Himmelssuche
Choreografin Lina Gómez beteiligt die Studierenden am kreativen Schaffen, statt einfach nur zu unterrichten.
Ein Haufen von Körpern, wie leblos, aber nicht völlig. Arme über Hüften über Beinen über Köpfen – alles locker ineinander verdreht auf dem Boden in der Mitte des Raumes. Das Publikum versammelt sich ringsum entlang der Wände, schaut auf diese menschliche Skulptur ohne klare Konturen. Einige im Publikum machen es sich bequem, setzen oder stellen sich hin, um einen besseren Blick zu bekommen. Es ist schwer auszumachen, was da vor sich geht.
Es gibt keinen plötzlichen Anfang. Nach und nach beginnt diese Anordnung von Körpern ihre Form zu verändern. Immer ganz nah am Boden entwinden diese sich und verschlingen sich dann wieder neu – wie eine einzige große Skulptur. Bald wird ihr Atem hektischer. So dann auch ihre Bewegungen. Sie fangen an zu singen. Und artikulieren unverständliches Zeug, erwähnt werden unter anderem historische Ereignisse. Der Wahnsinn kommt zu keinem Höhepunkt, stattdessen beruhigt sich alles wieder. Glieder strecken sich gen Himmel, Gesten werden artikuliert. Aus dem Chaos ergeben sich wieder neue Formationen und die Körper werden erneut zu amorphen Figuren auf dem Boden.
“Als ich in Bangalore ankam, fiel mir auf, dass es in der Stadt keinen Ort gibt, an dem man betrachten kann, was über uns ist. Überall sah ich mich gezwungen, nach unten zu schauen oder auf Augenhöhe zu bleiben – auch um der eigenen Sicherheit willen. So bewegt man sich durch diese Stadt. Und alles, was man auf dem Boden zu sehen bekommt, sind diese Haufen… von Zeug. Ich fand es faszinierend, wie die Dinge in Haufen organsiert werden – und auch der Ort des Himmels.” Die mit den Erstsemestern gemeinsam geschaffene Arbeit (Lina erarbeitete noch eine weitere mit Studierenden des zweiten Jahrgangs) inspirierten solche Wahrnehmungen, die sie nach ihrer Ankunft in Bangalore machte. Über den Verlauf der Wochen vermittelte sie ihre Vorstellungen an die Studierenden, und die Arbeit nahm ihren eigenen Weg, für den die Reaktionen und Anliegen der Studierenden wiederum wichtige Impulse lieferten.
Jeden Tag entwarf sie neue Improvisationsübungen, die sie ‚Begegnungen‘ nennt (im Gegensatz zu Modulen oder Lektionen). Ihren Studierenden gab sie Aufgaben, die auf ihrer eigenen Arbeitsmethode basierten und ihnen die Freiheit ließen, über sie hinauszugehen. “Ich bemerkte, dass die Studierenden einen unheimlich verständnisvollen Umgang mit der Dramaturgie an den Tag legten – und das war toll“, ist Lina begeistert. “Langsam wurden sie selbstsicherer in ihren eigenen Entscheidungen. ”Die Studierenden dokumentierten den Vorgang auch schriftlich und debattierten Texte, die Lina zur Diskussion in den Unterricht einbrachte. Für sie war es wichtig, die Studierenden nicht nur körperlich, sondern auch kritisch-analytisch herauszufordern.
“Ich bin sehr daran interessiert, die Tanzausbildung zu entmystifizieren”, betont Lina, während sie sich daran macht, als Nachspeise einen Brownie zu vernichten. “Das war einer der Gründe, mich auf diese Residency zu bewerben.“ Immer, wenn sie in der Vergangenheit jemanden aus der indischen Tanzszene getroffen hatte, war ihr der Name Attakkalari untergekommen, was sie neugierig machte und in ihr den Wunsch weckte, mehr über die Einrichtung zu erfahren. “Als ich hier ankam, bemerkte ich, dass die Einrichtung konservativ ist und es doch eigentlich nicht sein möchte. Das ist interessant… Von den Studierenden wird viel Disziplin in ihrem Feld erwartet, was sehr wichtig ist. Es ist aber auch wichtig, andere Wege zu bestreiten, um Disziplin entstehen zu lassen, besonders wenn man wirklich eigene Arbeiten schaffen will.”
Im Mittelpunkt von Linas Projekt scheint der Wunsch zu stehen, die Studierenden aus ihrer Schülerrolle hinauszuführen und sie dazu anzuleiten, zu Schöpfern mit eigenen Standpunkten zu werden. Es ging ihr in der Choreografie deshalb nicht in erster Linie darum, Körper in einer bestimmten Weise in einer Landschaft anzuordnen, sondern um das, was zwischen den Studierenden währenddessen passiert – um ihre Entdeckungen, ihr Miteinander und ihre Auseinandersetzungen untereinander. Lina legt ihre Gabel zur Seite und sagt mit Ernst und voller Überzeugung: “Sie müssen gar nicht sagen können, was sie sind, wenn sie Künstler werden, sondern nur, dass sie wirklich Künstler sind.”