Migration – Emigration – Flucht
Wer hat Europa verraten?
Lieber Aman,
eigentlich wollte ich dir von Idomeni erzählen, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass ich nicht mehr weiß, wie das geht.
Vielleicht ist zu viel passiert. Eines ist jedenfalls klar: Europa droht zu zerbrechen, das vereinigte, das vielversprechende, das Nachkriegs-Europa, und ein wesentlicher Grund dafür ist der Hass auf die Flüchtlinge.
All das, wovon wir gesprochen haben, die Realität der Not und der Flucht, ist zu einer Realität der Politik und der kommenden Geschichtsschreibung geworden. Die Politik wird damit eingeholt von ihrem eigenen Versagen, die historische Zäsur des Brexit ist das Ergebnis der Entsolidarisierung, die sich im vergangenen Jahr so beschleunigt hat.
Aber soll ich darüber reden?
Über den zynischen Spieler Boris Johnson, den Meuchelmörder Michael Gove, den schamlosen Lügner Nigel Farage, soll ich über den Schock reden all derer, denen man ihre Gegenwart weggenommen hat und ihre Zukunft, als sei sie ein Spielzeug, so leicht ging das?
Oder soll ich von Menschen wie Bachir reden, der an einem Zaun lehnt?
Er ist Mitte 20, aber sein Leben ist angehalten. Full Stop. Er ist am Ende eines Weges, der ihn aus Aleppo hierher geführt hat, in dieses Lager am Rande von Thessaloniki, wo er Jahre warten wird, wo er wird in einem Zelt schlafen wird, das in einer Betonhalle steht neben anderen Zelten, ein Betonhof davor, ein Zaun drum herum und Felder und die Autobahn.
"Fuck Europa", sagt er. Das Handy, das er in der Hand hält, ist zerbrochen. Es war seine einzige Verbindung zur Welt. Es war seine Hoffnung.
Wer also hat Europa verraten? Und wen verrät Europa? Und wie hängt das beides zusammen?
In Idomeni habe ich die Menschen gesehen, denen Europa die Hilfe aufgekündigt hat, die Menschen einander doch schuldig sein. Dieses Helfen, meine ich, ist die Grundlage Europas, der Humanismus.
Es war ein schöner, sonniger Tag, das Grün der mazedonischen Ebene war überwältigend, die Berge in der Distanz waren weiter weg, als es schien, denn zwischen den Menschen, die hier entlang der Bahngleise campierten, und dem Europa, das sie suchten, war ein Zaun aus Stacheldraht, der silbern in der Sonne glänzte.
Ich war mit meinem Freund Igor gekommen, ein Pianist, der so wütend und frustriert ist wie ich, wie hart und herzlos so viele Menschen um uns herum geworden sind, wie ängstlich, nationalistisch, staatstreu in einem Sinn, dass der Sinn des Staates der Schutz der Bevölkerung vor dem Leiden der Welt ist.
Ich habe das nie so gesehen, und wenn das die Grundlage dieser Ordnung wäre, dieser Demokratie, dann würde ich sie nicht wollen, diese Ordnung, diese Form der Abschottungs-Demokratie. Ich glaube, der Staat hat seine Funktion in der Humanität, und dieser Gedanke schließt es aus, dass er nur für wenige Glückliche gilt.
Das Camp wirkte friedlich, als wir dort waren, die Kinder, die dort spielten, sahen elend aus, die Augen der Erwachsenen starrten in die Ferne, ein paar Händler verkauften Tomaten und Zigaretten, einige Helfer verteilten Tee, es gab Duschen und Toiletten, die Friedlichkeit dieser Szenerie war auf Lügen und Not gebaut, aber die Menschen, das schien ihre Hoffnung zu sein. waren wenigstens noch auf einem Weg.
Am nächsten Tag änderte sich das. Am nächsten Tag wurde das Camp geräumt. Wir versuchten, über Nebenstraßen zum Camp zu kommen, und verfuhren uns in den Hügeln. An der Kreuzung vor Idomeni dann stoppte uns die Polizei. Gesperrt, auch für Presse. Mitten in Europa. Ist die Pressefreiheit nicht unverzichtbar, eine der Grundlagen unserer Vorstellung einer freiheitlichen Demokratie?
Und was passiert, wenn man sie einfach aussetzt? Wir parkten das Auto auf einer Brücke und stiegen einen Abhang hinunter zu vier Männern, die hier am Bahngleis kauerten. Sie kamen aus Libyen, sagten sie, sie hatten sich in den Wäldern versteckt und wollten zurück ins Camp, das es nicht mehr gab.
Sie wollten nur noch schlafen, sagten sie.
Wir folgten dann noch den Bussen, die die Flüchtlinge an die neuen Orte bringen sollten, alte Lagerhallen, Brachflächen, Industrieruinen. Ein paar Soldaten, einige Helfer, ohne die nichts gehen würde. Ein bis zwei Jahre, so heißt es, würden sie hier warten müssen, bevor ihre Anträge bearbeitet werden, bevor überhaupt etwas passiert.
Auch die Zeit wird zum Feind in so einer Situation. Er würde zurück in die Türkei, sagte Bachir, wenn er könnte, aber auch dieser Weg ist ihm nun verbaut.
Wenn ich mich an unser Treffen hier in Berlin erinnere, wir saßen in der Kantine des Gorki-Theaters, dann erscheint mir dieses Treffen so sehr weit weg. Ich sehe uns, driftend im Sog der Zeit.
In diesem Theater, das nach Maxim Gorki benannt ist, gab es vor Kurzem eine Theater-Performance, bei der es darum ging, den Abschottungs-Irrsinn Europas zu benennen - es gibt eine deutsche Gesetzesrichtlinie aus dem Jahr 2001, die vorsieht, dass Flugunternehmen, die Menschen ohne Visum transportieren, dafür bestraft werden.
Diese Unternehmen werden damit zu Aufgaben gedrängt, die staatlich sind. Die Folge dieser Richtlinie ist, dass Flüchtlinge nicht für 80 Euro nach Deutschland oder ein anderes europäisches Land fliegen können, wie Igor und ich, sondern für mehrere Tausend Euro auf wackelige Gummiboote steigen müssen.
Die Toten im Mittelmeer sind die Toten Europas, die Toten der Bürokraten, die Toten der Parlamente.
Die Aktion wurde kritisiert, sie sei zynisch, weil es darum ging, ob sich Flüchtlinge von Tigern fressen lassen würden, in einer Arena vor dem Theater, wenn nicht ein Flugzeug mit Flüchtlingen unter Umgehung der besagten Richtlinie nach Berlin kommen dürften.
Die naheliegende Frage ist: Was ist zynischer, die Kunst oder die Realität?
Tatsache ist: Europa hat sich an die Flüchtlinge gewöhnt, an die Toten gewöhnt. Die Geschichten werden weniger, die Ruhe kehrt zurück, die brutale Ruhe, und die Angst der eigenen Bevölkerung, die angeblich massenhafte Angst wird wichtiger als die sehr reale und sehr konkrete Angst der Flüchtlinge.
Das ist die Geschichte von Idomeni. Die Menschen sollten verschwinden, weil die Bilder verschwinden mussten. Die Bilder mussten weg, also mussten die Menschen weg. Bilder kann man nicht einsperren, Menschen schon.
Wir leben in finsteren Zeiten, Aman. Oder bin ich zu pessimistisch?
Fragt, wie immer, herzlich,
Georg
Berlin, den 6. Juli 2016