Sprechstunde – die Sprachkolumne
Parasiten
Sprache kann entmenschlichen, Sprache kann sich aber auch fest an die Seite des vermeintlich Unnatürlichen stellen. Manon Hopf über Täterbegriffe und die dekonstruierende Gegenkraft der Poesie.
Von Manon Hopf
Wenn ich im Deutschen von Schädlingen, von Ungeziefer und Parasiten spreche, sind Begriffe wie Volksschädling nicht weit, nur einen Katzensprung entfernt. In diesem Sprung vollzieht sich eine Entmenschlichung, die unmittelbar und handgreifliche Wirkung nach sich zieht. Die Endung -ling kennzeichnet dabei – laut Digitalem Wörterbuch der Deutschen Sprache gelegentlich abwertend – eine Person, seltener eine Sache, die durch [nur] eine Eigenschaft oder ein Merkmal gekennzeichnet ist. Zurecht werden daher Begriffe wie Flüchtling, Häuptling oder auch Häftling zur Diskussion gestellt. Während tierische Schimpfworte wie Hasenfuß, Ferkel oder Esel noch harmlos oder sogar liebevoll anheimeln, wird der Ton bei Dreckschwein, Hund oder Ratte schon schärfer. Mit Volksschädling und Parasiten wurde im Deutschen eine ganz eigene Kategorie der Entmenschlichung geöffnet – dort, wo sie vor allem auf Jüdinnen und Juden angewendet wurden. Es ist ein leichtes, mit Beihilfe der Sprache aus Menschen Tiere zu machen, um sie herabzuwürdigen – und damit preiszugeben, tötbar zu machen, vogelfrei in einer Logik, in der ein anderes Tier jederzeit gewissenlos und straflos tötbar ist. In diesem Text werde ich von der deutschen Sprache auch explizit als Tätersprache Gebrauch machen, dort, wo ich nicht um sie herumkomme. So will ich verdeutlichen, wie sehr unsere Gegenwartssprache von dieser Gewalt durchzogen ist, in und mit dieser Gewalt die Gegenwart fortschreibt.
Sprache als Komplizin
Jede Sprache hat ihre Geschichte und mit dieser eine Verantwortung für die Gegenwart. Die deutsche Sprache hat eine besondere Verantwortung, sie hat sich [nicht nur in der Vergangenheit] als besonders mörderische Komplizin, als Mittäterin herausgestellt – und das wirkt bis heute. Und zwar nicht in irgendeinem abstrakten metasprachlichen Diskurs, sondern das hat ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben von vielen einzelnen Menschen. Denn Sprache, so abstrakt sie auch erscheint, existiert nie abgelöst von einem Körper, der sie spricht, und einem Körper, über den sie spricht, auf den sie abzielt, dem sie gilt. Irgendwo ist Sprache immer in diese Körper verwickelt, von ihnen durchwirkt, sie handelt von ihnen – und wirkt auf diese zurück, be- oder verhandelt sie. Ein Begriff ist etwas, das ein Gedanke, eine Hand zu umschließen versucht, zu begreifen. Und dieser Griff kann zum Würgegriff werden. Denn auch über Sprache sind Körper angreifbar, auch über Sprache lässt sich ein Leben verhandeln. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht in Artikel 1 des Grundgesetzes – und doch beginnt die Antastbarkeit der Menschenwürde oftmals genau mit der Sprache, die wir verwenden.Diese Entmenschlichung kann neben rassistischer und antisemitischer Logik auch einer kapitalistischen Klassenlogik folgen: Begriffe, die auf Menschen angewendet werden, die als eine vermeintliche Wohlstandsbedrohung gekennzeichnet, markiert werden sollen – beispielsweise politische Linke oder in Armut lebende Menschen: Parasiten, Zecken, [Sozial]Schmarotzer [von smorotzen, schmorutzen, schmorotzen = betteln]. Die sprachliche Entmenschlichung dient immer der Rechtfertigung und dem Vorwand entmenschlichenden Handelns – wo von einem Parasiten die Rede ist, kann und will gegen einen Parasiten vorgegangen werden. Sprache dient hiermit der Erniedrigung, dem Ausschluss und in letzter Konsequenz der Vernichtung ganzer Menschengruppen. Dieser Entmenschlichung muss immer und jedes einzelne Mal entschieden entgegengetreten werden – im alltäglichen Leben ebenso wie im Leben der Sprache. Denn wie Victor Klemperer in LTI – Notizbuch eines Philologen [Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reichs] schrieb: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Ceci n’est pas un parasite
Im antiken Griechenland verstand man unter einem Parasiten [von παράσιτος: Tischgenosse] noch einen angesehenen Bürger, einen Staatsbeamten, der an Opfermahlen im Tempel teilnahm. Später wurde er eine Figur in der griechischen Komödie – ein Possenreißer, der für ein Essen die Gäste auf Kosten der eigenen Person unterhält. Der Parasitos wanderte im 16. Jahrhundert in den deutschen Sprachgebrauch und bezeichnete erst hier abfällig jemanden, der auf Kosten anderer lebt. In die Botanik gelangte er im 18. Jahrhundert über das Englische, als Synonym für Schmarotzerpflanzen. Den Parasiten in dieser abwertenden Bedeutung überführt Johann Gottfried Herder wieder zurück auf den Menschen – und zwar auf Jüdinnen und Juden. Von hier ist es nicht weit zur nationalsozialistischen Ideologie, ihrer Sprache und den Nürnberger Gesetzen zur sogenannten „Rassenhygiene“.Während Millionen von Menschen deportiert und ermordet wurden, inszenierten sich die Nationalsozialisten auf der anderen Seite als große Tierfreunde. Bis heute sind sie für ihre vermeintliche Tierliebe und fortschrittlichen Tier- und Naturschutzgesetze bekannt, wie Jan Mohnhaupt in Tiere im Nationalsozialismus beschreibt. Ihre Gesetze umfassten, anders als beispielsweise in Frankreich und Großbritannien, erstmals auch Wildtiere. Aber nicht alle Tiere waren vor dem Gesetz gleich – die nationalsozialistische Logik unterscheidet auch hier gute von schlechten Tieren, das heißt vermeintlich brauchbare, nützliche, gehorsame oder starke Tiere von vermeintlich unbrauchbaren, unnützen, eigensinnigen oder schwachen. Während die Hundezucht im Nationalsozialismus richtig Fahrt aufnahm, galten Katzen als zwielichtige und fremde Tiere aus dem Orient. Tiere, denen kein „menschlicher“ Charakter anerzogen werden konnte, ganz im Gegensatz zu Hunden.
„Herrentiere“ und menschliche Tiere
Während manche Nationalsozialisten versuchten, das Image der Hauskatze etwas zu verbessern, indem sie auf ihren Freiheitsdrang und ihre Unzähmbarkeit – Eigenschaften eines sogenannten „Herrentiers“ – verwiesen, gelingt dieses Denken vor allem bei ihren größeren Verwandten: den Raubkatzen. Jeder im engen Führungskreis um Adolf Hitler hat seinen oder seine Hunde, Katzen hält jedoch niemand – außer Hermann Göring, der seine Löwenjungen mit der Flasche aufzieht, bis sie zu groß und gefährlich für die Haustierhaltung werden. Der „Reichsjägermeister“, nach dem im Übrigen auch der „Göring-Schnaps“ Jägermeister benannt ist, inszeniert sich als „fanatischer Tierfreund“. Die Nationalsozialisten verehren Raubtiere: Wölfe, aber eben auch Raubkatzen. Sie sind es auch, die die neuen Panzer nach Großkatzen benennen: „Tiger“ und „Panther“ sollen es mit den bis dato leichteren russischen Panzern aufnehmen können. Auch die Panzer-Großkatzen der Nationalsozialisten haben den Sprung in die Gegenwart geschafft – zuletzt kam der „Leopard 2“ im Diskurs über deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine zu einiger Berühmtheit.wenn nicht jede*r ein mensch ist
gibt es keine menschen
ich bin kein mensch
ich würde gerne einer sein
Mir geht es nicht darum, den Wert eines Menschen gegen den eines anderen Tieres aufzuwiegen – ein Mensch ist ein Mensch. Dort, wo kein anderes Tier gewissenlos und straflos getötet werden kann, dort, wo auch das Leben eines anderen Tieres wertgeschätzt und geschützt wird, dort, wo kein Ungeziefer, kein Schädling ausgemerzt [ggf. aus der Schafzucht von merzen = aus dem Handel ziehen, aussondern; oder merksen = kennzeichnen, markieren, vertreiben] werden kann, sollte auch kein Mensch zu diesem Ungeziefer, diesem Schädling gemacht werden können. Das ist meine un/mögliche Utopie – aber Geschichte und auch die Gegenwart zeigen eine ganz andere Realität.
Kritikwürdiges Vermenschlichen
Vielleicht ist es aber möglich, vorsichtig, behutsam, bedacht andere Tiere aus der Willkürlichkeit menschlich-ideologischer Interpretationen, der Willkürlichkeit menschlicher und vermeintlich moralischer Grenzziehungen zu holen – ohne wiederum Menschen ihre Menschlichkeit abzusprechen. Dort, wo ich anfange, anderen Tieren menschliche Eigenschaften zuzuschreiben und diese auf- oder abzuwerten, zu verteufeln oder zu romantisieren, zu idealisieren – dort ideologisiere ich. Andere Tiere existieren nicht allein in Bezug auf uns Menschen: Sie existieren für sich, außerhalb meiner Sprache. Es gibt viel Kritik an einer Wissenschaft, die andere Tiere zu sehr vermenschliche – und auch ich möchte das Vermenschlichen kritisieren, aber von einem anderen Blickpunkt aus: dem, der alles in Bezug zu diesem Menschsein setzt und dieses als unbestreitbare Größe, als Richtwert und [Blick]Richtung festlegt. Ich möchte die menschenausgerichtete Sprache umstülpen, den menschlichen Blick und seinen Machtanspruch durchkreuzen und fragen: Was ist der Mensch ohne ein anderes Tier? Was könnte das sein, ein anderes Tier ohne den Menschen? Möchte alle Begriffe zur Debatte stellen – Un/Mensch, Un/Tier, Un/Natürlichkeit…Poesie als Werkzeug
Aufzeigen, hinweisen, den Finger draufhalten, dekonstruieren, Möglichkeiten schaffen sowohl in Sprache als auch in Welt: Wirklichkeiten aufbrechen, auffächern, auch das wieder fallen lassen und wieder neu und erneut und auch hier: fragend, behutsam berühren – Poesie kann ein Werkzeug sein, Ideologien und Sprache zu unterlaufen, sie zu dekonstruieren. Sie kann Aus/Wege schaffen. Indem sie sich auf die Seite vermeintlicher Parasiten schlägt und Monster, auf die Seite vermeintlicher Un/Natürlichkeit, indem sie das Artige zugunsten des Unartigen, Abartigen, Andersartigen, Entarteten, Artvergessenen unterläuft und auch diese Begriffe dekonstruiert und weiter aushandelt, hinterfragt, untergräbt, transformiert. Poesie verwundert-verwandert-verwandelt und verhandelt Sprache und Welt in ihren Un/Möglichkeiten immer wieder neu. Ich möchte Poesie als Parasiten der Sprache begreifen. Möchte eine Lanze brechen für alle Wanzen und Läuse, für die Zecken und Parasiten, für Schmarotzer, Giftpilze, für alle un/möglichen Monster und Phantasien. Für das alles überwuchernde Un/Kraut der Poesie –bleiben dem winzigen riss
tief in den rachen blicken: auch im nichts
gibt es ein wort durch die ritze murmelnd
geflüstert
wo sind die totzonen der sprache
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.