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„Liebes Kind“ - Perfides Psychospiel: Der Kidnapper in deinem Kopf

Nahaufnahme von "Lena" (dargestellt von Kim Riedle als Protagonistin von "Liebes Kind"), die ihr zerschlagenes und zerschrammtes Gesicht unter einer Sauerstoffmaske zeigt.
© 2023 Netflix, Inc.

Verstörende Plottwists, fiese Cliffhanger, reichlich Gruselatmosphäre und mittendrin ein undurchsichtiges kleines Mädchen: Für Thrillerserien wie „Liebes Kind“ wurde das Wort „Bingen“ erfunden. Der süchtig machende Mix aus Grauen und Hochspannung machte den sechsteiligen Psychokrimi von Isabel Kleefeld und Julian Pörksen zu einem der bislang erfolgreichsten Netflix-Titel weltweit — und zu einem Fest für nervenstarke Nachteulen.

Von Angela Zierow

„Er macht den Tag und die Nacht. Wie Gott.“

In einer fensterlosen Hütte irgendwo im Nirgendwo sind die beiden Kinder Hannah (Naila Schuberth) und Jonathan (Sammy Schrein) mit ihrer Mutter (Kim Riedle) den drakonischen Regeln ihres „Vaters“ ausgeliefert. Mahlzeiten, Homeschooling, sogar Toilettengänge sind streng reguliert, die Abläufe des perfiden Heile-Familie-Spiels müssen akribisch befolgt werden. Als die Lena genannte Frau ihrem Hochsicherheitsgefängnis eines Nachts entfliehen kann, auf einer Waldstraße vor ein Auto taumelt und im Krankenhaus landet, scheint sie vor ihrem Peiniger in Sicherheit zu sein. Oder doch nicht? Zusammen mit ihr entkommt auch die 12-jährige Hannah. „Ich bin bei dir, Mama“, flüstert sie der schwerverletzten Frau im Krankenwagen zu. Macht sie ihr Mut, oder ist es eine Drohung? Für die Geflohene ist der Horrortrip noch lange nicht zu Ende.

"Das sind die Regeln, Lena!"

Liebes Kind beginnt da, wo die meisten Thriller enden. Der Sechsteiler zeigt die Nachwirkungen von Entführung und Missbrauch als alptraumhaftes, vertracktes Puzzle, in dem nichts zusammenzupassen scheint. Rückblenden enthüllen Fragmente der Ereignisse, nur, um neue Fragen aufzuwerfen. Wer ist Lena wirklich? Die seit 13 Jahren vermisste Tochter des Ehepaares Beck (Julika Jenkins, Justus von Dohnányi), wie Vater Matthias inständig hofft? Sind Hannah und Jonathan tatsächlich Lenas leiblichen Kinder? Gibt es mehr als einen Kidnapper? Welche Rolle spielt eine zersplitterte Schneekugel? Und was hat es mit dem eigentümlichen Verhalten der kleinen Hannah auf sich?
Während die LKA-Ermittlerduo Aida Kurt (Haley Louise Jones) und Gerd Bühling (Hans Löw) durch den immer komplexer werdenden Fall irrlichtern und dabei weitere Gräuel aufdecken, versucht die schwerst traumatisierte „Lena“, sich langsam ins Leben zurück zu tasten. Doch in ihrem Kopf wütet weiterhin die Stimme des Entführers: Wenn du nicht genau machst, was ich sage, töte ich dich. Wenn du etwas Falsches denkst, töte ich dich. Das sind die Regeln, Lena! Sind es die Folgeerscheinungen einer teuflischen Gehirnwäsche, oder beobachtet sie ihr Folterer noch immer? Des Rätsels Lösung birgt einen finalen Schocker - zumindest für diejenigen, die die Romanvorlage von Krimi-Spezialistin Romy Hausmann („Perfect Day“) nicht kennen.

Panorama eines Grauens

In ihrem preisgekrönten Debüt „Liebes Kind“ (Original „Perfect Day“, 2019) brilliert Hausmann als Meisterin der Psychothrills. Ihr wendungsreicher, multiperspektivisch erzählter Pageturner spielt gekonnt mit den Konventionen des Genres und beschert selbst nervenstarken Leseratten schlaflose Nächte. „Panorama eines Grauens, das jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigt“, so Hausmanns Verlag dtv seinerzeit. Das mag etwas dick aufgetragen sein, an Horrorszenarien mangelt es dem Spiegel-Bestseller jedoch in der Tat nicht: Stalking, Kidnapping, Vergewaltigung, Psychoterror , Folter, Mord - „Liebes Kind“ lässt nichts aus.

Ist die gleichnamige Adaption ebenso packend? Und ob, befanden Thriller-Fans rund um den Globus. Der Sechsteiler schaffte es in die Top Ten der erfolgreichsten nicht englischsprachigen Netflix-Serien aller Zeiten, nicht selbstverständlich für eine Produktion „Made in Germany“. „Krimi-Kammerspiel der Extraklasse“, schrieb Spiegel Online über die „düstere, spannende Serie, die den Mut findet, unbequeme Fragen zu stellen“. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland lobte Hauptdarstellerin Kim Riedle (Back For Good), bekannt durch diverse TV-Krimis und die Daily Soap Verbotene Liebe: „Es sirrt ein Horror in ihren Augen, mit dem sie an Shelley Duvall in Kubricks Shining (1980) erinnert.“ Und die Süddeutsche Zeitung warnte, Liebes Kind sei nichts für Leute, „die nur Zeit für eine Folge“ hätten: „Abschaltenmüssen bei so einer Spannung ist fies.“
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Dass der Sechsteiler bis zur letzten Minute fesselt, ist nicht zuletzt der vielfach ausgezeichneten Autorin und Regisseurin Isabel Kleefeld (Grimme-Preis für „Arnies Welt“) und dem Dramaturgen Julian Pörksen (DEFA-Förderpreis für „Whatever Happens“) zu verdanken, die sich die Arbeit am Drehbuch und die Regie teilten. Warum sie die Story so fasziniert habe, begründete Head-Autorin Kleefeld gegenüber netflixwoche.de so: „Liebes Kind‘ unterscheidet sich insofern, als die Geschichte aus Opferperspektive erzählt wird, nie aus der Täterperspektive.“ Das habe auf die beiden Filmschaffenden „eine große Sogwirkung“ gehabt.

Und Schriftstellerin Hausmann? Die war von Miniserie begeistert - und von der Dimension des Projektes anfangs überwältigt: „Es war richtig abgefahren. Ich war einen Tag am Set und dachte: Oh mein Gott, das ist nicht wahr!“ Noch ist offen, ob es weitere Adaptionen ihrer Romane geben wird. Hausmann-Fans können sich die Wartezeit mit den Podcasts „Hausmann & Benecke - True Crime“ und „Tatort trifft True-Crime“ verkürzen. In letzterem vergleichen die Autorin und Journalist Florian Gregorzyk „Tatort“-Themen mit realen Kriminalfällen. Risikofaktor für schlaflose Nächte: hoch.



Liebes Kind
Sechs Folgen à ca. 45 Minuten
D / USA 2023, Buch und Regie: Isabel Kleefeld, Julian Pörksen
Darsteller: Kim Riedle, Naila Schuberth, Sammy Schrein, Julika Jenkins, Justus von Dohnányi, Hailey Louise Jones, Hans Löw, Birge Schade, Ozgur Karadeniz
FSK 16 
 
 

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