Gespräch mit vier digitale Expert*innen
Digitale Dilemmas: Demokratie und öffentlicher Diskurs online
Die Auswirkungen der digitalen Medien auf die Gesellschaften sind Gegenstand ständiger Debatten. Während die einen den zersetzenden Einfluss von Desinformation und Hasskultur auf den sozialen Zusammenhalt hervorheben, betonen andere das Potenzial digitaler Plattformen, emanzipatorische Bürgerbewegungen wie #metoo zu ermöglichen. Wie wirken sich Eigentumsverhältnisse, Content-Moderation und Internetsperren auf digitale Räume aus? Wie gestalten wir die Online-Räume, die wir uns wünschen? Über diese Fragen und die Dilemmas digitaler Räume diskutieren Expert*innen und Aktivist*innen aus Indien und Deutschland.
Von Akshit Chawla
Kontrolle der Nutzung physischer IT-Infrastrukturen
Eine physische IT-Infrastruktur umfasst materielle Bestandteile, die das Funktionieren einer Technologie ermöglichen. Dazu gehören Dinge wie Server, Datenzentren, Speichergeräte und Sendemasten.Elisa Lindinger: Eine Auseinandersetzung mit dem Bereich der physischen IT-Infrastruktur ist sehr wichtig. Auf dieser Ebene kann es sowohl Autonomie und Selbstverwaltung als auch Überwachung und Kontrolle geben. Zum Beispiel im Falle des gemeinschaftsorientierten Ansatzes im mexikanischen Oaxaca. Dort besitzen die Gemeinschaften ihr GSM-Netz selbst und verfügen damit über Entscheidungsbefugnisse, beispielsweise in der Frage, welche Regionen mehr Konnektivität benötigen und welche nicht. Ohne diese Initiative hätten zahlreiche Regionen in Oaxaca so gut wie keinen Netzzugang.
Aparajita Bharti: Mit einem gemeinschaftsorientierten Ansatz sind aber auch Probleme verbunden. In einem Land wie Indien ist es wegen Ungleichheiten aufgrund von Kaste und Geschlecht möglich, dass am Ende nur einige wenige (führende) Persönlichkeiten die Stimme für eine Gemeinschaft erheben. Dies war einer der Gründe, warum Zivilgesellschaften in Indien einen Bericht der indischen Regierung zurückgewiesen haben, gemäß dem Gemeinschaften ihre nicht-personenbezogenen Daten besitzen und sie daher auch selbst verwalten sollten.
Content-moderation
Aktuell verfügen einige wenige große Privatunternehmen (wie Facebook, X) sowie staatliche Einrichtungen über weit reichende Entscheidungsbefugnisse darüber, welche Inhalte online veröffentlicht werden dürfen. Sie halten diese Macht in ihren Händen, weil sie die physischen und digitalen Infrastrukturen für den Betrieb digitaler Plattformen kontrollieren. Wie wirkt sich das auf die Content-Moderation online aus? Wie sieht der beste Umgang mit der Content-Moderation aus?Vrinda Bhandari: Ein Problem der Content-Moderation sind die Shadowbans. Einige Menschen berichten, dass sie Shadowbans wegen eigener Posts erlebt haben – beispielsweise im Zusammenhang mit der laufenden Debatte über pro-palästinensische Inhalte. Das System ist unglaublich undurchsichtig. Die Frage ist, was man im Falle eines Shadowbans unternehmen und an wen man sich richten kann? In Indien werden zudem die Konten zahlreicher Twitter-User wiederholt ohne weitere Begründung gesperrt. Als einzige Erklärung bekommen die Betroffenen oft zu hören, dass ihr Konto aufgrund eines Rechtsersuchens der indischen Regierung blockiert worden sei.
Erik Tuchtfeld: Es ist nicht Aufgabe der Regierung, in allen Einzelheiten festzulegen, welche Inhalte erlaubt sind und welche Informationen im Falle von Fehlinformationen richtig oder falsch sind. Doch es sollte auch nicht die Aufgabe von Privatunternehmen sein. Es darf nicht sein, dass ein Unternehmen oder eine Person im Silicon Valley darüber entscheidet, ob ein bestimmter Inhalt online bleiben darf oder nicht. Wir sollten uns vielmehr am Modell der BBC orientieren, die zwar staatlich finanziert, aber regierungsunabhängig ist. Deutschland hat zwei sehr große Rundfunksender – beide sind Teil der öffentlichen Infrastruktur und finanzieren sich aus dem Rundfunkbeitrag, den alle Haushalte zahlen – die noch immer unabhängig von der Regierung sind und von Rundfunkräten kontrolliert werden, welche die Gesellschaft repräsentieren sollen.
Internetsperren in Indien
Laut einem Bericht von Access Now nahm Indien mit 84 Internetsperren im Jahr 2022 die weltweite Spitzenposition ein. Für die Menschen in Indien war dies mit zahlreichen praktischen Herausforderungen verbunden, darunter Einschränkungen der Kommunikation, Bildung, von Reisen, Bankgeschäften usw. Verfechter*innen der Redefreiheit und zivilgesellschaftliche Gruppen haben zudem die Verfahren zur Verhängung von Internetsperren kritisiert.Vrinda Bhandari: In Indien ist die Schwelle für Internetblockaden vergleichsweise niedrig. Sie kann wegen einfacher Dinge verhängt werden, z. B. wegen der Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“, was ein ausgesprochen dehnbarer Begriff ist. Internetsperren beschränken die Redefreiheit im Internet, wie es auch in Manipur zu beobachten war, einem Bundesstaat in Nordost-Indien. Wegen Internetsperren in der Stadt konnten Inhalte nicht verbreitet werden, die zeigen, wie in einem Fall ethnischer Gewalt zwei Frauen nackt durch die Straßen getrieben werden. Nach Wiederaufnahme der Internetdienste gingen die Videos viral. Und ob es uns gefällt oder nicht – heutzutage geraten Regierungen nur im Falle öffentlicher Sensationen oder Skandale unter Druck. Über Vorfälle in einigen Landesteilen kann wegen Sperren möglicherweise nicht berichtet werden, weil es keinen kontinuierlichen Internetzugang gibt.
Neue Ideen für ein besseres Morgen
Während das Internet im Allgemeinen einen deutlich besseren Zugang zu Informationen und Veröffentlichungen ermöglicht, hat es sich auch zu einem Hotspot für Hassrede und Falschinformationen entwickelt. Viele fragen sich, ob das Versprechen eines demokratischen und dezentralen Internets nicht in immer weitere Ferne rückt. Deshalb müssen wir uns heute mehr denn je fragen, wie ein idealer digitaler öffentlicher Raum aussieht und wie er sich verwirklichen lässt.Elisa Lindinger: Der ideale digitale öffentliche Raum hätte ein dezentraleres Internet, in dem sich Gemeinschaften mit einigen wenigen Tausend Menschen untereinander und mit einem weltweiten Netzwerk verbinden könnten.
Aparajita Bharti: Es ist wichtig, innerhalb des Technologie-Ökosystems bessere Anreize für mehr Transparenz zu schaffen. Beispielweise könnten Plattformen aufgefordert werden, eigene Risikobewertungen vorzunehmen und die Daten anschließend öffentlich zu machen.
Eric Tuchtfeld: Plattformen sollten transparente Algorithmen haben, und die Content-Moderation darf nicht allein den Plattformen oder der Regierung überlassen werden.
Vrinda Bhandari: Verbraucher*innen sollten von den Technologieplattformen bessere Regeln verlangen. Es kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig Transparenz und vereinfachte Beschwerdeverfahren bei Problemen wie Inhaltsbeschränkungen sind.
Die Expert*innen
Elisa LindingerElisa Lindinger ist Co-Direktorin und Mitbegründerin von SUPERRR Lab, einer feministischen Organisation mit Sitz in Berlin, die sich für die Gestaltung einer vielfältigen und gerechten Zukunft in der Technologiebranche und darüber hinaus einsetzt. Elisa Lindinger ist ausgebildete Archäologin und arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt in den Bereichen Kultur und Informatik, sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Welt. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die sozialen Auswirkungen neuer Technologien und deren Regulierung.
Erik Tuchtfeld
Erik Tuchtfeld ist Co-Vorsitzender von D64 - Zentrum für digitalen Fortschritt, einer der führenden zivilgesellschaftlichen Organisationen für Digitalpolitik in Deutschland. Seine Expertise umfasst die Regulation sozialer Plattformen sowie die rechtlichen Aspekte der freien Meinungsäußerung und Privatsphäre in der digitalen Welt. D64 widmet sich mit dreizehn Arbeitsgruppen der gesamten Bandbreite der digitalen Transformation, mit besonderem Fokus auf digitalen öffentlichen Räumen und der Bewältigung des aufkommenden Rechtspopulismus in Europa und darüber hinaus.
Aparajita Bharti
Aparajita Bharti ist Gründungspartnerin von The Quantum Hub und Mitbegründerin von Young Leaders for Active Citizenship (YLAC), die mit jungen Menschen zusammenarbeitet, um ihr Engagement für demokratische Prozesse zu fördern. Bevor sie diese beiden Organisationen gründete, war Aparajita Manager, Corporate Affairs and Communications bei Snapdeal, wo sie für das Management der Medienkommunikation verantwortlich war und sich mit politischen und legislativen Themen beschäftigte, die den digitalen Handelssektor betreffen. Aparajita hat einen MPP-Abschluss der Universität Oxford und ihre Arbeit erstreckt sich auf die Bereiche Gender, Technologiepolitik und Integrität der demokratischen Institutionen Indiens.
Vrinda Bhandari
Vrinda, eine prozessführende Anwältin in Delhi und Rhodes-Stipendiatin, spezialisiert sich auf digitale Rechte und war maßgeblich an Fällen wie der Anfechtung von Aadhaar und der Wiederherstellung des Internets in Jammu und Kaschmir beteiligt. Ihr Engagement umfasst auch kritische Themen wie die Intermediary Rules von 2021 und 2023.