Adaption von Kafkas Der Prozess
Aber ist das Kafka?
Der Autor und Regisseur Anmol Vellani suggeriert in seinem auf Kafkas Der Process beruhenden Stück Innocence (Unschuld), dass Indien in jüngster Zeit immer kafkaesker geworden sei. Er fragt sich jedoch, ob die Anforderungen des Dramas und der indische Schauplatz es dem Stück nicht erschwert haben, die Dunkelheit, das Grauen und die Orientierungslosigkeit wiederzugeben, die Kafkas Prosa heraufbeschwört.
Von Anmol Vellani
Der Process als Inszenierung
Alle, die Franz Kafkas Der Process gelesen haben, werden sofort erkennen, dass er die Vorlage für Innocence ist, ein Stück, das ich mit Unterstützung des Goethe-Instituts Bangalore geschrieben und inszeniert habe. Auch wenn Innocence im Indien des 21. Jahrhunderts spielt, tauchen die Ereignisabfolge des Romanfragments, dessen Hauptfiguren und ihre Beziehungen und Interaktionen im Stück wieder auf.Ein Stück zu schreiben, das auf Material aus Der Process basiert, aber nicht einmal ein Drittel der Romanlänge umfasst, brachte Herausforderungen mit sich. Viele Episoden mussten gekürzt oder gänzlich gestrichen, einige Figuren mussten weggelassen werden. Manchmal erlegten mir die Anforderungen des Dramas auch noch andere Zwänge auf. So war es erforderlich, mehrere Figuren zu einer zu verschmelzen, die eine oder andere Szene oder das Zusammenspiel der Figuren zu erfinden, Material aus einer Romanszene in einer anderen Szene des Stücks unterzubringen und so weiter und so fort. Doch trotz dieser Eingriffe bleibt das Stück nah an der zentralen Handlung des Romans.
Die Romanatmosphäre heraufbeschwören
Es ist eine Sache, dem Rechnung zu tragen, was Kafka in Der Process beschreibt, und eine ganz andere, das einzufangen, was der Roman evoziert. Als ich Der Process zum ersten Mal las, sah ich eine unbarmherzige, düstere, beklemmende Welt in Schwarzweiß vor mir. Aber wer kann sich schon ein Indien ohne Farben vorstellen? Im Stück trat die sinnliche Lebendigkeit dieses Landes unweigerlich an die Stelle des Graus im Roman, während wir gleichzeitig versuchten, die beunruhigende und bedrohliche Stimmung des Romans mit anderen Mitteln zu erhalten, wie einer unheimlichen Klangkulisse und gebrochenem Licht.Ich entschied mich, das Stück als schwarze Komödie zu schreiben, und ein Freund, der selbst Theaterregisseur und Schauspieler ist, fand es „ungeheuer amüsant“. Doch genau aus diesem Grund war er besorgt, dass das Stück bei der Aufführung nicht das Grauen hervorrufen könnte, das der Roman auslöst. Das ist nicht von der Hand zu weisen.
Meine Wahl fiel auf eine schwarze Komödie, weil es eine Theatersprache ist, die wie Kafkas Romane und Kurzgeschichten eine Dissonanz zwischen Stil und Inhalt erzeugt. Kafkas schnörkellose Prosa lädt dazu ein, die darin geschilderten absurden und bizarren Ereignisse als alltägliche Begebenheiten zu erachten. Ebenso verhalten sich die Figuren in einer schwarzen Komödie so, als seien sie sich der Lächerlichkeit der Situationen, in denen sie sich befinden, nicht bewusst. Stattdessen behandeln sie das, was sie erleben, wie seltsam es auch sein mag, als etwas Normales und völlig Natürliches.
Die schwierige Aufgabe, das Unbehagen und den Schrecken des Romans hervorzurufen, lastet daher auf den Schultern des Schauspielers in der Rolle des Protagonisten. Er muss als Mann überzeugen, der anfangs zuversichtlich und entrüstet ist, allmählich jedoch verwirrt und verängstigt wird und schließlich in Apathie und Verzweiflung versinkt. Nur dann vielleicht wird das Publikum nicht urteilen müssen: „Sehr lustig. Sehr relevant. Aber ist das Kafka?“
Die Relevanz des Romans
Dem Publikum ist bei der Uraufführung von Innocence die Bedeutsamkeit des Stücks für das heutige Indien nicht entgangen. Obwohl ich Der Process im vergangenen Jahrhundert las und mir vorstellen konnte, den Roman auf die Bühne zu bringen, überkam mich erst 2017 das dringende Bedürfnis, das Textbuch zu verfassen. Zu jener Zeit wurde mir sehr bewusst, dass Indien auf befremdliche und bislang unbekannte Weise kafkaeskes Terrain betrat.So wurde 2017 ein "Programm" eingeführt, das vorgeblich Transparenz bei der Parteienfinanzierung gewährleisten soll, aber anscheinend auf das genaue Gegenteil abzielt. 2019 berief der damalige Oberste Richter Indiens einen richterlichen Ausschuss, der ihn selbst vom Vorwurf sexualisierter Belästigung freisprach.
Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen dem, was man als kafkaesk auffassen könnte, und dem, was sich direkt auf Kafkas Fiktion bezieht. Wenn das Informationsfreiheitsgesetz wiederholt durch Änderungen und andere Maßnahmen aufgeweicht wird, um die Aktivitäten der Regierungsbehörden der öffentlichen Kontrolle zu entziehen, wie könnte man da nicht an die Figuren in Kafkas Romanen erinnert werden, die durch ein undurchschaubares System entmachtet werden, das ihr Leben überwacht? Und wenn die Bürger*innen dieses Landes in Gewahrsam genommen werden, ohne über die Gründe für ihre Verhaftung informiert zu werden, wie könnte einem da nicht das erste Kapitel von Der Process in den Sinn kommen, in dem der Protagonist darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass er verhaftet ist, obwohl die Beweise für seine Schuld noch zu erbringen sind?
Zuweilen hatte ich eher das Gefühl, Mittler eines Dialogs zwischen dem Roman und dem Indien des 21. Jahrhunderts zu sein, als ihn für das Theater zu adaptieren. Das Bedeutungsspektrum des Romans erweiterte sich, als ich anfing, aktuelle Ereignisse in ihn hineinzudeuten. Gleichzeitig fanden beunruhigende Gesetzgebungs- und Verwaltungsakte einer Art, wie sie in Kafkas Roman nicht vorkamen, den Weg in das Stück und fügten sich ganz natürlich in seine Handlung ein.
Gleichgewicht zwischen Dichtung und Wahrheit
Ich musste vorsichtig vorgehen. Die Figuren und Situationen, die Kafka schildert, sind gleichzeitig vertraut und fremd, was zumindest teilweise ein Grund dafür ist, dass die Welt, die er beschreibt, zugleich betörend und befremdlich ist – sie verwirrt nicht nur die Figuren in seinen Geschichten, sondern auch deren Leserschaft.Damit das Stück die gleiche Wirkung erzielt, eine vertraute Fremdheit, die sich gleichermaßen aus unserem Wacherleben und unserem Traumerleben speist, musste ich eine Gratwanderung zwischen Kafkas Fiktion und dem zeitgenössischen Indien vollführen. Letzteres musste in Innocence eher flüchtig als in all seiner Besonderheit und Detailliertheit erscheinen. Hätte das Stück ein nur allzu bekanntes Indien nachgezeichnet, könnte es zu Recht erneut die provokante Frage aufwerfen: Aber ist das Kafka?
Zum 100. Todestag von Franz Kafka wurde dieser Artikel vom Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan für das Online-Projekt Kafka2024 erstellt.