Deutschlands Drama

Friedrike Emmerling
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Von Friederike Emmerling

Deutschland ist - dramatisch betrachtet – eine echte Überraschung. Denn die vom Rest der Welt eher als spröde und sparsam wahrgenommenen Deutschen leisten sich eine Theaterlandschaft, die mindestens als opulent zu bezeichnen wäre. Die Opulenz bezieht sich dabei weniger auf den Prunk einzelner Inszenierungen als auf die üppige Vielzahl der zu sehenden Inszenierungen. Fast jede mittelgroße Stadt besitzt ein eigenes Theater, in größeren Städten sind gleich mehrere nebeneinander zu finden. Der Deutsche Bühnenverein zählte 2018 allein 140 Stadt-, Staats- oder Landestheater. Außerdem 220 Privattheater, 150 Theater ohne festes Ensemble, 100 Tourneetheater und darüber inaus eine große Anzahl an freien Theatergruppen. Doch damit noch nicht genug: Ein Großteil der deutschen Theater spielt im Repertoirebetrieb. Das heißt, dass nicht „am Stück“ – also zum Beispiel acht Wochen hintereinander - gespielt, sondern jeden Abend eine andere Vorstellung gezeigt wird. Erfolgreiche Inszenierungen können dadurch jahrelang im Programm bleiben, jede Spielzeit kommen zahlreiche Premieren und Uraufführungen dazu.
Das deutsche Theaterpublikum kann aus einem prallen Reichtum unterschiedlichster und anspruchsvoller Theatererlebnisse schöpfen. Repertoiretheater ist eng verbunden mit dem Ensembletheater - einer weiteren Eigenart der deutschen Theaterlandschaft: Ensembletheater engagieren Spielerinnen1 fest für ihre Ensembles, um sie mehrere Jahre an das Haus binden zu können. Erst dadurch kann die enge Taktung eines anspruchsvollen Repertoirebetriebs ermöglicht werden. Zum Ensemble im weiteren Sinne zählen auch Technik, Werkstätten und Administration. Nicht weniger als 39.000 Menschen sind in Deutschland an Theatern und Opern direkt angestellt. Indirekt arbeiten noch weitaus mehr für das Theater, wie zum Beispiel Dramatikerinnen. Ermöglicht wird dieses weltweit einmalige Modell durch Bund und Länder, die die deutsche Theaterlandschaft mit großem Einsatz subventionieren. Mit sichtbarem Erfolg. 2021 soll darüber abgestimmt werden, ob die deutsche Theaterlandschaft ins UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen wird. Gleichzeitig muss das Theater bereit sein, sich und seine veralteten Strukturen für die angemessene Gestaltung von Zukunft radikal selbst zu befragen.

Rein literarisch betrachtet schöpft die deutschsprachige Dramatik aus dem Vollen. Mit lustvoller Neugier und frei von wirtschaftlichen Zwängen durchbricht sie sämtliche Gattungsgrenzen. Insgesamt versteht sie sich nicht nur als Dialog, sondern als durch Körper wandernder Text. Von der Lyrik übers Essay bis zur Prosa vermischen sich in der Dramatik die Formen des Literarischen. Die Übergänge sind fließend, die verhandelten Diskurse am Puls der Zeit. Es geht nicht mehr nur um Inhalte und auch nicht mehr nur um Sprache, sondern auch und besonders um die Form. Weil sich beim Schreiben immer wieder die Frage stellt: Welche Form braucht das Theater der Gegenwart? Und das der Zukunft? Theaterstücke sind immer auch literarische Visionen einer neuen Form von Gemeinsamkeit.

Mit Autorinnen wie Elfriede Jelinek und Roland Schimmelpfennig hat sich das klassische Drama irgendwann in etwas flirrend Poetisches verwandelt. Ob in faszinierend wuchernden, anklagenden Textflüssen wie bei der österreichischen Nobelpreisträgerin oder beim Klang der sich immer weiter in die Schönheit des Tragischen hineinschraubenden Sprachverschiebungen von Roland Schimmelpfennig wurde die Form zum treibenden Element. Autorinnen wie Igor auersima, Lukas Bärfuß, Sibylle Berg, Gesine Danckwart, Martin Heckmanns, Fritz Kater, Dea Loher, Albert Ostermaier, René Pollesch, Falk Richter, Moritz Rinke, Kathrin Röggla, Marlene Streeruwitz, Theresia Walser,3 waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts so etwas wie Katalysatoren einer dramatischen Formenvielfalt.
Deutschsprachige Dramatik wurde auf einmal wild und begehrenswert, Amerika und England schienen nicht mehr die einzigen zu sein, die sich auf zukunftstreibende Dramatik verstehen. Mit dem 21. Jahrhundert entwickelte sich im deutschsprachigen Raum ein neues dramatisches Selbstbewusstsein. Das lag und liegt auch an den zahlreichen Möglichkeiten, dramatisches Schreiben an Hochschulen und Universitäten studieren zu können. Es gab einen regelrechten Run der Theater auf Uraufführungen. Allerdings wurden die meisten möglichst risikofrei auf kleinen Bühnen und mit überschaubarem Aufwand inszeniert.
Es entstanden zahllose „kleine“ Theaterstücke - zwei bis vier Personen in der Box - die landauf, landab und permanent dem Uraufführungshunger Nahrung boten. Schon quantitativ hätten sie niemals nachgespielt werden können. Das Label Uraufführung schien den Theatern irgendwann wichtiger als die Qualität. Aus neu wurde alt, sobald es in der Ankündigung stand. Die Folge war enthemmte Überproduktion. Irgendwann glaubte auch das Theater nicht mehr so recht an die Möglichkeiten deutschsprachiger Dramatik.
Sie sei halt einfach selten für die große Bühne geeignet, so die Begründung. Zu klein, zu leicht, zu wenig komplex. Mit Thomas Arzt, Katja Brunner, Wolfram Höll, Rebecca Kriecheldorf, Thomas Köck, Anne Lepper, Philipp Löhle, Wolfram Lotz, Ewald Palmetshofer, Sascha Marianna Salzmann, Clemens Setz, Ferdinand Schmalz, Nis-Momme Stockmann, Ulrike, Syha, Felicia Zeller traten Autorinnen in Erscheinung, die von der Dramatik eine neue Kompromisslosigkeit verlangten, eine Unbedingtheit, die nicht austauschbar sein dürfe. Mit Erfolg forderten sie für ihre Stücke die großen Bühnen.

Weibliche Dramatik kommt auf den großen Bühnen - bis auf wenige Ausnahmen - kaum vor. Glücklicherweise verändert sich das gerade. Frauen und ihr Schreiben rücken immer stärker in den Fokus. Sowohl in der Wahrnehmung von Dramaturgie  und Regie als auch in der des Publikums. Und erst jetzt - mit ihrer verstärkten Sichtbarkeit - wird spürbar, wie sehr weibliche Wut und weibliches Verstehen, Wahrnehmung, Gespür, Sensibilität, Aggression und Auseinandersetzung bislang in der Dramatik und im Theater fehlten. Von Autorinnen wie Sivan Ben Yishai, Caren Jeß, Enis Maci, Maria Milisavljevic, Yade Önder, Magdalena Schrefel, Nele Stuhler, Miroslava Svolikova, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise mutig, radikal, komisch und unendlich befreiend schreiben, wird man zukünftig sicherlich noch viel hören.

Jedes Theater will Neues entdecken und pressewirksame Aufmerksamkeit erzeugen. Also plant es eine Uraufführung. Das funktioniert allerdings nur bedingt, weil das Feuilleton immer weiter in sich zusammenschrumpft. Für kleinere Uraufführungen interessiert sich kaum noch jemand. Nachgespielt wird immer seltener. Noch vor fünfzehn Jahren gab es aufregende Wettstreite unter den Theatern, welchem Haus es gelingen würde, ein Stück bestmöglich zu inszenieren. Heute ist daran kaum noch zu denken. Die Theater zucken förmlich zurück, wenn sie hören, dass die Uraufführung schon vergeben ist. Es muss immer um das Neuste, das Originellste, am besten das noch nicht Geschriebene gehen. Dabei wäre das erfolgreiche Nachspiel eine der unaufwendigsten und effektivsten Möglichkeiten zur Unterstützung deutschsprachiger Dramatik.
Denn erst das wiederholte Nachspielen eines Stückes gäbe den Autorinnen Zeit und Raum und finanzielle Sicherheit für das Schreiben neuer Werke. In den letzten Jahren zeigten einige Theater mit erfolgreichen Inszenierungen, wie groß die Durchschlagkraft von zeitgenössischer Dramatik im Nachspiel sein kann. Wie überall muss es auch hier um Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung gehen. Deutschsprachige Theater neigen dazu, das Potenzial deutschsprachiger Dramatik zu unterschätzen. Viele denken, dass „das Internationale“ im Zweifel besser sei. Dabei wäre es an der Zeit, eine Mitverantwortung zu übernehmen. Für Theaterstücke, die in und um und durch die deutsche Theaterlandschaft entstehen und immer weiter wachsen könnten. Es gibt zu wenig Bewusstsein für die außergewöhnliche, unangepasste Schönheit und den avantgardistischen Charme deutschsprachiger Dramatik. Es wäre ein Leichtes, stolz auf sie zu sein. Auf diese vibrierenden Theaterstücke, die so beständig auf der Suche nach Visionen und Rhythmus, Klang, Dissonanzen, Humor und Poesie sind und auch nach der schmerzhaften Schönheit von Kunst, die in ihrer Vielschichtigkeit  Hoffnung schenkt und Demut lehrt.
Auf die Härte und Knappheit, kantige Klarheit, Chöre, Textflächen, Abgründe und das zu ertragende Unerträgliche. Dramatik, die nicht einfach, sondern im besten Sinne irritierend ist. Erarbeitet muss sie werden - und erspielt. Vom Theater. Denn ohne Theater wäre Dramatik obsolet. Und ohne Dramatik bliebe das Theater still.
Gerade 2020 - in der kurzen Zeit der Öffnung zwischen den coronabedingten Theaterschließungen im Frühjahr und im Herbst – wurde berührend deutlich, was Sprache für uns sein kann, wenn darüber hinaus keine Berührungen mehr möglich sind. Formvollendete Sprache kann Sehnsucht überwinden helfen. Das ändert nichts daran, dass die Coronasituation für das Theater und seine Dramatik katastrophal ist. Aber es verweist auf etwas Elementares. Wenn die Theater wieder öffnen und das Publikum wieder schaut und hört und fühlt, wird es die Dramatik sein, die dem Gesprochenen seine Form gibt.Unzählige Formen, so viele wie das Leben selbst, wird es ihm geben, und sie werden das coronastumpfe Denken stimulieren und die Hirne vor Freude explodieren lassen. Denn Theaterstücke sind in ihrer Vielfalt die literarische Basis unserer noch zu führenden Gespräche. Sie sind unverzichtbar. Überall. Und immer.

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