Vertagtes Erbe
Museale Subjekte
Wie umgehen mit dem kolonialen Erbe? Die internationale Konferenz „Vertagtes Erbe?“ des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz widmete sich in Berlin der „Vergangenheit und Gegenwart des Kolonialismus“.
Am Freitag [den 23.11.2018] übergaben der senegalesische Ökonom Felwine Sarr und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron ihren Bericht zur Restitution afrikanischen Kulturerbes. Wie erwartet empfiehlt ihr 252 Seiten starker Report die schnelle Rückgabe geraubter Kunst aus französischen Museen an die Herkunftsländer. Macron entschied daraufhin, 26 Objekte an Benin zu übergeben, die französische Soldaten 1892 aus dem Anwesen des Königs von Dahomey geplündert hatten, dessen Reichtum auf dem Handel mit Sklaven gründete.
Als der Bericht am Freitagabend veröffentlicht wurde, war im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem gerade ein zweitägiges internationales Symposium des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) zu Ende gegangen. Dort hatten Wissenschaftler und Museumsleute aus Ägypten, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Fidschi, Großbritannien, Namibia, Kolumbien und den USA mit im Publikum sitzenden Aktivisten über das so komplexe wie emotional aufgeladene Thema der Kolonialzeit und ihren Folgen diskutiert. „Vertagtes Erbe?“ lautete der Titel der Konferenz, die sich der „Vergangenheit und Gegenwart des Kolonialismus“ in Bezug auf Artefakte, aber auch auf menschliche Überreste in europäischen Sammlungen widmete. Sie nahm so den Umstand in den Blick, den Sarr und Savoy in einer Formel zusammenfassen: Europäische Museen seien ungewollt zu öffentlichen Archiven eines Systems der Aneignung und Entfremdung geworden – des Kolonialsystems. Wie gegenwärtig die koloniale Vergangenheit bei einem Blick ins Archiv werden kann, illustrierte Nzila Marina Mubusisi, die leitende Kuratorin des namibischen Nationalmuseums, mit einer Anekdote. Jonathan Fine, der beim Ethnologischen Museum in Berlin als Kurator für die Sammlungen aus Westafrika, Kamerun und Gabun zuständig ist und mit Stefanie Peter vom Goethe-Institut die Konferenz kuratierte, hatte durch die ethnologische Sammlung geführt. In deren Inventarlisten machte Mubusisi eine Entdeckung: In der Berliner Sammlung befindet sich auch ein Objekt aus dem Dorf ihrer Großeltern.
Wer gibt an wen zurück?
Mubusisi saß unter anderem mit Thomas Schnalke auf der Bühne, der als Direktor des Medizinhistorischen Museums der Charité die Rückführung von zwanzig menschlichen Schädeln von Nama und Herero aus der ehemaligen anatomischen Sammlung der Charité an Namibia in die Wege leitete. Nach Schätzungen der Charité befinden sich ungefähr 7.000 menschliche Schädel in deutschen Sammlungen.Materielle Beweise
Marina Mubusisi berichtete, dass die Schädel einen Tag lang im Garten des namibischen Parlaments zugänglich waren, um den Angehörigen der beiden Gemeinschaften die Möglichkeit zu geben, den Toten ihren Respekt zu erweisen. Die Vertreter der Nama und Herero beschlossen dann, dass die Schädel als materielle Beweise für die Verbrechen des deutschen Kolonialregimes im Museum aufbewahrt, aber nicht gezeigt werden sollten. Raphael Gross, der Direktor des Deutschen Historischen Museums, verwies auf Alexander von Humboldt, der aus Südamerika ebenfalls menschliche Überreste mitgebracht hatte. Es verbiete sich, diese menschlichen Überreste im Museum zu zeigen, sagte Gross. Zur Verblüffung seiner Mitdiskutanten erwähnte er dann aber, dass nicht alle Verantwortlichen seiner Meinung seien. Sie habe angenommen, zumindest in dieser Frage sei man sich inzwischen allgemein einig, kommentierte Moderatorin Larissa Förster.Die Vermessung der Welt
Auch im Jahr 2018 muss also noch über Selbstverständlichkeiten gestritten werden. Im Hinblick auf die Humboldt-Verehrung in Deutschland wies Gross darauf hin, dass „die Vermessung der Welt“ eben auch der Anfang der Vermessung von Schädeln und Knochen war, die bald zu einer der wesentlichen Methoden deutscher Rasseforscher wurde. Bei Schädeln handelt es sich nicht um museale Objekte, sondern um Subjekte, ergänzte Thomas Schnalke. Diese Definition müsste aber auch für andere Sammlungsobjekte gelten, wurde mehrfach betont. Denn was für einen europäischen Kurator ein bearbeiteter Stein aus einer Grabanlage sein mag, repräsentiert für einen Angehörigen möglicherweise einen Ahnen und wird zur Familie gezählt. Dass es daher darum gehen müsse, die wissenschaftlichen Methodologien zu dekolonisieren, forderte der namibische Archäologe Goodman Gwasira. Er setzte einheimische Spurenleser ein, um die Fußabdrücke zu analysieren, die sich neben Malereien von Elefanten und Schamanen in einer namibischen Bergregion fanden. Sie konnten wertvolle Hinweise darauf geben, welches Alter und Geschlecht die Urheber der Abdrücke vermutlich hatten.Neue Formen von Nutzungsrechten
Obwohl sich alle darüber einig waren, dass die Anerkennung der kolonialen Verbrechen heute die Grundlage musealer Arbeit sein muss, war kein Konsens darüber auszumachen, wie in Bezug auf die teils vehement geforderte Rückgabe zu verfahren sei. Die Umstände sind oft extrem unterschiedlich. Und die Frage, wem Artefakte gehören, ist auch in den Herkunftsländern häufig umstritten. Möglicherweise lässt sich dieses Problem nur lösen, wenn neue Formen von Nutzungsrechten ausgehandelt werden. Der britische Historiker Richard Drayton wies darauf hin, dass die mittelalterlichen Rechtssysteme in Europa Eigentum von Gott ableiteten, was es ihnen ermöglichte, Nutzungsrechte zu definieren, die über rein individuelle Eigentumsrechte hinausgehen. Vielleicht sei es an der Zeit, neue Formen sozialen Eigentums zu entwickeln. Das dürfte schwerer sein, als sofortige Rückgabe zu fordern, erfüllt aber die Zielvorgabe, die Shuzhong He von der Nationalen Kulturerbeverwaltung der Volksrepublik China formulierte: Zwar müssten illegal erworbene Objekte restituiert werden. Aber die Verhandlungen darüber sollten als Chance für neue Kooperationen begriffen werden. Denn das kulturelle Erbe solle das gegenseitige Verständnis der Kulturen fördern und sei eine kreative Quelle für die Zukunft.Der vollständige Artikel von Ulrich Gutmair ist am 25. November 2018 in der taz erschienen.