Khuê Pham
Wo auch immer ihr seid
„In Ländern mit strengen Zensurvorschriften können Literatur und Poesie ein wichtiges Mittel sein, um Gedanken und Erfahrungen zu formulieren und Fragen zu stellen, die sich im öffentlichen Diskurs nicht so leicht ansprechen lassen.“
Die Journalistin Khuê Pham hat mit „Brothers and Ghosts“ (im deutschen Original „Wo auch immer ihr seid“) ihren ersten Roman vorgelegt. Darin erzählt sie von den existenziellen Ängsten vietnamesischer Familien, die aus ihrer vom Krieg zerrütteten Heimat in die Diaspora geflohen sind.
Von Prathap Nair
Der Roman erzählt die Geschichten von Kiều, einer Vietdeutschen der zweiten Generation, und von ihrem Vater Minh, der während des Vietnamkriegs nach Deutschland kam, und ihrem Onkel Sơn, der nach dem Krieg in die USA floh. Kiều, die sich Kim nennt, weil ihre Mitmenschen in Europa das leichter aussprechen können, muss sich mit der Geschichte ihrer Familie auseinandersetzen, als sich ihr Onkel bei ihr meldet, mit dem sie bisher kaum Kontakt hatte: Ihre Großmutter liegt im Sterben und hat in ihrem Testament verfügt, dass es nur in Anwesenheit aller Familienmitglieder eröffnet werden kann. Kiều muss sich also auf den Weg nach Kalifornien machen. Dort trifft sie auf den weniger vertrauten Teil ihrer Familie und erfährt von ihren Verwandten Dinge, die die Geschichte ihrer zerrissenen Familie in ein neues Licht rücken. Mit „Wo auch immer ihr seid“ hat die Autorin ein bedeutendes literarisches Werk vorgelegt, in dem sie das Persönliche und das Politische eng miteinander verknüpft.
Khuê Pham hat sich in ihrer journalistischen Arbeit mit den Ursprüngen politischer Bewegungen in Deutschland auseinandergesetzt oder Prominente und Superstars der Literaturszene wie Chimamanda Ngozi Adichie oder die legendäre Modemagazin-Redakteurin Anna Wintour interviewt. Für ihren Roman hat sie mehr als vier Jahre recherchiert und mit den Mitteln der Oral History wichtige Details eingefangen, um so ihrer Erzählung durch Informationen aus Gesprächen mit Betroffenen mehr Leben einzuhauchen.
In diesen Interview erzählt uns Pham etwas mehr über ihr Buch und ihren Schreibprozess.
Ihr Roman setzt sich aus der Erfahrungsperspektive von Vietnames*innen in Deutschland mit Themen wie Identität, Vertreibung und generationsübergreifenden Traumata auseinander. Wie haben Ihr persönlicher Hintergrund und Ihre Erfahrungen als Vietdeutsche die Arbeit an Ihrem Buch beeinflusst?
Da ich sowohl als Vietnamesin als auch als Deutsche aufgewachsen bin, war ich häufig die Außenseiterin, die sich erklären musste. Und dieses tiefe Gefühl der Entfremdung von meiner Umgebung hatte zweifellos einen wichtigen Einfluss auf meine Arbeit an diesem Roman und darauf, wie ich die Hauptfigur Gio ausgelegt habe. Einen wichtigen Anteil hatten auch die Berichte meiner Verwandten und anderer Menschen, darunter auch Zeitzeug*innen des Vietnamkriegs. Es waren vor allem auch ihre Erfahrungen mit Vertreibung, Gewalt und dem Start in ein neues Leben, die mein Buch geprägt haben.
Sie haben nach eigenen Angaben vier Jahre für die Recherche und das Schreiben an Ihrem Roman gebraucht. Sind Sie bei Ihrer Arbeit zu diesen sehr persönlichen und historischen Themen an besondere Grenzen gestoßen?
Als ausgebildete Journalistin lege ich stets großen Wert auf gründliche Recherche. Für den Roman wollte ich mich näher mit den historischen Zusammenhängen des Vietnamkriegs befassen. Dabei ging es mir nicht um bloße Zahlen, militärische Außenposten und Ziele, sondern darum, den Alltag und die Erfahrungen normaler Menschen zu beschreiben. Also habe ich zahlreiche Interviews geführt – nicht nur in Vietnam, sondern auch in Kambodscha, wo eines der Kapitel spielt. In diesen Gesprächen habe ich erfahren, welche Kleidung die Menschen damals trugen, was sie aßen, wie Lebensmittel rationiert wurden und noch vieles mehr. Diese persönlichen Unterhaltungen und Interviews haben mir unzählige kleine Details geliefert, die ich in keiner der großen Dokumentationen über den Vietnamkrieg gesehen hatte. Auch sie haben zur Authentizität meines Buchs beigetragen.
Denken Sie, dass Literatur eine Funktion für den Erhalt oder die Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses übernehmen kann, insbesondere im Spannungsfeld zwischen zwei Kulturen?
Ich denke, Literatur hat einen besonderen Stellenwert in Kulturen, die ein Trauma wie das des Vietnamkriegs noch nicht überwunden haben. Sie ist zudem wichtig in Ländern mit sehr strengen Zensurvorschriften, in denen ein öffentlicher Diskurs oder das, was wir in Deutschland als Vergangenheitsbewältigung bezeichnen, sehr viel schwieriger ist. Literatur und Poesie können ein Mittel sein, um Gedanken, Erfahrungen und Fragen zu formulieren, die sich im öffentlichen Diskurs oft nur schwer ansprechen lassen. Und für mich als Schriftstellerin ist es besonders wichtig (diese Themen zu behandeln), weil unsere Geschichte noch immer nicht dokumentiert ist. Durch das Schreiben können wir unsere eigenen Erfahrungen festhalten und Erinnerungen und Geschichten sichtbar machen, die anderenfalls im Verborgenen bleiben würden.
Waren Sie an der englischen Übersetzung von „Wo auch immer ihr seid“ mit dem Titel „Brothers and Ghosts“ beteiligt? Gab es bestimmte Formulierungen, Situationen oder kulturelle Konzepte, die schwer zu übersetzen waren?
Mit den beiden Übersetzern meines Romans habe ich schon früher zusammengearbeitet. Das heißt, wir waren bereits mit unseren jeweiligen Schreibstilen vertraut. Sie haben eine erste Rohübersetzung gemacht, die ich vollständig überarbeitet habe. Mir wurde schnell klar, dass die englische Fassung einen ganz eigenen Sound, Drive und Rhythmus im Vergleich zum deutschen Original benötigte.
Einige Stilelemente wie Wiederholungen oder Spielereien mit langen deutschen Wörtern funktionierten in der englischen Fassung nicht richtig. Also haben wir vor allem an Passagen gearbeitet, die noch zu Deutsch klangen oder zu nah am Original waren, und haben sie im Englischen neu formuliert. Für mich war dieser Übergang von einer direkten zu einer literarischen Übersetzung ein wichtiger und gleichzeitig nicht ganz einfacher Prozess. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass es im Englischen besonders schwierig ist, bestimmte kulturelle Konzepte zu vermitteln.
Wer hat Sie darin beeinflusst, einen Roman zu schreiben, der so tief in Themen wie kulturelle Identität und Geschichte eintaucht?
Es gibt viele Schriftsteller*innen, die ich sehr verehre. Beispielsweise den Dichter Ocean Vương, der ebenfalls aus der vietnamesischen Diaspora stammt. Ich schreibe zwar selbst keine Gedichte, doch für mich hat er eine einzigartige und trotzdem für alle verständliche Sprache gefunden, um Fragen der kulturellen Identität in Worte zu fassen. Einen weiteren wichtigen Einfluss hatte Chimamanda Ngozi Adichie, die mit Americanah einen meiner absoluten Lieblingsromane geschrieben hat. Ihre Geschichte ist im Spannungsfeld zwischen zwei Kulturen – in den USA und Nigeria – angesiedelt und behandelt außerdem die Rolle der Frau auf eindrucksvolle Weise. Es gibt noch viele andere Schriftsteller*innen, die ich als Vorbilder nennen könnte, doch diese beiden stehen für mich an erster Stelle.
Haben Sie neue aufstrebende vietnamesische Schriftsteller*innen im Blick, deren Werke ins Englische übersetzt werden?
Ich wünschte, ich könnte interessante Autor*innen empfehlen. Leider lese ich nicht auf Vietnamesisch und kann daher auch keine literarischen Texte erfassen, die noch nicht in der Übersetzung vorliegen. Allerdings hat mir der von Nguyen An Lý übersetzte Roman Elevator in Saigon der vietnamesischen Schriftstellerin Thuận sehr gut gefallen, der in Vietnam leider verboten ist. Empfehlen kann ich auch Remembering Water des in Saigon lebenden vietnamesisch-amerikanischen Schriftstellers Tuan Phan. In seinem Buch schreibt er über das Stadtleben und über die Flucht aus Vietnam in seiner Kindheit.
Haben Sie indische Literatur in englischer Sprache gelesen? Wenn ja, was waren Ihre Favoriten?
Wie vermutlich viele andere habe auch ich natürlich Arundhati Roy gelesen. Und erst kürzlich China Room des britisch-indischen Schriftstellers Sanjeev Sahota. Sein Roman pendelt ebenfalls zwischen zwei Welten – in Großbritannien und Indien – und erzählt von der Suche nach der eigenen Familiengeschichte. Ich denke, dieses Thema beschäftigt viele Schriftsteller*innen der zweiten Generation, ganz unabhängig von ihren Wurzeln.