Indische Schriftsteller und ihr Blick auf Deutschland
Aus einem fernen Land

Aus einem fernen Land
© Rahman Abbas | Bearbeitung: Bharat Sharma

Siebzig Jahre und vier indische Schriftsteller: Was sie verbindet, ist eine Reise nach Deutschland. Ein fremdes Land mit fremdartigen Lebensweisen. Aber auch ein Anlass zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis.

Von Almuth Degener, Namita Khare

Wie sieht ein indischer Besucher Deutschland? Wir haben vier Schriftsteller interviewt, die ihre Gedanken in Reiseberichten oder als Roman literarisch verarbeitet haben. Ihre Antworten haben unsere Autoren nicht persönlich gegeben, die meisten sind auch nicht mehr am Leben. Wir haben sie ihren Werken entnommen.

Ajneya (Sachchidananda Hirananda Vatsyayan, 1911 – 1987) war in den späten 1950er-Jahren in verschiedenen europäischen Ländern unterwegs. Nirmal Verma (1929 – 2005) fuhr im Sommer 1961 zweimal nach Berlin, kurz vor und kurz nach dem Mauerbau. Manohar Shyam Joshi (1933 – 2006) reiste auf Einladung des Vereins Inter Nationes in den frühen 80er-Jahren nach Westdeutschland. Rahman Abbas (geboren 1972) besuchte Deutschland im Jahr 2019 mit Hilfe des Grenzgänger-Programms der Robert-Bosch-Stiftung und des Literarischen Colloquiums Berlin.
 

Welche Gefühle hatten Sie bei Ihrer Einreise nach Deutschland?

Nirmal Verma: Ich fuhr im Zug von Prag nach Berlin, vorbei an Fabrikschornsteinen, Trümmern, Schutthaufen, Häusern mit leer starrenden Fenstern und Einschusslöchern. Ein „schwerer Geruch, der die Vergangenheit einer ganzen vergangenen Generation in sich birgt“, hing in der Luft, ich empfand eine unbestimmte Angst. „Tote soll man nicht ausgraben, heißt es, aber ... Für mich als jemand, der aus einem fernen Land nach Europa kommt, scheint die Zeit, die für alle oder doch für die Einheimischen, vergangen ist, noch lebendig zu sein.“

Was waren Ihre Eindrücke von der Hauptstadt Berlin?

Rahman Abbas: „Betrachtete man die Gebäude hier, Zeugnisse einer kraftvollen und kunstfertigen Architektur, konnte man sich kaum vorstellen, dass diese Gegend einmal zerstört gewesen war.“

Nirmal Verma: „Schlendert man den Kurfürstendamm entlang oder durch das Hansaviertel, fällt der Blick auf Zeugnisse einer schwerelosen modernen Architektur, hoch aufragende Gebäude, die die hässlichen Rückstände des Krieges unter sich verbergen. Ein Zufall ist es nicht, dass täglich Hunderte aus Ostberlin in den westlichen Teil der Stadt fahren, um spazieren zu gehen oder einzukaufen.... Kein Wunder, dass Westberlin heute als glänzendes Schaufenster West-Europas dem östlichen Europa gegenübersteht, ein eigenartiges Symbol für die Ideale des freien Europa.“

Ajneya: Ich war am Kurfürstendamm. „Ein großer Platz in der Stadt. Ein moderner Platz in einer modernen Stadt: nicht genug, dass er groß ist; man hält es für notwendig, auch unablässig auf seine Größe aufmerksam zu machen. Außen ein Kreis gewaltiger Glasfenster, darin Lichtgegleiß. Auf der Straße durchsickernd Licht: Licht der Straßenlaternen, Licht der fahrenden Autos – ein Netz verschiedenartiger Lichter, in gleichmäßigen und dünnen Linien dahinfließend. Im Innenbezirk ein Ring von Dunkelheit, darin ahnt man irgendwo geborstene Bögen und Kuppeln; dann, plötzlich aus einem Brunnenschacht dichteren Dunkels auftauchend, der zerstörte Turm einer Kirche. Diese im Krieg zerstörte Kirche steht auf dem bedeutendsten Platz am Kurfürstendamm, der Prachtstraße Berlins; sie ist Ruine geblieben, obwohl man ringsum wieder alle Gebäude aufgebaut und bezogen hat... Was ich aber sah, war dies: diese zerstörte Kirche war gleichsam das Antlitz des gegenwärtigen Europas – schön, zerbrochen, im Konflikt zwischen Leben und Vernichtung hin- und hergerissen und darum ganz nach innen gewandt; geblendet und beunruhigt von den widerstrebenden Einflüssen einer Abneigung gegen Glaubensfestigkeit auf der einen Seite und einer Faszination durch den eigenen Arbeitseifer auf der andern... Und auch dies empfand ich, so wie Berlin Europas Konfliktzentrum war und ist, so ist auch Europas wahres Gesicht im Grunde das Gesicht Berlins. Und die lichtumringte zerbrochene Kuppel dieser Kirche steht da als Wahrzeichen dieses Gesichts, das Konflikte zerrissen haben.“

Was meinen Sie zu Berlin als historische Stadt?

Rahman Abbas: An der Gedenkstätte Berliner Mauer habe ich gedacht: „Ob die Kontrolllinie in Kaschmir genauso Familien auseinanderreißt?“

Nirmal Verma: „Jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, hat sich vieles geändert. Freier Verkehr zwischen Ost- und Westberlin ist nicht mehr möglich…Ein derart unverblümtes, nacktes Bild des kalten Krieges bietet sich vielleicht in keiner anderen Stadt Europas.“

Hatten Sie ein besonderes Erlebnis?

Nirmal Verma: Mit dem Besuch einer Brecht-Aufführung am Berliner Ensemble ging für mich ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. „Da das Stück bereits angefangen hatte, konnten wir unsere Plätze nicht mehr einnehmen. Aber dank dem Umstand, dass wir Ausländer waren, brauchten wir nicht draußen zu warten. Ein Herr geleitete uns zu einer Loge. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, und auf Zehenspitzen gingen wir hinein und setzten uns auf zwei freie Plätze. Es verging eine Weile, bis wir merkten, dass sich außer uns noch jemand hier befand. Die Person saß stumm und in sich gekehrt in einer Ecke, so konzentriert, dass sie unser Kommen wohl nicht bemerkt hatte. Von mittlerem Alter, das Gesicht faltig, aber in den Augen ein feuriger Glanz, eine seltsam unruhige Wärme - es war Helene Weigel!... Kurze Zeit später erhob sie sich und verließ die Loge. Damit endete unsere ‚historische‘ Begegnung mit der Intendantin des Berliner Ensembles.“

Gibt es Unterschiede zwischen Deutschland und Indien in der Mentalität?

Manohar Shyam Joshi: Im Verhältnis zu Alt und Neu. „In einem Stadtteil wurde der gesamte Verkehr gestoppt und Leute stellten allerlei Hausrat auf die Straße. Nicht nur Dosen, Flaschen, Altpapier, sondern auch Fernsehgeräte, Kühlschränke, Stereoanlagen, Waschmaschinen, Möbel, einfach alles! Man sagte mir, dass monatlich zu festen Terminen kostenfrei der Müll abgeholt wurde.“ Unter den Leuten, die auf der Suche nach Verwendbarem durch die Straßen streiften, waren auch Antiquitätenhändler „denn in dieser Konsumkultur, in der Neues sehr schnell alt wird, wird nur mäßig Altes manchmal zur Antiquität. ... Ich habe selbst gesehen, dass mit Kohlen beheizte Bügeleisen, wie sie in Indien von Dhobis (Wäschern) noch verwendet werden, als teure Antiquitäten zum Verkauf angeboten wurden.“

Rahman Abbas: Und es gibt Unterschiede im Verhältnis zu den Verstorbenen. Ich betrat durch Zufall einen Friedhof, es war eine andere Welt. „Die Gräber waren überaus sorgfältig angelegt und systematisch angeordnet und von Gartenanlagen mit Blumen in allen Farben umgeben. An einigen Stellen standen Grablaternen, in denen Kerzen brannten. Viele Grabsteine zeigten ein Bild des Verstorbenen, dazu die Geburts- und Todesdaten.... Der Friedhof glich einer Kunstgalerie. Wieviel Liebe die Leute auf die Grabstätten ihrer Angehörigen verwandt hatten! Ich musste an meine Mutter denken. ... Ich weiß nicht einmal, wo ihr Grab liegt.“

Vielen Dank für das Gespräch!
 

Literatur

  • Ajneya: Berlin - Nervenzentrum Europas. Übers. L. Lutze. In: Ajneya (Sachchidananda Vatsyayan): Unterwegs zum Fluss. Herausgegeben von L. Lutze und R. Kimmig. Freiburg 1986, 109-112.
  • Nirmal Verma: Cheero Par Chandni. Delhi 1964.
  • Manohar Shyam Joshi: Pashchimi Jarmany Par Udti Nazar. Delhi 2006, Reprint 2010.
  • Sachchidananda Vatsyayan: Ek Boond Sahsa Uchli. Varanasi 1960.
  • Rahman Abbas: Zindeeq. Delhi 2021.
Hinweis: Originalzitate stehen in Anführungszeichen, nicht markierte Aussagen sind freie Paraphrasen aus den verwendeten Werken. Die Übersetzungen der Hindi- und Urdu-Originaltexte wurden, wo nicht anders vermerkt, von den Autorinnen vorgenommen.

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