigt. Celine Songs Past Lives, der mit Anklängen an Richard Linklaters Before‑Trilogie die Geschichte einer langjährigen Freundschaft erzählt, wird schon jetzt von der Kritik gefeiert. Auch das Arthouse-Kino ist vertreten mit Christoph Hochhäuslers genreübergreifendem Drama Bis ans Ende der Nacht.
Matt Johnsons Blackberry aus Kanada erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des gleichnamigen Smartphone-Herstellers. Aus Asien kommen Liu Jians Art College 1994, Zhang Lus Bai Ta Zhi Guang – Der schattenlose Turm und Makoto Shinkais Suzume. Doch die Bären können genauso gut auch an Außenseiter gehen, zum Beispiel an Rolf de Heers Survival-Drama Das Überleben der Freundlichkeit oder an Limbo, einen Noir des australischen Regisseurs Ivan Sen über den Mord an einer Aboriginal-Frau.
Politische Sprengkraft im Panorama
Das für seinen politischen Anspruch bekannte Panorama hat in diesem Jahr mit dem Krieg gegen die Ukraine und den aktuellen Protesten im Iran zusätzliche Gründe, ein Programm am Puls der Zeit zu präsentieren. In der Sektion laufen filmische Leckerbissen aus Indien wie das Spielfilmdebüt des Regisseur Chhatrapal Ninawe Ghaath, oder Sreemoyee Singhs And, Towards Happy Alleys in der Reihe Panorama Dokumente.
Wie ein roter Faden ziehen sich Filme zu brandaktuellen Themen durch die dokumentarische Form und nehmen das Publikum mit in die Ukraine (Roman Liubyis Iron Butterflies), nach Syrien (Heba Khaleds, Talal Derkis und Ali Wajeehs Under the Sky of Damascus), Guinea (Thierno Souleymane Diallos Au cimetière de la pellicule) und Kolumbien (Joris Lachaises Transfariana).
Vorhang auf für Dokumentationen am Zahn der Zeit
Die 28 Filme des diesjährigen Forums behandeln eine große Fülle aktueller und historischer Themen. In zahlreichen dokumentarischen Formen, darunter W Ukraine der polnischen Filmemacher Piotr Pawlus und Tomasz Wolski – eine ergreifende Schilderung der Folgen des Krieges gegen die Ukraine –, präsentiert das Forum die surreale Welt von Künstler*innen, die in ihren Werken buchstäblich bis an die Grenzen des Filmschaffens gehen.
In einer weiteren eindrucksvollen Sektion, den Encounters, konkurrieren insgesamt 16 Erzählungen aus aller Welt um die Hauptpreise. Weitere wichtige Preiskategorien sind der Preis Bester Erstlingsfilm, der Preis für den Besten Kurzfilm, der Series Award und die Preise in den Wettbewerben Generation Kplus und Generation 14plus.
Auf die Frage nach ihrer Reaktion auf die Benennung zur Jurypräsidentin der Berlinale gestand Kristen Stewart, das Angebot habe sie überrascht. Es sei, wie sie weiter ausführte, „eine Wahnsinnschance, ein bisschen mitzuwirken daran, dass das Schöne ins Scheinwerferlicht gerückt wird in Zeiten, in denen es schwerfällt, daran festzuhalten.“
Kunst ist wie die Luft zum Atmen
Besonders bewegend war auch die Botschaft der iranisch-französischen Schauspielerin Golshifteh Farahani: „Kunst ist nicht nur etwas Intellektuelles, Philosophisches – sie ist wie die Luft zum Atmen.“ Im Zusammenhang mit den Protesten der iranischen Bevölkerung fügte sie hinzu „Es geht um die nackte Existenz, und deswegen ist es so großartig, in diesem Jahr hier zu sein.“
Zum Auftakt der Berlinale am 16. Februar hielt der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj eine leidenschaftliche Rede. Im Anschluss wurde das Festival im Berlinale Palast mit der Premiere von Rebecca Millers schräger Liebeskomödie She Came To Me eröffnet.
Über den autor
Der freie Kulturjournalist Prathap Nair lebt in Düsseldorf und berichtet für namhafte indische Medien über die Berlinale.