STAFFELLAUF: EINDRÜCKE AUS DER WERKSTATT 
DEUTSCHSPRACHIGE GEGENWARTSDRAMATIK IN SÜDASIATISCHEN SPRACHEN

Barbara Christ
© Barbara walzer

Von Barbara Christ

Vierundzwanzig Übersetzer:innen aus ganz Indien und Sri Lanka haben sich in der letzten Januarwoche 2021 online versammelt, um über deutschsprachige Gegenwartsdramatik zu sprechen und gemeinsam an ihren Übersetzungen zu feilen. Unsere Werkstatt ist Teil des groß angelegten Projekts „Deutschsprachige Gegenwartsdramatik in südasiatischen Sprachen“, eine Initiative des Goethe-Instituts in Mumbai. Die ersten vier Tage, an denen ich unsere Gespräche moderiere, sind zwölf sehr unterschiedlichen Stücken von zwölf Autor:innen der Gegenwart gewidmet. Im Anschluss wird Roland Schimmelpfennig zwei Tage lang mit den Teilnehmenden an Übersetzungen seiner Stücke arbeiten.
 

Nach dieser Woche intensiver Textarbeit soll es weitergehen: Die fertigen Übersetzungen werden indischen Regisseur:innen vorgeschlagen und in szenischen Lesungen realisiert – später womöglich auch in vollen Inszenierungen.

Die Vorbereitungen laufen schon seit einem ganzen Jahr. Stücke mussten ausgewählt und gelesen, Teilnehmer:innen und Mentor:innen eingeladen werden, bis die Arbeit der Übersetzer:innen im Spätsommer 2020 beginnen konnte. Nun, ein halbes Jahr später, liegen fast fertige Übersetzungen vor.

Wie so viele Pläne auf der ganzen Welt mussten auch unsere in diesem Jahr 2020 pandemiebedingt immer wieder angepasst werden. So war ursprünglich vorgesehen, dass im November 2020 alle Teilnehmer:innen in Mumbai für die Werkstatt zusammenkommen. Als sich abzeichnete, dass das nicht gehen würde, wurde der Januar avisiert – bis sich schließlich zeigte, dass wir die Werkstatt nicht physisch durchführen konnten und in den virtuellen Raum ausweichen mussten.

Natürlich ist die persönliche Begegnung, das direkte Gespräch nicht zu ersetzen. Doch die Erfahrung – aus dieser Werkstatt und anderen Projekten – zeigt, dass Austausch auch digital möglich und sinnvoll ist. Und derzeit womöglich wichtiger denn je.

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Das vielleicht bedeutendste Festival für deutschsprachige Gegenwartsdramatik sind die „Stücke – Mülheimer Theatertage“. Es findet alljährlich in Mülheim an der Ruhr statt und umfasst neben den eingeladenen Gastspielen auch ein reiches Rahmenprogramm. Für das Festival sucht ein Auswahlgremium unter den Uraufführungen deutschsprachiger Gegenwartsdramatik einer Saison sieben oder acht Stücke aus. Sie werden dann in der, wie es heißt, „wirksamsten“ Inszenierung in Mülheim gezeigt und konkurrieren um den hochdotierten Dramatikpreis. Analog wird ein KinderStückePreis ausgelobt, der an eines von fünf ebenfalls von einem Gremium ausgewählte Stücke für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren geht.

Im Rahmen des „Stücke“-Festivals findet – dies nur am Rande – auch alljährlich die vom ITI Germany in Kooperation mit dem Festival und mit Unterstützung des Goethe-Instituts veranstaltete „Internationale Werkstatt Übersetzen“ statt. Hier kommen zehn Übersetzer:innen aus aller Welt für zehn Tage zusammen, um Einblick in die neuesten Entwicklungen der Gegenwartsdramatik zu gewinnen und sich über Tendenzen im Bereich der Regie und über strukturelle Veränderungen der Theaterlandschaft zu informieren.

An den letzten Jahrgängen der in Mülheim präsentierten Gegenwartsdramatik orientierte sich auch die Liste der vorgeschlagenen Stücke für unsere Werkstatt, wenn auch nicht ausschließlich. Ausgewählt haben die Übersetzer:innen – neben acht Stücken von Roland Schimmelpfennig – daraus die folgenden: Für das Junge Theater Der Löwe, der nicht bis drei zählen konnte von Martin Baltscheid, Dickhäuter von Tina Müller, Ich lieb dich von Kristo Šagor und Wie man die Zeit vertreibt von Simon Windisch und Ensemble. Für das Theater für Erwachsene waren dabei: Und dann kam Mirna von Sibylle Berg, Es wird einmal von Martin Heckmanns, Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, atlas von Thomas Köck, Mädchen in Not von Anne Lepper, Versetzung von Thomas Melle, die unverheiratete von Ewald Palmetshofer sowie Zweite allgemeine Verunsicherung von Felicia Zeller.

Übersetzt wurden sie teils von einer Person, teils von mehreren, in insgesamt sechs Sprachen: Bangla, Hindi, Marathi, Singhalesisch, Tamil und Urdu. Was für eine Vielfalt – eine Menge Stoff für vier Tage!

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Viele kennen Dramatik als literarische Gattung neben etwa dem Roman oder der Lyrik. Doch was bedeutet es, für die Bühne zu übersetzen, für das gesprochene Wort? Damit wollen wir uns vor allem beschäftigen.

Wir starten mit den Stücken für Junges Theater und richten den Blick zunächst auf die Frage, was uns erzählt wird und wie. Erstaunlich, wie unterschiedlich der Ablauf einer Handlung gestaltet sein kann. Ganz linear, mit komplizierten Schichtungen der Zeitebenen, konzentriert oder weitschweifig. Und wie groß die Vielfalt der sprachlichen Gestaltung – von Kraftausdrücken über saloppen Alltagsjargon bis hin zum feinen lyrischen Bild. All das gilt es in der Zielsprache umzusetzen.

Dann gehen wir ins Detail. Verständnis- und lexikalische Fragen werden geklärt. Was genau ist der Unterschied zwischen „Ich lieb dich“ und „Ich liebe dich“? Was muss man sich vorstellen unter einer „Stoßdämpferschicht“? Oder unter „Kotzeritis“? Und vor allem: Übersetzt man das alles auch in den kulturellen Kontext? Und wenn ja, wie? Welches Bild kann in Indien für das einer Münchner Brezel stehen? Fragen, die wir in der knappen Besprechungszeit nicht lösen, doch immerhin gemeinsam präzise stellen können. Was schon die „halbe Miete“ ist.

Nach und nach tun sich auch theaterpraktische Fragen auf. Wie ist es zu erklären, dass die Besetzung bei den Stücken für Junges Theater so klein ist? Und wie ist es möglich, dass drei Spieler:innen eine ganze Schulklasse darstellen? Wie kann man zeigen, dass die Figuren Löwen sind?

Es hilft, dass im Netz viel Anschauungsmaterial zugänglich ist, und wir tauschen uns darüber aus, wie man es am besten findet. Und ein Blick auf die Aufführungsgeschichte gehört natürlich auch dazu. Wer hat die Uraufführung des Stücks inszeniert und wo? Wurde es nachgespielt und wo? Kann man aus Kritiken, Fotos und Videotrailern etwas darüber erfahren, wie die Regie das Stück gelesen, verstanden und ins Bild gesetzt hat? Wie sehen die Bühnenräume aus, wie die Kostüme?

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Am dritten und vierten Tag haben wir ein sportliches Programm: Acht Stücke für das Erwachsenentheater von acht Autor:innen wollen wir besprechen. Zu Beginn des Seminars gebe ich jeweils einige Impulse zur Einordnung von Autorin und Stück in den Kontext des aktuellen dramatischen Geschehens. Im Gespräch reißen wir Fragen an, die uns wichtig erscheinen: Wenn wir kein Dialogstück, sondern eine Textfläche oder monologische Form vor uns haben – gehen wir dann beim Übersetzen anders vor? Und wenn ja, wie? Welchen Hintergrund hat es, dass Autor:innen ganz oder weitgehend auf Interpunktion verzichten? Sollte man beim Übersetzen Hilfestellung geben für Leser:innen? Übersetzen wir überhaupt für Leser:innen? Was macht unsere Übersetzung zu brauchbarem Material, mit dem man im Theater sinnvoll arbeiten kann? Gibt es Möglichkeiten, für die Theaterleute Details oder Entscheidungen zu erklären, die sich aus dem übersetzten Text nicht erschließen (können)? Gibt es Techniken, den Rhythmus der gesprochenen Sprache zu analysieren und nachzubilden? Wie finde ich in meiner Zielsprache das passende Register? Je länger wir über die Stücke sprechen, desto mehr nähern wir uns dem Theater an.

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Sehr hilfreich dabei sind die Beiträge unserer Gäste, die wir an zwei Tagen nach der Arbeit an den Stücken online bei uns begrüßen dürfen. Der erfahrene und renommierte Dramatik-Übersetzer, Regisseur und Literaturwissenschaftler Neil Blackadder aus den USA berichtet aus seiner Praxis. Wir erfahren, wie produktiv sich die – dem ersten Eindruck nach sehr unterschiedlichen – Perspektiven seiner Arbeitsfelder ergänzen. Auch hebt er hervor, wie entscheidend der Kontakt mit den Autor:innen ist, wenn man für das Theater übersetzt.Tags darauf berichten Sapan Saran und Sunil Shanbag aus ihrer Praxis der Regie. Plastisch beschreiben sie, wie der Theatertext buchstäblich „Raum gewinnt“ – wozu ein bezaubernder animierter Kurzfilm maßgeblich beiträgt. Wir verstehen, wie Theaterregisseur:innen den Theatertext lesen, wie sie ihn hören, den Spieler:innen vermitteln und umsetzen in ihre bildkünstlerische Fantasie.

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Wie im Flug gehen unsere vier Tage vorbei. Am Schluss haben wir noch kurz Zeit für ein Resümee. Die Teilnehmenden haben, so scheint mir, einen plastischen Eindruck gewonnen vom Übersetzen für das Theater und setzen diese Arbeit gern fort. Wir haben konkrete Fragen zu ihren konkreten Projekten besprochen und darüber hinaus den Blick geöffnet für den Theaterraum, in den sie ihre Texte entlassen werden, sobald sie fertig sind. Dort gibt es Praktiker:innen, die diese Texte nehmen, betrachten, befragen und schließlich sprechen werden.

Ein schönes Bild, der Staffellauf, mit dem ein Werkstatt-Teilnehmer die gemeinsame Arbeit von Autor:in, Übersetzer:in und Theaterpraktiker:innen beschreibt. Der Stab wird weitergereicht. Am Schluss gewinnt immer ein Team.
 

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