Brigitte Reimann
Die Geschwister

Das Buch 'Siblings' liegt auf einem Tisch nebst Pinsel, Farbtube und Farbpalette
© Penguin Classics

Brigitte Reimanns 1963 erschienener Roman Die Geschwister stellt so etwas wie ein verzerrtes Spiegelbild zu Bernhard Schlinks Der Vorleser dar und nutzt die Spannungen in einer eng verbundenen Familie, um die Auseinandersetzungen darzustellen, die jungen Menschen im „anderen Deutschland“ führten.

Bernhard Schlinks Der Vorleser war lange der einzige deutsche Roman, den viele Brit*innen gelesen haben. (Ein Verleger sagte mir einmal, dass die englische Übersetzung von Carol Brown Janeway sogar besser sei als das Original, das Oprah angeblich nie ausgewählt hätte.) Es war auf jeden Fall der erste deutsche Roman, den ich gelesen habe. Der Roman spielt vorwiegend zwischen 1958 und 1965 und untersucht die Vergangenheitsbewältigung von Westdeutschland durch eine persönliche Beziehung: die Affäre zwischen dem jungen Michael, ein Mitglied der Nachkriegsgeneration, und Hanna, die – zu Michaels Entsetzen – der Kriegsverbrechen angeklagt wird.

Brigitte Reimanns 1963 erschienener Roman Die Geschwister stellt so etwas wie ein verzerrtes Spiegelbild zum Vorleser dar und nutzt die Spannungen in einer eng verbundenen Familie, um die Auseinandersetzungen darzustellen, die jungen Menschen im „anderen Deutschland“ führten. Elisabeth und ihr Bruder Uli werfen ihren Eltern auch (im besten Fall) Mitschuld durch politische Apathie vor, aber viel wichtiger für sie ist die Verhandlung ihrer Beziehung mit den widersprüchlichen Idealen und der Realität der jungen Deutschen Demokratischen Republik.

Als ich Reimanns rasanten Roman zum ersten Mal las, musste ich an ein Zitat von Christa Wolf denken: „Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben.“ Elisabeth glaubt fest an das Unmögliche. Sie war noch ein Kind in den Ruinen von Nazideutschland und jetzt ist sie dabei, eine bessere Zukunft mit aufzubauen. Sie wohnt und arbeitet als Künstlerin in einer Fabrikanlage, wo sie den Arbeiter*innen das Malen beibringt, und ich entdecke in mir fast eine Nostalgie für die Zukunft, an die sie glaubt, eine Zukunft, in der alle nicht nur genügend Brot, sondern auch Rosen haben. Sogar nachdem ein Parteibonze sie aus persönlichen Gründen anzeigt, glaubt Elisabeth weiter an das System, überzeugt, dass die Person das Problem war, nicht die Partei.

Das Geniale an Reimanns Buch ist, dass Elisabeths intellektueller Sparringpartner kein überzeugter Kapitalist ist. Stattdessen ist es ihr geliebter Bruder, Uli, der ihre Werte teilt, aber nicht ihren Glaube an den Staat, der diese Werte verwirklichen soll. Nachdem er wegen Assoziierung mit einem Überläufer auf die schwarze Liste gesetzt wird, besteht Uli trotzdem darauf – verbittert, aber scharfsichtig – dass er sich auch bei seinem künftigen Arbeitsgeber im Westen dafür einsetzen wird, dass die Industrie öffentliches Eigentum sein sollte: „Ich gebe eure Leute auf,“ erzählt er seiner Schwester, „aber nicht unsere Sache. Ich habe nie daran gezweifelt – auch in meinen finsteren Augenblicken nicht –, dass die Zukunft eine kommunistische Welt sein wird.“ Klar, vielleicht war diese Überzeugung von Uli notwendig, damit die ostdeutsche Zensur das Buch durchließ, aber sie öffnet trotzdem einen Raum für deutlich interessantere Fragen als die von Kapitalismus gegen Kommunismus: Wie reagieren wir, wenn die Organisationen, an die wir glauben, ihre Werte verraten? Soll man lieber versuchen, das System von innen oder von außen zu verbessern?

Sowohl Schlink als auch Reimann verwenden explizit Fiktion, um politische Konzepte auseinander zu nehmen und gelegentlich ist das anstrengend. Ein paar der ernsteren Gespräche zwischen Elisabeth und Uli haben mich an das erinnert, was ich an studentischen WG-Partys nicht vermisse: Diskussionen mit ernsten jungen Männern, die gerade den Kommunismus für sich entdecken. Trotzdem ist Reimanns Untersuchung von Hoffnung, Glaube und der Fähigkeit, uns eine andere Zukunft vorzustellen auch heute nachdenklich stimmend und notwendig.

Weitere Informationen zu dem Buch / den Bücher und wo sie ausleihbar sind finden Sie anstehend in den Links zum Thema.

ÜBER DIE AUTORIN

Annie Rutherford © © Lou McCurdy Annie Rutherford © Lou McCurdy
Annie Rutherford macht Dinge mit Worten und setzt sich für Poesie und übersetzte Literatur in all ihren Erscheinungsformen ein. Als Schriftstellerin, Übersetzerin und Projektleiterin ist sie derzeit Programmmanagerin für die Emerging Translator Mentorships am National Centre for Writing. Zu ihren veröffentlichten Übersetzungen gehören ganze Sammlungen der Dichter Nora Gomringer und Volha Hapeyeva sowie Isabel Bogdans Roman Der Pfau.

Der Artikel wurde zuerst vom Goethe-Institut Glasgow im Dossier Buchblog: Literaturverkostung veröffentlicht.

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