Sprechstunde – die Sprachkolumne
Die endlos rote Rutschbahn runterrasen

Illustration: eine Person hält ein Blatt mit einem handgeschriebenen A in der Hand und deutet auf ein Plakat mit einem typografisch anders gestalteten A
Das Übersetzen ist die intensivste Form des Lesens | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Ulrike Almut Sandig ist nicht nur preisgekrönte Lyrikerin, sie übersetzt auch Gedichte ins Deutsche. Was ist daran herausfordernd? Welche Geschichte steckt hinter der Nachdichtung? Unsere neue Kolumnistin öffnet die Tür zu ihrer Werkstatt – und nimmt uns mit auf Weltreise, zuerst nach Neuseeland!

Von Ulrike Almut Sandig

Vielleicht gibt es zwei Arten des Lesens. Die eine ist die Suche nach Bestätigung des eigenen Weltbildes. Das hat seine Berechtigung. Es empowert. Die andere ist ein Suchen ohne bestimmtes Ziel, das einen mit echten Funden belohnt. Diese Art des Lesens befreit mich vom eigenen beschränkten Blick. Außerdem hat sie eine steile Lernkurve. Lesend begreife ich, wie es sich anfühlt, keinen deutschen Pass zu haben, der Mehrheitsgesellschaft nicht anzugehören oder auch nur: nicht ich selbst zu sein.

Übersetzen ist Lesen 2.0

Das Übersetzen ist für mich die intensivste Form des Lesens. Jedes einzelne Wort, jede sprachliche Form von allen Seiten betrachtend, entsteht im besten Fall ein Stück Literatur, das in meiner Muttersprache wie ein Original gelesen werden kann, und von dem ich gleichzeitig etwas erfahre, das es in meiner Kultur nicht gibt. Am intensivsten kann ich diese andere Perspektive in Gedichten entdecken. Im streng begrenzten Sprachraum sehe ich nicht nur die Welt mit anderen Augen. Ich höre, wie sie klingt.

Reise durch Raum und Zeit

Und Ihr auch! In den sechs Folgen dieser Kolumne stelle ich Euch sechs verschiedene Gedichte in Übersetzung vor. Unsere Weltreise geht kreuz und quer über den Globus - und weil Poesie manchmal auch Zeitmaschine ist, auch durch die Epochen. Das erste Gedicht bringt uns nach Aotearoa, Neuseeland.

Geschrieben hat es Hinemoana Baker, die ich 2012 auf einem astronomischen Kongress in Neuseeland kennenlernte. Als Tochter eines Māori geht Bakers Ahnenlinie auf die Ngāi Tahu der neuseeländischen Südinsel und die Ngāti Raukawa, die Ngāti Toa und die Te Āti Awa auf der Nordinsel zurück. Sie hat aber auch Vorfahren aus England und Oberammergau in Bayern.
 
Hinemoana Baker

Hinemoana Baker | Foto: Ashley Clark

2015 landete sie mit einem Creative-New-Zealand-Stipendium in Berlin, wo sie seitdem lebt. Statt Ozeanen und Kontinenten liegt zwischen uns heute der Gleisdreieck-Park, wo sie mich manchmal morgens auf meiner Hunderunde begleitet. Dabei erzählt sie mir auch von ihrer Zusammenarbeit mit europäischen Museen, die einen ethisch vertretbaren Umgang mit ihrem kolonialen Erbe suchen.

Poia weit, meine Poi, wania weit

Hinemoana erzählt mir, dass das Leipziger Grassi-Museum für Angewandte Kunst sie gebeten hatte, ein Gedicht auf ein Paar neuseeländische Poi in seinem Bestand zu schreiben. Ich erinnerte mich an die rasant anmutige Poi-Vorführung einer Gruppe Māori-Schülerinnen, der wir in den Tagen unseres Kennenlernens in Tolaga Bay, einem Dorf auf der Nordinsel Neuseelands, beigewohnt hatten.
 
meine poi
 
meine poi wippen wie punktierte viertelnoten
mit aufgepepptem apparat gespielt, den taktschlag
in flachs-plosiven minuten
mit der falschen uhr gezählt
meine poi knallen wie korken auf der babyparty
poia weit, meine poi, wania weit, meine poi
 
meine poi schnipsen und knipsen die scheinwerfer aus
sie kippen auf dem spielplatz um, drehwippen liebe kinder
meine poi schwingen ihre zöpfe, werden groß und
schuften in der notaufnahme, sag mal, in so ‘ner notaufnahme
kriegt man ja echt viele leute rein
die backen und die konten voller luft
 
ich lass es ihnen durchgehen, so stolz bin ich auf sie
meine poi sind weiche weiß/goldene, ungezügelte
welpen mit schlackernden pos, schmatzenden schnäuzchen
du keine ahnin, lachen sie poia weit, meine poi
lachen sie und lassen ihre matchboxautos wania weit
meine poi, die endlos rote rutschbahn runterrasen

Das Wirbeln und Bouncen der kleinen Bälle, Hinemoana hatte es rhythmisch nachgebildet! Auch die Sprache selbst wechselt spielerisch zwischen neuseeländischem Englisch und Te Reo Māori. Dabei greift sie ein Pātere auf, das im 19. Jahrhundert von Erenora Taratoa, dem Oberhaupt der Ngāti Toa Rangatira/Ngāti Raukawa, komponiert wurde. Pātere sind traditionelle Spottlieder, die als Reaktion auf eine Verleumdung oder eine abfällige Bemerkung gesungen werden. Das Pātere, aus dem sie hier zitiert, heißt Poia atu taku poi. Ich frage nach, was es bedeutet, und Hinemoana übersetzt mir seine ersten beiden Zeilen: Poia atu taku poi, wania atu poi …, etwa so: „Schwing weit, mein Poi / Titscher weit, mein Poi”.
 
REINVENTING GRASSI.SKD, GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig

REINVENTING GRASSI.SKD, GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig | © Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Die Backen und die Konten voller Luft

Im unbändigen Tanz ihrer Verse, rasant zwischen Englisch und Māori wechselnd, entdecke ich das Selbstbewusstsein einer indigenen Kultur, die trotz der sozialen Kluft ihrer Lebensrealität zu jener der Pakeha, Nachkommen der britischen Besatzer, stolz ihren Platz in der Gegenwart behauptet. Schwungvoll rast sie die endlos rote Rutschbahn der Zeit hinab. Und wohin? Natürlich mitten in die indigene Moderne hinein: du keine ahnin!

Tolaga Bay, Aotearoa Neuseland 2012

Tolaga Bay, Aotearoa Neuseland 2012 | © privat

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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