Stefanie vor Schulte
Junge mit schwarzem Hahn

Boy with a Black Rooster
© Buchcover von The Indigo Press | Porträt von Stefanie vor Schulte von Gene Glover

„Um ein Märchen für Erwachsene zu schreiben, braucht es ein paar handfeste Figuren, die in der Lage sind, den Schrecken zu ertragen, und es braucht den Mut, eine Kluft zwischen Gut und Böse aufzumachen…“

Mit ihrem Romandebüt Junge mit schwarzem Hahn hat Schriftstellerin Stefanie vor Schulte das Genre Märchen für Erwachsene mit fesselnden Figuren, verführerischer Prosa und vor mittelalterlicher Kulisse gekonnt auf eine neue Stufe gehoben.

Von Prathap Nair

Stefanie vor Schulte räumt ein, dass ihre Innenwelt mit melancholischen Bildern ausgekleidet ist, die sie als Romanautorin bisweilen auch zu Papier bringt. Mit ihrem Debüt Junge mit schwarzem Hahn will sie dem Genre Märchen für Erwachsene neues Leben einhauchen. Das Ergebnis ist ein eindrucksvolles Portrait einer apokalyptischen Welt, in der die Mächte des Guten in der Person eines präpubertären Jungen die moralisch verwerflichen, aber gewaltigen Mächte des Bösen bekämpfen.

Ihre Hauptfigur Martin ist ein elf Jahre alter Junge, der seine Familie bei einem Massaker in einem mittelalterlichen Dorf verloren hat. Martin ist der Inbegriff der Tugendhaftigkeit und Liebenswürdigkeit in einer verdorbenen Gesellschaft. Doch obwohl sein Leben für ihn nichts Gutes bereitzuhalten scheint, verliert er nicht den Mut und begibt sich sogar auf eine lange Reise, um die Dorfbewohner*innen im Kampf gegen böse Mächte zu unterstützen. Dabei helfen ihm zwei ungewöhnliche Begleiter – ein schwarzer Hahn und ein Erwachsener – ein Maler, der das Gute in Martin erkennt. Gemeinsam begeben sich die Drei auf eine Abenteuerreise, um entführte Kinder aus den Fängen einer grausamen Prinzessin zu befreien, die in einem Schloss lebt. Daraus entspinnt der Roman mit rasanter Geschwindigkeit die packende Geschichte eines ungewöhnlichen Abenteuers. Und erzählt in packenden Details, ob Martin mit seiner Mission Erfolg hat.

In diesem Interview erzählt uns Stefanie vor Schulte mehr über ihr fesselndes Buch, ihre Begeisterung für Märchen und was sie zu dieser dunklen Mittelalter-Geschichte inspiriert hat.

Als Deutsche sind Sie mit einer reichen Märchentradition aufgewachsen: Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm wie Rotkäppchen und der Rattenfänger von Hameln. Wie hat sich das auf Ihre Leseerlebnisse als Kind ausgewirkt?

Werte und Moralvorstellungen in den Märchen der Gebrüder Grimm oder auch in den Märchen von Hans Christian Andersen zu finden, fiel mir schon als Kind nicht schwer. Aber es war ein großer Spaß, wie sehr die Erzählungen sich bemühten, diese Moral zu verstecken. Es ist eine kostbare Erinnerung, hörend oder lesend, sich gruselnd oder sich amüsierend, zu wissen, dass die jeweilige Geschichte auf Abstand gehalten werden konnte. Ganz gleich, wie groß der Schrecken war, man selbst befand sich ja nicht in diesem Wald, ließ sich nicht von einem Wolf ansprechen, wäre dem Rattenfänger nicht gefolgt, hätte sich nicht betören lassen. Man hörte ganz vernünftig den Unvernünftigen zu. Ein Riesenspaß! Ich begann dann als Kind auch die Märchen aus anderen Ländern zu lesen, um zu schauen, ob sie einander ähnlich wären und ich ähnliche Erfahrungen machen würde. Aber das war nicht der Fall.

Wie sind die Moralvorstellungen aus den Märchen früherer Zeiten für neue Lesende gealtert? Was ist der wesentliche Unterschied beim Schreiben eines Märchens für Kinder und für Erwachsene?

Da jede Geschichte altert, gilt es den Bezug zur Moral nicht altern zu lassen. Das ist die Aufgabe des Lesers. Meine Aufgabe als Autorin des „Jungen mit schwarzem Hahn“ war es, etwas entstehen zu lassen, was an jene Erinnerungen rührt, da man als Kind bei jedem Märchen wusste: es geht gut aus. Ich ertrage den Schrecken und die Dunkelheit, denn es wird Licht geben. Um ein Märchen für Erwachsene zu schreiben, braucht es demnach ein paar handfeste Figuren, die in der Lage sind, den Schrecken zu ertragen, und es braucht den Mut, eine Kluft zwischen Gut und Böse aufzumachen, wie es sie früher viel öfter gegeben hat.

Der präpubertäre Martin ist ein mustergültiger Märchenheld – der sich im Dreiergespann mit dem Hahn als treuem Maskottchen und dem Maler als einzigem vernünftigen Erwachsenen im Dorf auf ein Abenteuer begibt, um die entführten Kinder zu befreien. Wie sind Sie zu der Figur des Martin gekommen? Hat die Geschichte in Ihrer Vorstellung mit Martin begonnen? Oder war es ganz anders?

Es war tatsächlich mit Martin mit seinem struppigen Hahn auf der Schulter, der eines Tages in meiner Küche stand und mich neugierig werden ließ, welche Geschichte zu ihm passen würde. Mir war von Anfang an wichtig, dass dieses Kind nicht nur im Kontrast steht zu jenen, denen er entflieht, sondern auch zu jenem Bild, das sich in der deutschen Sagenlandschaft findet, also zur Geschichte vom „reinen Toren“. Martin hat ein reines Herz, aber vor allem hat er einen glasklaren Verstand, der ihm hilft, hinter den Aberglauben seiner Zeit zu blicken. Der Maler wiederum ist die menschlichste Figur von allen: das Herz auf dem rechten Fleck, er strauchelt und fällt, steht wieder auf. Aber vor allem erkennt der Maler in Martin das Gute, bemerkt seine Gabe, ist schließlich von dem Wunsch durchdrungen, ihn zu beschützen, und koste es ihn das eigene Leben.

Welche Symbolfunktion hat der schwarze Hahn in Ihrem Buch. Das Bild eines schwarzen Hahns vermittelt eine böse Vorahnung, und der Hahn wird im Dorf gefürchtet. Allerdings ist das Tier selbst ein freundlicher und geselliger Gefährte in Martins Leben. Wollen Sie auf diese Weise mit alten Klischees von der Furcht vor dem Unbekannten brechen?

Im Gegensatz zu Märchen, wo die Helden oft keinen Gefährten haben, war es für mich so wichtig, dass Martin nicht allein ist. Beim Schreiben der Geschichte habe ich oft an Disney-Filme gedacht, in denen die Hauptfigur oft einen kleinen Begleiter hat, z. B. sprechende Teetassen, Grillen etc. Ich wollte Martins Einsamkeit brechen. Gleichzeitig ist der Hahn ein schwieriger Freund, da er Martin niemals in Ruhe lässt, ihm keine Pause gönnt, bis seine Aufgabe getan ist. Er ist Martins ausgelagertes Gewissen, und als solches kann er in einer Welt, in der sich die Menschen hinter ihren Alpträumen verstecken, nicht von angenehmer Gestalt sein. Auch im Hahn gilt es, das Schöne und Liebenswerte erst zu entdecken.

Sie haben viel Lob für Ihre fantasievolle und allegorische Erzählweise erhalten. Inwiefern bietet das Genre Märchen für Erwachsene Raum für Fantasie und wie hat es Ihnen dabei geholfen, ein eindrucksvolles und düsteres Märchen für Erwachsene zu entwerfen?

Ich komme weniger vom Märchen als tatsächlich vom Bild. Ich schreibe an Bildern entlang, die ich vor meinem inneren Auge sehe. Sie mögen Märchen zur Grundlage haben, schlechte Träume oder Filmzitate. Meine Innenwelt ist durchweg mit melancholischen und starken Bildern ausgekleidet, aber ich mag nicht behaupten, dass dies alles nur an jenen Märchen lege, die ich als Kind einst gehört habe.

Sind Sie ein Fan düsterer Fantasy Novels? Sie zeichnen ein recht düsteres und eindrucksvolles Bild einer mittelalterlichen Stadt. Woher haben Sie Ihre Inspiration genommen?

Am meisten und auch weiterhin inspiriert mich Cormac McCarthy und besonders sein Roman „Die Straße“. Auch bei ihm geht es immer ums Ganze, geht es um alles oder nichts. Das ist auch die Linie, die ich in meiner Arbeit zu halten versuche. Fantasy Novels sind interessant, aber die Bilderwelten sind nicht ganz dieselben und auch die Aussagen, die ich zu treffen versuche, unterscheiden sich. Darüber hinaus bin ich aber ein großer Fan der Graphic Novel und wünschte, ich hätte die Zeit und die Fähigkeiten, um selbst eine zu zeichnen.

Haben Sie indische Schriftsteller*innen in englischer oder deutscher Übersetzung gelesen? Wenn ja, was hat Ihnen am besten gefallen?

Ich habe Bücher von Arundhati Roy und Kiran Desai gelesen. Ich lese die deutschen Übersetzungen und bin begeistert!
 

Alexandra Roesch © © Alexandra Roesch Alexandra Roesch © Alexandra Roesch
Anmerkungen der Übersetzerin: Alexandra Roesch zu ihrer Arbeit an Junge mit schwarzem Hahn

Für die Übersetzung literarischer Prosa ist es wichtig, den Text inhaltlich und stilistisch genau zu erfassen. Dafür wird jeder einzelne Satz akribisch übertragen, damit die Stimme des Originals erhalten bleibt und der Text auch im Englischen natürlich klingt. Bei Junge mit schwarzem Hahn war es nicht leicht, die Schönheit und Klarheit von Stefanie vor Schultes poetischer wie einfacher Prosa zu vermitteln und gleichzeitig die einzelnen Bedeutungsebenen unterhalb der Oberfläche zu erfassen. Selbst in dunklen Momenten gelingt es ihr, eindringliche und detaillierte Stimmungsbilder zu zeichnen, die eine feine Balance zwischen Wortwahl und Rhythmus verlangen, damit die Einfachheit und Tiefgründigkeit ihrer Prosa nicht verloren geht.

Was mich bei der Übersetzung dieses Buchs vor allem beschäftigt hat, war die außergewöhnliche Gegenüberstellung von Grausamkeit und Güte, Härte und Humor. Der schwarze Zauberhahn und der gutherzige Junge verleihen dem Roman einen spielerischen Ton, der in einem starken Kontrast zu seinen Gewaltepisoden steht. Dieses feine Wechselspiel zwischen hellen und dunklen Momenten hat die Übersetzung zu einer besonderen Herausforderung gemacht.

In unserer immer stärker vernetzten Welt ist literarische Übersetzung sowohl eine Kunst als auch eine Lebensnotwendigkeit. Sie dient als Brücke zwischen den Kulturen, denn Sie erlaubt es den Lesenden, sich mit Geschichten von entfernten Orten auseinanderzusetzen, und fördert auf diese Weise Mitgefühl und ein tieferes Verständnis.

Über die Autorin

Stefanie vor Schulte © ©  Gene Glover Stefanie vor Schulte © Gene Glover
Stefanie vor Schulte wurde 1974 in Hannover geboren und studierte Theater- und Kostümbild. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Marburg. Junge mit schwarzem Hahn ist ihr erster Roman.

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