Deutsche Serien in Indien
Oktoberfest 1900: Bier und Blut
An das Vieux-Munich, die einst populäre bayerische Bierhalle in Montreal, können sich ältere Jahrgänge unter den Québécois.es noch gut erinnern, auch wenn manch eine*r lieber den Mantel des Vergessens über diesen Teil seines Student*innenlebens gebreitet hat. Das für billiges Bier und kitschiges Dekor bekannte Wirtshaus im Quartier Latin (Ecke Rue Saint-Denis und Boulevard René-Lévesque) war von 1967 bis 1995 ein beliebtes Ziel für Nachtschwärmer*innen, das zu seinen besten Zeiten in den Siebziger und Achziger Jahren jedes bayerische Klischee bediente.
Von André Lavoie
In Deutschland hat die raubeinige Mentalität der Bajuwaren dem Freistaat eine nicht gerade schmeichelhafte Reputation im Rest der Republik verschafft; es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet diese Region privilegierte wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen zu Québec pflegt. In der gesamten „Belle Province“ ist die Zahl der Kleinbrauereien rasant angestiegen; Konkurrenz brauchen die Brauer des Märzenbiers allerdings nicht zu befürchten. Neben seiner Braukunst hat Bayern ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Geschichten zu bieten, wie das filmische Werk seines « Enfant terrible » Rainer Werner Fassbinder hinreichend belegt.Der jüngste Erbe dieser Filmtradition, Ronny Schalk, bereichert nun die deutsche Serienlandschaft. Als einer der Autoren von Dark, dem Streaming-Moloch, der von 2017 bis 2020 lief, offenbahrte Schalk das kommerzielle Potenzial ausländischer Produktionen auf der amerikanischsten Streaming-Plattform, Netflix. Und Netflix nahm es zur Kenntnis. Mit Oktoberfest: Bier und Blut macht Schalk den Sprung von dystopischer Science-Fiction zu historischem Drama (obwohl die makabren Obertöne erhalten bleiben). Der hohe „Production Value“ der sechsteiligen Miniserie garantiert packende Unterhaltung, die den Serien-Zuschauer an die Mattscheibe fesseln dürfte.
Hopfen des Zorns
Selten war ein Titel aufschlußreicher. Er enthält einfach alles: Schauplatz (München), Inhalt (Bier) und Genre (Tarantino würde bestimmt Parallelen zu seinem Werk ziehen). Obwohl es kein Lehrstück deutscher Kulturgeschichte sein will, hat sich das um die Jahrhundertwende angesiedelte Szenario als attraktive Formel erwiesen, zumal diese Epoche bekanntermaßen ein turbulentes Kapitel deutscher Geschichte verkörpert. Zwischen rasant fortschreitender Industrialisierung, dem Aufbrechen verkrusteter Sitten und Gesellschaftsmuster, dem schwindenden Einfluss des Großbürgertums angesichts des Aufstiegs ambitionierter Geschäftemacher und des zunehmenden Widerstandes der Arbeiter gegen die kapitalistische Unterdrückung fließt nicht nur reichlich Gerstensaft in Oktoberfest: Beer & Blood.Sein Traum wird schnell von allen Seiten torpediert: von den Bonzen der Großbrauereien, den kleinen Traditionsbrauereien und ihren hart arbeitenden Familien (eindrücklich verkörpert durch die Familie Hoflinger, deren Figuren mit einer Mischung aus Kraft und Wahnsinn geradewegs dem Shakespeare-Drama Romeo und Julia entsprungen sein könnten), und seiner Tochter Clara, die einen rebellischen Charakter und den Teufel im Leib hat. Dank der Unterstützung ihrer Gouvernante Colina (Brigitte Hobmeier, die für die Darstellung von Hanna Schygulla in einer Fassbinder-Biografie prädestiniert wäre) wird aus dem behüteten Mädchen eine starke Frau, deren Verliebtheit in den ungestümen Roman Hoflinger (Klaus Steinbacher) in einer explosiven Mischung aus Sex, Schwangerschaft, Mord und Lügen mündet (sie wissen bei ihrer ersten Begegnung nicht, welchen Familien sie angehören).
Bierfässer und Klassenkampf
Wie bei jedem fiktionalen Werk, das bei der Reise in die Vergangenheit um historische Authentizität bemüht ist, nimmt die Handlung für sich in Anspruch, auf wahren Begebenheiten zu beruhen. Tatsächlich ist die Figur des Carl Prank stark von der Wirtslegende Georg Lang inspiriert, der es in Nürnberg als „Krokodilwirt“ zu einiger Berühmtheit schaffte, während das Zeitgemälde hauptsächlich soziale und wirtschaftliche Umbrüche darstellt.Vergessen wir für einen Moment, dass aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie heuer nicht in Minga o‘zapft wird. Normalerweise zieht das Volksfest im September bis zu 6 Millionen Menschen an; 2018 wurden 7,5 Millionen Liter Bier ausgeschenkt. Das Konzept der spektakulären Veranstaltung wurde von den Handelsimperien geprägt, deren Fundamente in Oktoberfest: Bier & Blut auf brillante Weise beschrieben werden: die Vetternwirtschaft unter den mächtigen Brauereien, die Ausschaltung lästiger Wiesnwirte, das Profitstreben auf dem Rücken der kleinen Bierbuden. Die Event-Serie gleicht streckenweise einem deutschen Remake der griechischen Komödie Lysistrata von Aristophanes, wobei die Biermadl nicht in den Sex-, sondern in den Bierstreik treten, um einen besseren Lohn zu erhalten. Selbst Bordellbesitzerin Gerdi, die an ihrer schweren Vergangenheit zu tragen hat, verwandelt sich für einen Moment in eine Rosa Luxemburg.
Blut ist dicker als bier
Die Mutter des Hoflinger-Clans, von Martina Gedeck (Das Leben der Anderen, Der Baader Meinhof Komplex) mit der ihr eigenen intensiven Bildschirmpräsenz dargestellt, tritt in die Fußstapfen von Mutter Courage, verliert jedoch jeglichen Halt im Kampf gegen das Unrecht, das ihr widerfährt. Ihre beiden Söhne, der verwegene Roman und der zaghafte Ludwig (ausgezeichnet gespielt von Markus Krojer), bewegen sich im Spannungsfeld von unternehmerischem Ehrgeiz und künstlerischen Ambitionen. Ludwig führt uns auch durch die Parallelwelt der anrüchigen Münchner Bohème-Szene, die sich als Vorläufer des Berlins der Zwanziger Jahre versteht, einer Stadt, von deren Eroberung die komplexbefreiten Münchner träumen.Die Quintessenz von Oktoberfest: Beer & Blood liegt jedoch im Konflikt zwischen althergebrachten Traditionen und den Verheißungen einer Zukunft, die auf Intrigen, Gewalt, Verrat und Verbrechen aufgebaut ist. Die beklemmende Darstellung des schonungslosen Überlebenskampfes der bayerischen Bierdynastien beeindruckt mit filmtechnischen Meisterleistungen, ihrer Opulenz (4000 Komparsen) und der schieren Monstrosität der Mächtigen einer vergangenen Epoche, deren Zeitgeist ihren Widerhall in unserer Gegenwart findet.
„Oktoberfest 1900“ ist eine Produktion von Zeitsprung Pictures in Zusammenarbeit mit Violet Pictures und Maya Production, in Koproduktion mit dem BR (federführend), der ARD Degeto, dem MDR und WDR für die ARD, gefördert vom FFF Bayern, der Film- und Medienstiftung NRW, dem German Motion Picture Fund und dem Czech Film Fund. Produzenten sind Michael Souvignier und Till Derenbach (Zeitsprung Pictures), Alexis von Wittgenstein (Violet Pictures) und Felix von Poser.
Regie führte Hannu Salonen. Die Head-Autoren der Serie sind Ronny Schalk und Christian Limmer nach einem Konzept von Alexis von Wittgenstein. in den Hauptrollen von „Oktoberfest 1900“ sind Misel Maticevic, Martina Gedeck, Francis Fulton-Smith, Klaus Steinbacher, Mercedes Müller, Brigitte Hobmeier, Maximilian Brückner, Markus Krojer, Martin Feifel, Michael Kranz und Vladimir Burlakov zu sehen.
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