Rosinenpicker
Kindheit unter Beschuss

Der Bosnienkrieg. Verstörend, brutal, heute vielfach vergessen. Tijan Sila lässt ihn in seinem Erinnerungsbuch wieder aufleben. Zwischen der Belagerung seiner Geburtsstadt Sarajevo und der Flucht der Familie nach Deutschland liegen Jahre der Gewalt, Wut und Trauer.

Von Marit Borcherding

Sila: Radio Sarajevo © © Hanser Berlin Sila: Radio Sarajevo © Hanser Berlin
Irgendwie nostalgisch sieht das Buchcover von Radio Sarajevo aus: mit bunten Blumen auf nikotingelbem Tapeten-Untergrund und einem antennenbewehrten altmodischen Kofferradio als Blickfang – aber schon auf der ersten Seite des an der Wirklichkeit orientierten Werks wird klar: Hier folgen keine gemütlichen Geschichten einer unbeschwerten Balkan-Kindheit. Stattdessen enthalten bereits die ersten Zeilen des Prologs die Wörter: Bomben, Explosion, Alarmanlagen, Panik, Tod, Schatten, erster Kriegstag, schwarzer Rauch. Eben noch hört der zehnjährige Ich-Erzähler Popsongs von David Bowie im Radio, Minuten später eilt er mit der Hausgemeinschaft schutzsuchend in den Keller, während um ihn herum die Welt zu explodieren scheint. Abrupter kann kaum jemand aus seinem Kinder-Kosmos herauskatapultiert werden. „Der Krieg ist da“, heißt es schließlich am Ende des Prologs. Was das bedeutet, erzählt der Protagonist in den folgenden 17 Kapiteln nüchtern und zugleich schonungsloser, als man es eigentlich aushalten möchte.

Keine Tränen mehr

Der 1981 in Sarajevo geborene Autor lässt sein Buch – es ist sein insgesamt viertes – mit den ersten Stunden des Krieges beginnen. Der kindliche Erzähler, seine Eltern – ein Professor für Bibliothekwissenschaften und eine gerade promovierende Dozentin für Germanistik –, andere Familienmitglieder und die Nachbarschaft werden aus dem Nichts mit Bombendetonationen und Raketenbeschuss konfrontiert, worauf sie verängstigt, geschockt und kopf- und planlos reagieren. Seine erste Nacht im Keller endet für den Jungen in einem Heulkrampf. Trost und Zuversicht kann kaum noch einer spenden, schon gar nicht seine Akademiker-Eltern. Welchen psychischen Preis – einen unter vielen – er zahlen wird, darauf gibt er den Lesenden einen Ausblick: Erträgt der Junge zunächst die nächtlichen Bombardements mit tränenloser Gelassenheit, um dann zu weinen, wenn nicht mehr geschossen wird, ändert sich das bald: „So war es in den ersten zwei oder drei Monaten des Kriegs, bis die Gewöhnung einsetzte und ich aufhörte zu weinen – und zwar für die nächsten fünfzehn Jahre. … Dieser Akt der Selbstbeherrschung bereitete mir seltsame Lust. Dass der Mensch sich an jede Qual gewöhnt, stimmt nämlich. Es stimmt jedoch auch, dass es eine Qual ist, sich wieder zu entwöhnen.“

Zerstörte Zukunft

Tijan Sila schaut auf diese Weise immer wieder in die Zukunft seiner Figuren, während er beschreibt, was sie im beginnenden Kriegsalltag gerade erleben und erleiden. Mit Hilfe dieser literarischen Methode unterläuft er regelmäßig etwaige Wünsche seiner Leserschaft, es möge alles, trotz durchlittener Qual, ein gutes Ende nehmen. Im Gegenteil: Das Prinzip Hoffnung findet in diesem Buch zumeist keine Anwendung, die Heldenerzählung, die sonst für Lesegenuss sorgt, ist außer Kraft gesetzt: „Der Krieg würde für meine Mutter niemals enden“, so steht es schon auf Seite 33. „2008 würde ich sie … in eine Psychiatrie einweisen müssen. Der Gutachter des Gesundheitsamts würde im Erfassungsbericht festhalten, das Sediment ihrer Psychosen seien nicht verarbeitete Kriegstraumata. 1992 wusste kein Mensch in Sarajevo, dass ein Krieg niemals endet. Wir wussten bloß, dass uns das Essen ausging …“

Beginnend mit Tag 1, hält der Belagerungs- und Kriegszustand unzählige weitere Schrecken für den Ich-Erzähler, seine Familie und all die anderen Vorortbewohner*innen bereit: Plünderungen, Barrikaden mit brennenden Müllcontainern, explodierende Granaten direkt vor der Haustür, Einbrüche, zunehmende Verwahrlosung des Stadtviertels, Flucht in die Drogensucht schon bei Heranwachsenden. Und auch der Austausch untereinander, die Kommunikation zwischen Nachbarn und Freunden, zwischen Schulkindern und Lehrkräften, ist von Gewalt geprägt – in Worten und in Taten, und oft lange vor Kriegsbeginn einsetzend. Ein Abgrund, dessen Tiefe der Erzähler zunächst nur erahnen kann: „Sarajevo kam mir vor wie ein schwarzer Wald, der Tod als ein Jäger, und ich fühlte zum ersten Mal das, was ich erst Jahre später … in Worte zu fassen schaffte: Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.“ Das diese Erkenntnis für einen Zehnjährigen eine maßlose Überforderung darstellt, versteht sich von selbst.

Ohne Ende

Die Handlung muss gar nicht an eine Kriegsfront im klassischen Sinne verlegt werden, die Verheerungen des Krieges werden auch durch den begrenzten Blick auf die unmittelbare Umgebung des Ich-Erzählers sehr deutlich. Vielleicht sogar noch mehr, denn Repression und Gewalt zerstören hier selbst die intimsten Schutzräume und lassen die Menschen allein zurück – egal, wie alt und wie hilfsbedürftig sie sind. Und gleichzeitig präsentiert Tijan Sila neben allen – stets direkt und nüchtern formulierten – Schilderungen der um sich greifenden Grausamkeiten auch die skurril-komischen Momente des von anarchischen Zuständen geprägten Bürgerkriegsalltags: Da tauschen die Jungs bei den Blauhelm-Soldaten Pornohefte gegen Süßigkeiten und Cola. Da hat die zerstörte Stadt manchmal etwas von einem – hochgefährlichen – Abenteuerspielplatz. Wirkliches Aufatmen gelingt einem als Lesende aber erst mit Beginn des Epilogs und dem Satz: „Wir verließen Sarajevo 1994.“ Dass dies für die Eltern des Ich-Erzählers kein Happy End mit sich brachte, haben wir da längst erfahren, und auch der Erzähler wird immer wieder von den zerstörerischen Geschehnissen eingeholt. Er reist wegen eines Auftritts auf einem Literaturfestival nach vielen Jahren noch einmal in seine Heimatstadt und trifft dort einen Freund aus Kindertagen. „Du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen“, sagt dieser zu ihm am Ende ihrer Begegnung, „aber der Krieg hat niemals aufgehört.“ „Du irrst dich“, entgegnet der Ich-Erzähler“, „ich weiß genau, was du meinst.“ Wir wissen es nun auch, dank der eindrucksvollen Erzählkunst von Tijan Sila.
 
Rosinenpicker © © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank
Tijan Sila: Radio Sarajevo
Berlin: Hanser Berlin, 2023. 176 S.
ISBN: 978-3-446-27726-7
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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