Text und Textilien
![NadinReschke_bangaloREsident 2019 NadinReschke_bangaloREsident](/resources/files/jpg872/nadin-reschke_bangaloresident-2019_original---kopie-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Die Künstlerin Nadin Reschke arbeitet mit Textilien, erkennt, liest und interagiert mit ihrem Umfeld, der Stadt und ihren Mitmenschen durch Textilien jedweder Art.
Meist heißt es bei ihr einfach: I’m working with textiles. Klingt zunächst einfach und nach Näherin oder Modedesignerin und viele versuchen auch, sie in diese Kategorien einzuordnen. Gerade hier in Indien, erzählt sie, mit Textilarbeit oft die Fortführung einer bestimmten Tradition oder Vertiefung einer bestimmten Expertise verbunden, wie zum Beispiel die Gestaltung der detailreichen, floralen und teilweise religiös motivierten Bilder eines Kalamkari. Nadin dagegen entzieht sich absichtlich der festen Verortung und Kategorisierung: „Ich lebe davon, dass ich eben nicht verortet bin, sondern zwischen ganz vielen verschiedenen Kontexten immer wieder Grenzüberschreitungen wage und mich irgendwo reinbegebe, wo vielleicht noch nie eine Künstlerin war – wo immer wieder die Frage auftaucht, wer bist du eigentlich, was machst du eigentlich, was ist das eigentlich? Deswegen finde ich wichtig, sich gerade nicht zu verorten. Das schließt etwas ab und das finde ich schade, weil ich in den Projekten immer wieder erlebe, dass, je nachdem, mit wem ich zusammenarbeite, die Rezeption meiner Persona immer wieder eine völlig andere ist. Wenn ich neben dem Weber sitze und wir beide den gleichen Stoff anfassen, dann sieht er mich vorrangig nicht als high above the air flying artist, sondern er begegnet mir in dem Moment einfach als eine interessierte Person. Das sind für mich die spannenden Momente, in denen diese Grenzüberschreitungen stattfinden.“
Wir sitzen zusammen in ihrem Studio bei 1 Shanthi Road Studio Gallery, in dem sie die sechs Wochen ihrer bangaloREsidency 2019 – Season II verbringt. Die Fenster sind gegen die Mittagssonne mit Strohmatten behangen, hinter uns hängen diverse Bahnen von karierten, gestreiften und tiefblau unifarbenen Stoffen über einer Stellwand. Auch der Boden ist mit Kohlezeichnungen und einer großen Stoffcollage auf einer Strohmatte bedeckt. „Das ist work in progress“, lacht Nadin, als sie unsere neugierigen Blicke bemerkt.
Grenzüberschreitungen und gleichzeitig menschliche Begegnungen auf Augenhöhe mit Einheimischen sucht sie durch das Medium Textil. Aber warum gerade Textil, fragen wir. „Stoff ist wie kein anderes Material, es ist unheimlich dehnbar: Man kann es klein zusammenpacken und in die Tasche stecken, man kann gleichzeitig große Räume damit bauen und bespannen, man kann damit riesige Flächen schaffen. Dieses skulpturale Moment fasziniert mich immer wieder – wie der Faltenwurf, den Stoff automatisch macht, und das Knittern, wenn er aus der Wäsche kommt. Stoff macht alles mit, ist ein genialer Partner, und das finde ich toll.“
Insbesondere interessierten sie dabei Weber, die mit Handwebstühlen arbeiten, die als zunehmende Minderheit diese lange Tradition bis heute fortführen. Eine Tradition, die bereits Mahatma Gandhi als eine Form des friedlichen Protestes verstand, indem die ärmere Bevölkerung durch die Herstellung eines eigenen Khadis und das Wissen um das Weben Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erlangen sollte. Ursprünglich war also Nadins Vorhaben, Weber in Bangalore kennenzulernen, sie zu begleiten und mit ihnen zusammen ihr Projekt, das im Tun entsteht, zu entwickeln – bis sie, hier angekommen, realisiert, dass Bangalore als Stadt so groß und urban ist, dass die auf Handarbeit basierende Technik an den Rand gedrängt wurde und demnach weitere Besuche von Webern durch die weiten Strecken zeitlich nicht möglich sind: „Dann ist klar, dass man bei einem einmaligen Besuch nicht diese Art von Beziehung herstellen kann, aus der sich dann vielleicht Weiteres ergeben würde.“ Denn Nadin hat eine bestimmte Idee, die sie gerne während ihrer Residenz umsetzen würde: „So eine Grundidee war herauszufinden, ob es möglich wäre, einen Sari mit Text zu weben. Sodass der Text Teil des Textils ist, also in den Stoff selbst reingewebt wird.“ Der Text würde die Geschichte eines Webers erzählen, seine Tätigkeit und seinen Hintergrund, seine aussterbende Tradition und die finanziellen Mittel bzw. die Unterbezahlung beschreiben. Also eine Form des sozialen bzw. politischen Aktivismus à la Gandhi im kapitalistischen Zeitalter?
Auch gegen die Verortung als soziale und politische Aktivistin sträubt sich Nadin etwas, räumt aber ein, dass ihre Textilkunst kein l’art pour l’art ist und eben ein politisch und sozial motiviertes Grundinteresse ihrerseits beinhaltet: Eben das Interesse an dem Dialog mit der Stadt und mit den Anwohner*innen und das Interesse, ihnen durch das Medium Textil eine Plattform und möglicherweise neue Ausdrucksmöglichkeit einzuräumen.
Nur die Entfernung zu den Weber*innen lässt sie inzwischen umdenken: „Wenn es zu kompliziert ist, mit den Produzent*innen in Kontakt zu kommen, gehe ich vielleicht einen Schritt weiter und schaue, wo die Sachen enden. Sprich zu dem Reject-Markt in Okalipuram, wo ich inzwischen mehrmals war.“ Der Reject-Markt ist ein Stoffmarkt, auf dem der Stoffüberfluss, also zweite Ware, günstig verkauft wird, der vom Export zurückgewiesen wurde. Oder mit Nadins Worten „all der Müll, der zu viel produziert wurde, der die falsche Farbe für die neueste Fashion in Deutschland hat, der an der Seite einen Streifen hat und deshalb nicht genutzt werden kann.“ Mit Indien als dem zweitgrößten Textilproduzent der Welt und dem Textilsektor als dem zweitgrößten Arbeitgeber in Indien, mit dem Fashion-Wahn in den westlichen Ländern und dem Wunsch, die Produktionskette auch einmal vom anderen Ende her kennenzulernen, sticht Nadin auch mit ihrer zweiten Projektidee politisch kritisch hinterfragend und forschend in Themen des heute neoliberalen Markt- und Machtgefüges hinein und regt zum Nachdenken an.
Welche Form ihr Projekt in den nächsten zwei Wochen annehmen wird, werden wir bei ihrer Abschlusspräsentation am 22. November 2019 sehen. Feststeht, dass sich hinter dem Satz „I’m working with textiles“ weitaus mehr verbirgt, als eine der gängigen Kategorien.