Sprechstunde – die Sprachkolumne
Funkeln in der Dunkelheit
2015 trafen sie sich zum ersten Mal – seitdem sind Ulrike Almut Sandig und der ukrainische Lyriker und Musiker Grigory Semenchuk künstlerisch fest verbunden. Was wird aus einem Gedicht, wenn man es übersetzt und verfilmt? Das zeigt unsere Kolumnistin – und weshalb darin ein Hase vorkommt.
Von Ulrike Almut Sandig
Im Jahr 2015 sprach mich kurz vor der Leipziger Buchmesse eine Mitarbeiterin vom Goethe-Institut Ukraine an. Wir trafen uns im Café Telegraph, wo sie mir eine Tafel Roshen-Schokolade über den Tisch schob und so mitreißend von ihrem Heimatland, damals noch regiert von jenem Großindustriellen, dem auch diese Schokoladenmarke gehört, erzählte, dass ich Lust bekam, es selbst zu entdecken. Dann kam der Frühling, und ich flog nach Kyjiw.
Zum ersten Mal: Grigory Semenchuk
Ich sollte auf der Buchmesse Mystetskyi Arsenal, die seit 2011 auf dem Gelände der ehemaligen Zitadelle Kyjiws stattfindet, mit einem Performancedichter, der auch elektronische Musik macht, ein Lesekonzert improvisieren. Wir trafen uns erst kurz vor dem Soundcheck. Grigory Semenchuk, Jahrgang 1991 und mit Sonnenbrille im Gesicht, und ich, zwölf Jahre älter und in meinen dünnen Klamotten frierend, wir verstanden uns auf Anhieb. Eine Stunde später spielten wir im Innenhof des Arsenals ein Konzert, auf das ich heute noch manchmal von Leuten, die dabei waren, angesprochen werde.Grigory Semenchuk lebt als Dichter und Musiker in Lwiw. Dort ist er auch in der Obdachlosenhilfe tätig und kuratiert außerdem das Festival Author’s Reading Month, ein jährliches Literaturfestival, das im Juli gleichzeitig in verschiedenen mitteleuropäischen Städten stattfindet. Seine literarische Sozialisation fällt mit der Maidan-Revolution 2013/2014 und dem versteckten Einfall russischer Truppen in die Ukraine zusammen. In vielen seiner früheren Gedichte ist dieses kollektive Trauma seiner Generation deutlich spürbar.
Sie schafft’s sicher nicht, weh – ringsumher Eis und Schnee
Unser erstes Album, das wir wenige Monate nach unserem ersten gemeinsamen Auftritt in Kyjiw aufnahmen, enthält ein solches Gedicht. Es erzählt von Vesna, dem personifizierten Frühling, wie sie im schicken schwarzen Lexus Einzug hält. Aber der tief verschneite Winterwald ist wie vom russischen Väterchen Frost verflucht und unbezwingbar:Die Frühlingsfrau mit ihrem heißen schwarzen Crossover Kombi,
Universal-Karosserie und Fünf-Liter-Motor im Leib,
wilde Tiere auf der Motorhaube und im Kofferraum, rauscht aus dem Wald.
Der Mond blitzt auf in den Fenstern, zum Soundtrack von Gespenstern.
(…)
Als wir 2016 in Berlin unser erstes Video produzierten, hatte ich den spontanen Einfall, die Frühlingsfrau in einen Hasen zu übersetzen. Sie irrt durch einen nächtlichen Winterwald am Wannsee und findet einfach nicht, den sie sucht. So übertragen wir die Gedichte nicht nur in die andere Sprache, sondern auch in andere Medien. Ich finde, gerade die Verfilmung macht dieses Gedicht so universell, wie Poesie es in ihrem Kern auch ist.
Wie den Verstand nicht verlieren
Auch in diesem neuen Text von ihm kehrt jemand um, nachdem er sich in einer mit Glatteis überzogenen Stadt umgesehen hat. Dieses Mal ist es Gott selbst, und an seiner statt übernimmt das Gedicht selbst die schwere Aufgabe, Kraft und Trost zu schenken.der Warnton schrillt übers Kirchenportal
als habe im Inneren plötzlich
Gott Einzug gehalten
die Stadt ist mit Glatteis überzogen
die bunten Fenster des Gotteshauses
funkeln in der Dunkelheit
ich frage mich, ob er wirklich
in dieser von Baggern zerfurchten
Straße ankam
ob er den dunklen Februar erhellte
uns vom Himmel aus bedeckte
mit seinem ewigen Licht
uns erklärte, was als nächstes passieren
wo man Kraft finden würde
wie den Verstand nicht verlieren
ob er die Schlichten beruhigen
den Klugen erklären
die Durchschnittlichen nicht anrühren würde
der Warnton legte sich wieder
vielleicht war es alles
falscher Alarm
er kam oder kam nicht
er sah um sich und merkte
dass es nicht an der Zeit war
Während ich diese Kolumne schreibe, poppt eine Nachricht in meinem Handy auf. „Hi dear, I am in Chemnitz!“ Übermorgen kommt Grigory vorbei, und wir essen, trinken und schmieden Pläne. Der Krieg wird uns nicht davon abhalten, ein neues Album aufzunehmen.
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.