Migration – Emigration – Flucht
Zerlegt sich der Kontinent gerade wieder?

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Aman,
 
ich war heute wieder am Lageso. So heißt die offizielle Stelle in Berlin, wo die Flüchtlinge sich registrieren müssen. Landesamt für Gesundheit und Soziales. Abgekürzt Lageso.

Genauso wie Pegida. Und Hogesa. Es ist der Herbst der Abkürzungen mit sechs Buchstaben. Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Das heißt das eine. Und Hooligans gegen Salafisten.

Das sind die beiden Sechs-Buchstaben-Schreckensgruppen, die Deutschland verändert haben. Vor allem Pegida, die jeden Montag durch Dresden laufen und sich immer weiter radikalisieren. Sie tragen Schilder, auf denen steht "Volksverräter", sie haben einen Galgen dabei, den sie für Angela Merkel bereit halten.

Und gestern habe ich zwei Kolumnen gelesen haben, die von einem "Putsch" gegen Merkel sprachen. Das ist die Stimmung gerade in Deutschland. Während im "Economist" von der Vorbild-Europäerin Merkel gesprochen wird, was auch nicht stimmt, arbeiten Politiker der CDU und Berliner Politikjournalisten mit Beißreflex daran, Merkel aus dem Amt zu drängen.

Aber wofür? Und warum?

Zurück zu Lageso. Ich war zum ersten Mal Ende des Sommers dort. Die Menschen dort waren ruhig, sie waren müde, sie hatten es geschafft. Sie waren in Deutschland. Es waren etwa 400, würde ich sagen, die darauf warteten, dass sie eine Nummer bekamen, mit der sie dann wieder warteten, um einen Termin zu bekommen für einen Antrag, auf dessen Bearbeitung sie dann wieder warten mussten.

Schon das war merkwürdig. Selbst in Berlin, wo vieles nicht klappt, ein Flughafen etwa, der statt 1,1 Milliarden Euro nun 5,4 Milliarden Euro kosten soll und womöglich nie fertig wird.

Ist das Deutschland, fragten sich manche, das Land, wo alles pünktlich ist und alles klappt, so das Klischee?
Ist das Deutschland, fragten sich viele, als sie die Bilder von Lageso sahen, ein paar Wochen, nachdem ich dort gewesen war, Ende September, Anfang Oktober?

Es waren Bilder des Schreckens, Bilder der Verzweiflung, Bilder des Elends. "Das ist schlimmer als in der Türkei, schlimmer als in Ungarn", sagte ein syrischer Flüchtling, "wenn ich das Geld hätte, ich würde zurück gehen."

Ich war dort, eines morgens, um mir die Szenen anzuschauen. Halb sechs. Dunkelheit. Schon von weitem sind die Gestalten im Schatten zu sehen. Sie stehen auf der Straße, zehn, 20, 200, mehr. Auf der einen Seite die Männer, auf der anderen Seite Frauen, Kinder, Familien.

Um sechs wird das Tor geöffnet. Die Menschen stürzen los, um den besten Platz zu ergattern, sie wollen diese Nummern, sie brauchen diese Nummern, es geht alles um die Nummern, als ob man im 21. Jahrhundert nicht auch über das Internet all das regeln könnte, was hier nicht klappt. Jeden Morgen die gleichen Szenen, Krankenwagen, die die Verletzten dieser Wahnsinnssituation wegfahren.

Womöglich soll hier gar nichts klappen. Es gibt Geschichten von Korruption im Lageso, es gibt Geschichten der Gewalt von Sicherheitsleuten gegen Flüchtlinge, es gab einen Jungen, Mohamed, der in dem Chaos verloren ging und erst Wochen später wieder auftauchte, missbraucht und ermordet.

"Wir schaffen das", das ist es, was Angela Merkel gesagt hat. Die Hilfe und die Offenheit von weiten Teilen der Bevölkerung spiegeln das.

"Wir schaffen das nicht", das ist die Stimmung, wie sie gekippt wurde, von Medien, von Politikern. Die Bilder wie die vom Lageso sind nützlich, um zu zeigen, dass es nicht geht.

Das Chaos ist künstlich produziert, so scheint es oft, so sagen es manche. Das Chaos zeigt, dass wir es nicht schaffen.
Und das ist der Punkt, an dem ich kurz zusammengezuckt bin, als ich deine Mail las. Ich dachte, ja, du hast recht, ja, das ist der Blick, den ich vorführen wollte, Gestalten ohne Würde, ohne Zivilisation, das ist das Bild, das erzeugt werden soll, weil es manipuliert werden kann, um eben die Flüchtlinge zu entmenschlichen und zu reduzieren und zu einer abstrakten Größe zu machen, zu einer Zahl.

Ich wollte dir diesen Mechanismus vorführen. Und merkte auf einmal, dass ich vielleicht stärker von dieser Sicht, von diesem Blick, von diesem Denken geprägt bin, als ich dachte.

Du sprichst von Staat, von der Nation, von den Hüllen, die die Europäer dem Politischen verpasst haben – und du sprichst kritisch davon. Du sagst, dass das altes Denken ist, dass das gefährliches Denken ist. Und du hast Recht.

"Was der Linken verloren gegangen ist, ist die Utopie des Internationalismus", sagte neulich beim Mittagessen mein Freund Nils. Wer an die Nation glaubt als Lösung für irgendetwas, der hat schon verloren.

Warum klang es aber für dich so, als wollte ich das suggerieren? Oder habe ich es sogar so deutlich gesagt?

Andererseits: Der Staat, so wie er gerade existiert, funktioniert womöglich besser als die supranationalen Konstruktionen, die EU etwa, die in Egoismen zerfällt.

Aman, wie siehst du eine ideale Ordnung? Was siehst du für die Zukunft? Was kann Europa lernen, von Indien, von anderen Gegenden der Welt?

Was Europa ja gerade erlebt, ist eine Renationalisierung nicht nur des Denkens, sondern der Politik. Egoismen. Volkspsychologische Mutmaßungen. Alte Rollenspiele.

Es ist schrecklich. Es ist, als würde man durch einen Boden brechen und merken, dass es kein Netz gibt, nichts, was hält und einen aufhält.

Zerlegt sich der Kontinent gerade wieder, vor unseren Augen? Manchmal scheint es so. Das Dramatische daran ist allerdings fast weniger, wie du richtig sagst, dass er sich zerlegt, dramatisch genug – das wirklich Dramatische ist, dass es eine Leere im Denken gibt, eine Ratlosigkeit des Handelns, die du aus der Distanz sehr gut und genau und besser als ich beobachtet hast.

Du hast mich, in gewisser Weise, erwischt. Du hast bei mir etwas festgestellt, das ich nicht sehen will. Ich wähne mich außerhalb einer Gedankenwelt, die nur noch von "Notwehr" und "Invasion" und "Maßnahmen" redet. Gerade wurde beschlossen, dass syrische Flüchtlinge nur einen provisorischen Aufnahmeschutz bekommen und ihre Familien nicht dorthin nachkommen dürfen, wo sie geschützt wären.

Sie sollen im Krieg bleiben, in Not und Elend. Wie kann ein Land diesen moralischen Makel überstehen? Solch eine Entscheidung?
Aber bin ich selbst so weit von dieser Haltung entfernt? In deinen Worten schien eine selbstverständliche Utopie auf, die ich so vermisse. Es ist im Dauerfeuer der Berichte hier kaum noch möglich, so scheint es manchmal, den Kopf zu heben und die Situation klar zu betrachten und sich selbst in diesem Szenario zu sehen, eine Figur unter anderen.

Du hast von Abdul erzählt, der ein "Mentch" ist, wie mein Freund Igor sagen würde, yiddisch für Mensch; er ist ein Musafir, so nennst du ihn, und es ist gut, dass du mir von ihm erzählt hast, denn natürlich ist die Würde in ihm, ist die Möglichkeit in ihm, ist die Schönheit und die Freiheit in ihm.

Wir aber wollen aber die Menschen, die kommen, als Schwache sehen. Wir wollen sie als Masse sehen. Wir wollen sie wohl auch als Erniedrigte sehen, denen wir von unserer Gnade aus wieder etwas Würde zurückgeben können.

Wir, wir, wir.

Wer ist dieses Wir?

Das ist der scheußliche Gedankengang, auf den du verwiesen hast. Es ist eine sehr westliche, europäische, deutsche Sicht. Es ist der Egoismus der Kolonisatoren. Es ist die Bürde des weißen Mannes, wieder und wieder.

Abdul, das Rätsel, der Mann, der in knallbunten Fahrradklamotten über die deutsch-schweizer Grenze kam, der hier glücklich wurde und wieder nicht, weil Glück eine Zuschreibung ist und kein Zustand, dieser Abdul, der wieder verschwand, wer weiß schon, wohin – dieser Abdul ist Existenz im emphatischen Sinn.

Nicht in diesem mitleidig bedrohten, bedrohlichem Tonfall, in dem über die Masse der Flüchtlinge gesprochen wird, als Wesen, die in der Passivität, in der Unmündigkeit verharren.

Das Gefährlichste, so scheint es, das Normalste auch ist der Mensch in dem, was er tut. Frei und selbstbestimmt.
Dieser Mensch ist die Bedrohung. Für jede Ordnung.
Danke, dass du mir das mit der Geschichte von Abdul wieder einmal gezeigt hast.

Im Lageso übrigens war es heute sehr ruhig. Ich werde versuchen herauszufinden, warum das heute so war und was sich geändert hat. Und werde dir berichten.

Sehr herzlich, wie immer,
Georg


Berlin, den 11. November 2015

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