Sprechstunde – die Sprachkolumne
Dialektik der richtigen Aussprache

Illustration: Zwei Personen mit Sprechblasen
Welche Rolle spielt das gesprochene Wort in der Internetsprache? | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Obwohl Millennials und GenZ gar nicht gern telefonieren, hat das gesprochene Wort im Internet für sie dennoch eine Bedeutung. Dirk von Gehlen über Avocados und Distinktion durch bestimmte Betonungen.

Von Dirk von Gehlen

„Like – wer das kennt“: Was außerhalb des Internets wie ein etwas missglückter Satzversuch klingt, funktioniert in sozialen Netzwerken als identitätsstiftender Aufruf. Meist folgt auf diesen „Kennt Ihr das?“-Einstieg die Beschreibung einer Alltagsbegebenheit, die sich auf unterschiedliche Weise lösen lässt. Je nach gewählter Option wird daraus eine persönlichkeitsbildende und verbindende Entscheidung – ausgedrückt mit einem Like und temporärer, aber inniger Einigkeit in genau dieser einen Sache: Butter unter die Schokocreme oder Schokocreme ohne Butter? Zuerst Milch oder zuerst Müsli in die Schüssel?

Wer telefoniert, wer chattet?

Aktuell werden diese Alltagsentscheidungen mit Identitätsbedeutung gerne bestimmten Altersgruppen zugeordnet: Boomer sind eine beliebte Abgrenzungszielgruppe für Vertreter:innen der so genannten Millennials und der GenZ, die sich vor allem dadurch auszeichnen, in Deutschland als „jung“ wahrgenommen zu werden, einander aber nicht sonderlich zu mögen bzw. zu verstehen. Zwischen den Alten (Babyboomer:innen) und den Jungen (ziemlich jung = GenZ und vor der Jahrtausendwende Geborenen = Millennials) werden häufig jene vergessen, die auf die Babyboomer-Generation folgten. Es ist die auch nicht mehr ganz junge Generation X, die heute quasi vom Seitenrand zum Ausgleich der Generationen beitragen kann.

Anschaulich lässt sich die Differenz der Generationen an der Verwendung eines Telefons illustrieren. Während die so genannte Babyboomer-Generation die Geräte tatsächlich zum Telefonieren nutzt und dafür ans Ohr hält wie einen Wählscheibentelefonhörer, sieht man Vertreter:innen von GenZ und Millennials äußerst selten in die Handys sprechen – und wenn, wird das Gerät horizontal so zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten, dass sie von vorn hineinsprechen können. In dieser Altersgruppe gibt es eine regelrechte Phobie gegen das klassische Telefonat. In der Generation X hat sich hingegen eine verstörende Mischform entwickelt, die die Nachteile des klassischen Telefonats (asynchrone Kommunikation, die stets unhöflich stört) mit den Nachteilen der Textbotschaft (fehlende direkte Nähe) verbindet: die Sprachnachricht.

Auf Boomer:innen wirken diese Audio-Botschaften wie verschickte Anrufbeantworter und sehr junge Menschen empfinden sie nicht selten als akustische Störung des text- und bildgetriebenen Austauschs im Chat. Ich möchte, dass diese Folge der Sprechstunde dennoch wie eine Sprachnachricht angesehen wird, denn es soll heute um das gesprochene Wort und seine Bedeutung für unsere Identität gehen.

Durch das Netz wurde eine Austauschform populär, die gesprochene und geschriebene Sprache organisch miteinander verbunden hat. So fällt vielen gar nicht mehr auf, dass ein Chat im Englischen eine Plauderei des gesprochenen Wortes bezeichnet. Im Netz wird geschrieben – im Geist des geplauderten Chats.

Die mittlere Silbe der Avocado

Das heißt allerdings nicht, dass das gesprochene Wort in der Internetsprache keine Rolle mehr spielt. Es ist im Gegenteil auch in digitalen Dialogen von großer Bedeutung. Denn die Art und Weise wie bestimmte Gegenstände bezeichnet und ausgesprochen werden, trägt – über Generationengrenzen hinweg – zu hoher Identitäts-Distinktion bei: „Like, wer auch Apfelkitsche sagt“ würde der Satz lauten, der Interaktionen zu dem Foto des Kerngehäuses eines Apfels anregen will. Diese Form der Dialekt-Distinktion betrifft die Internetsprache aber auch in ihrem eigenen Kern – also nicht nur in Bezug auf im Netz abgebildete regionale Identitäten.

Das Netz selbst hat sich der richtigen Aussprache schon vor einer in Webjahren gezählten Ewigkeit angenommen. Damals begannen auf Youtube solche Videos populär zu werden, in denen die korrekte Aussprache besonders komplizierter Begriffe vorgeführt wurde. Wie spricht man zum Beispiel die in Frankreich beliebten Butterhörnchen aus? In den späten Nullerjahren gab es zahlreiche Videos, die ihren Zuschauer:innen vorführten, wie diese korrekt „Croissant“ zu sagen haben, wenn sie in Frankreich nicht verlacht werden wollen.

Und da jeder Trend auch immer die Option zum ironischen Gegentrend in sich trägt, gab es wenig später zahlreiche Clips, die den Wunsch nach der korrekten Aussprache ad absurdum führten. Im deutschen Sprachraum hat sich der Account luksan-wunder schon früh um die richtig falsche Aussprache verdient gemacht. Aus dem Jahr 2015 stammt zum Beispiel ein Clip, in dem eine grüne Frucht sprachlich verballhornt wird, die nicht nur in hippen, urbanen Frühstückscafés als Brotbelag äußert beliebt ist. Das Avocado-Video von luksan-wunder besticht durch eine falsche Betonung auf der Silbe „wo“ in der Wortmitte. Das klingt, als würde jemand nur den Kern in der Mitte der Frucht nutzen und den Rest der Avocado wegwerfen: Falsch!

Distinktion durch Korrektur

Aber gerade diese falsche Betonung ist so etwas wie die Saat für weitere erfolgreiche Clips, die man aktuell in neuen Netzwerken ernten kann: Der Account diclassicx hat zum Beispiel im Frühjahr 2022 genau die gleiche falsche Aussprache der Avocado in einem Tiktok-Clip genutzt – und damit erstaunliche Reichweiten erreicht. Der Grund: die falsche Aussprache folgt dem so genannten Cunninghams Law: Dieses rät dazu, auf der Suche nach einer richtigen Antwort nicht eine Frage, sondern eine falsche Antwort zu posten – dann findet sich schon wer, die oder der sich korrigierend einmischt. Genau dieses Prinzip sorgt nicht nur für Distinktion („ich weiß es besser!“), sondern bildet auch die Grundlage für ein Muster, das ich die Glut-Theorie der politischen Debatte nenne.

Dieses Prinzip der Abgrenzung und Identitätsbildung funktioniert aber natürlich nicht nur bei gesprochener Sprache. Es lässt sich auch in Slang-Begriffen, Abkürzungen und – davon wird die nächste Folge handeln – in der Verwendung von Emojis finden. Wenn Sie dazu Fragen oder Anregungen haben, dürfen Sie sich gerne bei mir melden – in Form einer Sprachnachricht oder als klassische Mail an sprachkolumne@goethe.de
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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