Lettland und das Erbe der Sowjetunion
Die Erinnerung spricht für uns, bis wir den Anderen hören

Freiheitsdenkmal in der lettischen Hauptstadt Riga
Freiheitsdenkmal in der lettischen Hauptstadt Riga: Symbol für die nationale Souveränität. | Foto (Detail): Melanie Kintz © picture alliance / Westend61

Seit 1990 ist Lettland nach Jahrzehnten der Zugehörigkeit zur Sowjetunion wieder ein freier Staat. Deniss Hanovs, gebürtiger Russe und seit 20 Jahren lettischer Staatsbürger, fragt: „Wer bin ich für meine lettischen Landsleute, die die sowjetische Besatzung überlebt haben? Was muss ich tun, um akzeptiert und ein Teil von Lettland zu werden?“ Eine gemeinsame Zukunft in Freiheit ist für ihn vorstellbar – wenn man den Schmerz der Anderen sieht.
 

Von Deniss Hanovs

Am 24. Februar 2022 brach die Welt, in der ich 44 Jahre verbracht hatte, zusammen. Am Morgen desselben Tages, an dem Wladimir Putins Armee die Ukraine angriff, war bei mir eine Vorlesung für meinen Kurs in Kulturgeschichte geplant. Danach stand ein Vortrag über das Zeitalter der Aufklärung auf dem Programm, eine Epoche, in der der Glaube vorherrschte, dass der Mensch und die Menschheit durch die Entwicklung des Geistes, durch ständige Bildung besser werden könnten. Der Glaube, dass die Gesellschaften eines Tages zivilisierter werden könnten, sollte gemäß Immanuel Kant zum Erwachsenwerden des Bewusstseins führen: Der Geist sollte sich von den Gespenstern der Macht und Kontrolle befreien, die die Freiheit des Einzelnen einschränkten. Ein evolutionärer Prozess, dazu angetan, einer aufgeklärten Weltgesellschaft die Idee des ewigen Friedens näherzubringen.

Der lange Weg zur Vernunft

Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, die Vorlesung am 24. Februar zu beenden. Mozart, der kurz vor seinem Tod das Singspiel Die Zauberflöte geschrieben hatte, war meine Rettung. Ich erzählte den Studierenden das Märchen, das der freimaurerische Komponist und erfahrene Theaterimpresario Emanuel Schikaneder erfunden hatte, der wusste, wie man das Theaterpublikum in den Bann zieht:

Auf der Bühne verirrt sich Prinz Tamino im Wald und wird von einer monströsen Schlange gejagt, doch die wahren Ungeheuer und Gespenster waren im Kopf des Prinzen verborgen. Die intellektuelle Erleuchtung, die Befreiung von Vorurteilen und die Angst vor dem Anderen haben den jungen Mann auf einem langen, von Zweifeln begleiteten Weg zum Tempel der Sonne, der Gerechtigkeit und der Vernunft geführt.

Die Sonne ist Ende Februar hinter dem Horizont des 21. Jahrhunderts untergegangen, und nun muss ich, ein in Lettland lebender Russe, in einer neuen langen Nacht meinen persönlichen Weg der Trauer, der Angst und des Zweifels, der Ablehnung, des Vergessens gehen. Ich muss die Risse und Brüche im lettischen Kulturraum erspüren.

Suche nach Akzeptanz

Wer bin ich für meine lettischen Landsleute, die die sowjetische Besatzung und die mehrfachen Deportationen in den 1940er-Jahren überlebt haben? Ein Teil des heutigen Russlands, ein Nachkömmling ehemaliger sowjetischer Besatzer in einer Welt, in der die Sowjetunion wiederbelebt wird? Ein Teil von Lettland, aber ein Anderer und Unbekannter, der vor 20 Jahren lettischer Staatsbürger wurde, für immer „Nicht-Lette“? Wie, wem und unter welchen Bedingungen kann ich von meinen Traumata erzählen, die, wie die der Letten, heute Teil von mir sind? Werden meine Kultur, meine Sprache, meine Identität und mein kollektives Gedächtnis akzeptiert oder abgelehnt? Was muss ich tun, um akzeptiert und ein Teil von Lettland zu werden?

Es gibt so viele Fragen und so wenige Antworten, und noch weniger Lösungen und Mittel zur Überwindung der gegenseitigen Entfremdung in der heutigen lettischen Gesellschaft, die noch immer so lebt, als sei der Zweite Weltkrieg nicht zu Ende. Dieser Krieg hat die baltischen Staaten von Europa entfremdet. 1940, in der schönsten Phase des Sommers, kam der Winter. Panzer rollten in Riga ein, der Hauptstadt des unabhängigen Staates. Die Viehwaggons füllten sich in der Nacht mit Menschen, mit ihrer Angst, ihrer Trauer und ihrer unterschwelligen Wut. Die Zerstörung von Schicksalen, Erinnerungen und Körpern begann auf dem kleinen Bahnhof in Riga. Die Menschen wurden in die Deportation, in den Tod, in das Schweigen, in das durch den Totalitarismus erwirkte Vergessen getrieben. Sie brachten Letten, im Zuge der Revolution emigrierte Russen und Juden nach Sibirien. Tausende verschwanden in diesen Zügen bis Ende der 1980er-Jahre, als sich dank der Perestroika die muffigen Archive der Lügen öffneten und die Monstrositäten der sowjetischen Politik ans Tageslicht brachten.

Der Schmerz der Anderen

Meine Familie war besessen von den Verbrechen des Stalinismus. Ich war zehn Jahre alt, als ich mich kopfüber in dieses verdrängte Thema stürzte. Als Student erfuhr ich zum ersten Mal von dem schrecklichen Schicksal meiner lettischen Klassenkameraden und ihrer Großeltern, die nach 1945 ein halbes Jahrhundert lang in Angst vor Denunziationen, Repressionen, Verhaftungen und Deportationen lebten. Schon an der Kulturakademie wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass die einzige Möglichkeit, mein eigenes Selbst zu bewahren, darin besteht, den Schmerz des Anderen zu entdecken. Das Trauma des Anderen kann keine leichtere Version aufweisen. Der Schmerz ist schrecklich wegen all der Dinge, die ihn hervorrufen – Wut, Ungerechtigkeit, Willkür, Verrat und die Tatsache, dass unsere lettischen Landsleute jahrzehntelang gezwungen waren, zu schweigen und sich selbst zu belügen. Deshalb brachte die Freiheit, die 1990 die Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit Lettlands wiederherstellte, im folgenden Jahrzehnt eine heftige „Explosion“ kollektiven Schmerzes und Zorns in mein Leben und das meiner russisch-ukrainischen Familie. Unser Dasein änderte sich schnell und dramatisch. Aus der fast privilegierten Gruppe der „großen russischen Bruderschaft“ fanden wir uns, die wir kaum Lettisch sprechen und nichts von den Wendungen der Geschichte der späten 1980er-Jahre verstanden haben, in der neuen Welt der gestohlenen lettischen Geschichte und Landsleute wieder.

Seitdem suche ich, wie Mozarts Prinz im dunklen Wald, den Weg, der mich zur lettischen Geschichte führt, zum Raum des Schmerzes des Anderen. Der Weg ist lang und beschwerlich, mit Abgründen, Populismus-Fallen und radikalen Versuchungen auf dem Weg. Und es gibt keine weisen Priester wie bei Mozart, niemand kann schnell das Geheimnis lüften und sagen, wie es wirklich war. Man muss sich selbst mit der traumatischen Geschichte des Anderen auseinandersetzen und es bleibt einem überlassen, ob man es herausfindet oder im Dunkeln bleibt.

Dabei kann eine persönliche Begegnung mit der Geschichte des Anderen – Memoiren, Erzählungen, Erinnerungsfragmente – das leisten, was die akademische Geschichte nicht leisten kann: eine Begegnung mit der stillen Trauer eines Opfers einer totalitären Vergangenheit. Die alte Frau, die die Titelseiten aller Bücher in ihrer Bibliothek mit dem Erscheinungsjahr des „vorsowjetischen“, also falschen und gefährlichen Lettlands herausgerissen hat: Das war die Tür zu einem Tempel, in dem der Schmerz nicht zur Ursache von Feindseligkeit oder politischer Manipulation durch radikale Parteien werden kann, sondern Auftakt für eine Begegnung mit Vergebung, Akzeptanz und persönlicher Freiheit bezogen auf die Fallen der eigenen Geschichte, die immer auch einen Anteil an Mythenbildung und Konstrukten hat.

Reue ist Übernahme von Verantwortung

Die Akzeptanz des kollektiven Gedächtnisses des Anderen ist der Weg zu dem, was die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann Politik der Reue nennt. Reue ist ein persönlicher Akt der Übernahme nicht von Schuld, sondern von Verantwortung für die Geschichte der Tragödie des Landes und der Gesellschaft, in der ich jetzt lebe. Im Jahr 2017 wurde aus dem Wunsch nach Reue ein Bedürfnis – ich wandte mich live auf LTV7 an die lettische Öffentlichkeit und bat um Vergebung. Einige meiner russischen Bekannten sahen darin einen Verrat, während viele meiner lettischen Kollegen verwirrt waren und nicht verstanden, was sie von der Entschuldigung halten sollten. Es gab keinen Dialog. Aber ich bin stur oder einfach nur naiv. Ich suche immer wieder nach einem Weg in die Vergangenheit meiner lettischen Landsleute. Da ich mir der Verantwortung bewusst bin, dafür zu sorgen, dass die totalitäre Vergangenheit Europas nicht stillschweigend in eine totalitäre Zukunft übergeht, habe ich in dieser Rede darum gebeten, auch meine Erinnerung, die durch die sowjetische Geschichte manipuliert wurde, und die Erinnerungen und Ängste meiner Eltern – die von klein auf nichts als sowjetische Lügen kannten – einzubeziehen. Mein Gedächtnis ist mit Klischees durchtränkt – Russisch galt immer als ein Synonym für Güte, Licht und Fortschritt. Jetzt hat die Welt gesehen, wie die russische Geschichte, die russische Kultur und die russische Identität als Deckmantel für Böses und Gewalt herhalten müssen. Nun wird das kollektive Gedächtnis der Russen in Lettland mit dem Thema der persönlichen Verantwortung für das Böse belastet sein. Hat sich alles verschlimmert? Das erscheint als falsches Wort – es geht um eine neue Herausforderung und einen neuen Raum für schwierige Fragen über Zugehörigkeit, über die Hierarchien und den Egoismus der Erinnerung, über die Akzeptanz von Traumata, über die Schaffung eines interkulturellen Dialogs, über die Kluft der ethnischen Trennung. Diese Fremdenfeindlichkeit sitzt auch in mir wie ein Virus, auch ich kann plötzlich nicht mehr mit der der Verlockung der „Größe“ meiner Kultur umgehen. Mit den Lügen und mit dem Egoismus der Erinnerung beginnt die Gewalt, und Mozarts Königin der Nacht übertönt die Morgendämmerung des Bewusstseins. Das Zwielicht in Europa ist von langer Dauer, aber die Fähigkeit, Mitgefühl und Verständnis aufzubringen, kann die Helligkeit herbeiführen.

Dialog der Denkmäler oder der Lebenden?

Der junge lettische Dichter Kārlis Vērdiņš beschreibt in seinem Gedichtband Pieaugušie (Erwachsene) die Stadt Riga in einem stummen Dialog der Denkmäler: Das Symbol der nationalen Unabhängigkeit Milda blickt „traurig“ auf das Soldatenballett – ein Denkmal für die sowjetischen Soldaten, die Riga vom Naziregime befreiten und dem lettischen Volk fast ein halbes Jahrhundert einer anderen Besetzung bescherten. Wie kann man das gedanklich vereinen? Wer waren diese Soldaten? Einer von ihnen hätte mein Großvater sein können. Die Denkmäler sind durch den Fluss Daugava getrennt. Sollen wir ihn in Lethe umbenennen? Sollen wir die Vergangenheit vergessen oder die Fähigkeit wiederherstellen, uns auf alternative Weise an das Trauma zu erinnern? Die Denkmäler an den gegenüberliegenden Ufern des gemeinsamen Flusses schweigen nicht; sie sprechen verschiedene Sprachen und bringen verschiedene Gruppen der verstreuten Bevölkerung Lettlands zusammen. Sie sprechen für uns, während wir schweigen und dem Anderen nicht zuhören. Die lettische Gesellschaft lebt hinter gläsernen Mauern, die stärker sind als der Eiserne Vorhang, der in den 1990er-Jahren geöffnet wurde und den Europäern die Möglichkeit gab, eine gemeinsame Geschichte als Grundlage für eine gemeinsame Zukunft zu teilen. Wir in Lettland wählen nach ethnischen Gesichtspunkten, wir schauen verschiedene Fernsehkanäle. Nach dem 24. Februar greift sich die ungehörte, unverarbeitete Geschichte des 20. Jahrhunderts ein Opfer nach dem anderen – Propagandamanipulation, radikale Verschwörungstheorien und Hassreden führen zur Trennung von engsten Angehörigen, die an die Größe und die befreiende Mission des Angriffs auf einen freien Staat glauben. Schmerz und Taubheit gegenüber der Geschichte bewirken eine Zukunft in Ruinen, in der Freiheit kaum noch zu erkennen ist. Es sind dunkle Zeiten, aber eine Hinwendung zum Licht – Freiheit als Raum einer gemeinsamen Zukunft – ist möglich. Der Weg zur Wiederentdeckung der eigenen Verantwortung gegenüber der Geschichte des Anderen ist lang und wird langsam begangen. Aber es gibt keine Alternative – sonst werden es die Denkmäler sein, die sprechen, und nicht wir, die Lebenden.

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