Verluste und Neuschöpfungen
„Es ist viel vom Tod die Rede, weniger aber von Trauer“

Projekt „Como costurar às margens?“, São João del-Rei, Brasilien 2019. 81 Meter lan-ge Installation, die in Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen Hana Brener und Ana Pi Videira entwickelt wurde. | Foto (Ausschnitt): © Marlon de Paula
Installation, São João del-Rei, Brasilien 2019. | Foto (Ausschnitt): © Marlon de Paula

In manchen afrobrasilianischen Religionen dürfen bestimmte Trauerrituale nicht über soziale Netzwerke geteilt werden. Bei indigenen Gemeinschaften fielen Traditionen, die mit dem Tod zu tun hatten, der Unsichtbarkeit anheim. In Brasilien insgesamt wurde mehr über die Zahl der Toten geredet als über den Umgang mit Trauer.

Von Ana Paula Orlandi

Brasilien hat 600.000 Leben an COVID-19 verloren. Wegen der Hygienemaßnahmen ist Sterben noch einsamer geworden, mit halben Abschieden und fehlenden Ritualen wie etwa der Totenwache. „Die Pandemie des neuen Corona-Virus hat diesem Moment, der noch nie einfach war, noch mehr Schwierigkeiten beschert“, sagt die Psychologin Maria Júlia Kovács vom Institut für Psychologie der Universität São Paulo und Gründerin des Laboratoriums für Studien über den Tod.

Laut Kovács ist Trauer ein Prozess der Verarbeitung eines schweren Verlusts. „Das kann der Tod einer Person sein, zu der wir in Verbindung standen, es gibt aber auch andere Verluste, die nicht in Tod münden und doch großes Leid  hervorrufen, weil sie unsere gewohnte Welt durcheinander bringen, wie zum Beispiel Krankheit, Verlust der Arbeit oder wenn man gezwungen ist, sein Herkunftsland zu verlassen“, erläutert die Expertin. „In der Pandemie haben wir eine Reihe von Trauerereignissen erlebt wegen Verlusten unterschiedlicher Größenordnungen, und sei es die Unmöglichkeit wegen der Isolation ganz alltägliche Dinge zu tun.

In einem pandemischen Szenario, sagt Kovács, werden auch Personen, die keine nahen Angehörigen an die Krankheit verloren haben, von einem kollektiven Gefühl der Trauer erfasst. „Es ist das Empfinden von Beileid und Solidarität mit der Trauer derjenigen, die Angehörige verloren haben oder selbst an COVID-19 leiden. Zumindest sollten wir das in einer Situation, einer so unermesslichen Tragödie, empfinden, wie wir sie derzeit im Land und in der Welt erleben. Leider ist mein Eindruck, dass vielen Leuten der Schmerz des Nächsten egal ist“, sagt die Psychologin.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

Nach Meinung der Anthropologin Denise Pimenta ist es Brasilien nicht gelungen, diese kollektive Trauer in der COVID-19-Pandemie zu erleben. „Wegen eines Narrativs der Verleugnung durch die Bundesregierung, die sich unter anderem mehr Sorgen um die Wirtschaft macht als um Fürsorge. Die kollektive Trauer entsteht stark über Kampagnen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, die zeigen, wie wichtig das Leben aller ist, und folglich wird der Tod jedes Einzelnen durch die Gesellschaft betrauert. Im heutigen Brasilien ist viel von Tod die Rede, kaum aber von Trauer oder Erschütterung über so viele Verluste“, stellt Pimenta fest.

Die Anthropologin ist Verfasserin einer Doktorarbeit mit dem Titel O cuidado perigoso: tramas de afeto e risco na Serra Leoa (a epidemia de Ebola contada pelas mulheres, vivas e mortas), Gefährliche Sorge: Geflecht von Zuneigung und Risiko in Sierra Leone (die Ebola-Epidemie aus der Sicht lebender und toter Frauen), verteidigt im Jahr 2019 an der Universität São Paulo. Sie verbrachte dafür neun Monate unmittelbar nach dem Ende der Epidemie der Jahre 2013 bis 2016 in dem afrikanischen Land. „Die Bevölkerung von Sierra Leone war von den vielen Toten durch Ebola betroffen, weil es der lokalen Regierung gelungen ist, eine Erzählung der kollektiven Trauer zu etablieren. Es entstand damals ein großer gesellschaftlicher Zusammenhalt durch die Trauer“, berichtet sie.

Pimenta verweist auch darauf, dass Trauer ein kollektives Phänomen ist, in dem der Schmerz des Verlusts mit Familienangehörigen und Freunden geteilt werden muss. „Es gibt vielfältige Rituale. In manchen Gemeinschaften weinen die Frauen oder schreien, um den Übergang des Verstorbenen zu symbolisieren. In anderen durchtrennt man ein Band oder legt etwas in den Sarg. Es ist eine Form zu begreifen, dass die Person geht, sich entfernt, Bindungen unterbrochen wurden und neue entstehen müssen“, sagt sie. „In Pandemien oder Epidemien sind diese Rituale jedoch ausgesetzt. Man darf sich nicht treffen, darf die Trauer nicht zelebrieren; es gibt einen großen Bruch mit rituellen Handlungen, die sehr wichtig sind zur Bestätigung dessen, was man durchmacht, was man empfindet. Das erschüttert die Menschen zutiefst.“

Biopolitischer Virus

Was Brasilien speziell angeht, sind die Formen der Trauer sehr unterschiedlich, sagt der Anthropologe Emerson Sena, Professor der Religionswissenschaften an der Bundesuniversität Juiz de Fora. „Die Beisetzungsrituale im ländlichen Raum in Brasilien, die noch sehr vom Volkskatholizismus geprägt sind, unterscheiden sich deutlich von Ritualen im städtischen Raum. In ländlichen Gegenden wurden die Toten vor der COVID-19-Pandemie zu Hause aufgebahrt, und es gab einen ganzen moralischen und religiösen Kodex, damit umzugehen. Die Verwandten gruppierten sich in konzentrischen Kreisen um den Sarg herum, bis in die Küche, wo sich die Gäste schließlich pittoreske Episoden aus dem Leben des Toten erzählten. Diese Rituale sind natürlich wegen der COVID-19-Syndemie ausgesetzt“, sagt er.

In seinen Vorträgen und Studien bevorzugt der Anthropologe  anstelle von „Pandemie“ den Begriff „Syndemie“. Das Konzept wurde 2019 vom US-amerikanischen Anthropologen und Arzt Merrill Singer entwickelt, der seit den 1990er Jahren versucht, Krankheiten von biologischen und soziokulturellen Determinanten heraus zu verstehen. „So, wie es bei der Schwarzen Pest (1346-1352) und der Spanischen Grippe (1918-1920) war, neigt die Situation unter COVID-19 dazu, tiefe Veränderungen in kultureller und praktischer Hinsicht und bei Idealen auszulösen. Es ist ein biopolitischer Virus“, betont Sena.

Zwischen dem Heiligen und dem Virtuellen

Laut der Historikerin und Anthropologin Andréia Vicente von der Bundesstaatlichen Universität West-Paraná, veränderten sich auch in der Vergangenheit Rituale des Todes aufgrund von Pandemien und Epidemien. „Die Friedhöfe wurden nach außerhalb der Kirchen verlegt, institutionalisiert und bekamen Mauern. Es kam zur Beisetzung der Toten in geschlossenen Särgen und unter einer genau festgelegten Schicht Erde“, berichtet die auf den Tod spezialisierte Wissenschaftlerin.

Heute ist es nicht anders. „Die Unmöglichkeit, Rituale, die uns helfen, mit dem Tod umzugehen, wie etwa die Totenwache oder die Beisetzung, nach allen Regeln durchzuführen, hat zu großem Verdruss bei den Leuten geführt, die unterdessen  jedoch neue Formen gefunden haben, diesen Moment zu ritualisieren. Das geschieht insbesondere über soziale Netzwerke“, bemerkt die Wissenschaftlerin. „Diese medialen Instrumente gab es in Kirchen und Tempeln bereits, mit der Syndemie hat sich ihr Einsatz verstärkt“, stellt Sena fest.

Laut Vicente investieren Bestattungsunternehmen selbst in abgelegenen Gebieten und sogar im Landesinneren derzeit in audiovisuelle Mittel und verbessern ihre Internet-Zugänge. „Ich glaube, diese Neuerung wird auch nach Ende der Pandemie bleiben. Es gestattet zum Beispiel, dass eine Person, die zu einer Bestattung aufgrund von geografischer Ferne nicht selbst erscheinen kann, am Ritual dennoch von Weitem teilnehmen kann“, sagt die Forscherin.

Indigene Rituale

Die virtuelle Welt kann jedoch nicht alle Rituale zum Umgang mit Tod erfassen, etwa bei einigen indigenen Völkern. „Bei den Yanomami zum Beispiel besteht das Beisetzungsritual in der Aufnahme der Asche des Toten, um unter denen, die im irdischen Leben bleiben, die Energie zu verteilen, die der Verstorbene zu Lebzeiten genoss. Dies war nun bei Personen unmöglich, die COVID-19 zum Opfer fielen und in Krankenhäuser gebracht und auf öffentlichen Friedhöfen in der Stadt beigesetzt wurden“, sagt Vicente.

Es gibt noch weitere Hinderungsgründe im Verhältnis von Göttlichem und Virtuellem, wie Sena betont: „In manchen Religionen sind bestimmte Rituale so intim, so ausschließlich auf Initiierte beschränkt, dass sie nicht offen in sozialen Netzwerken geteilt werden dürfen“, berichtet er. „Ein solcher Fall ist das Axexê, ein Beisetzungsritual des Candomblé, bei dem die Grenze zwischen dem Heiligen und Profanen streng eingehalten werden muss.“

Es ist also nichts Neues, dass unser Verhältnis zum Tod und zur Trauer Veränderungen unterliegt. „Es gibt Stimmen, die sagen, die Trauer sei schon vor der COVID-19-Pandemie in der Krise gewesen. Ich teile diese Einschätzung nicht“, sagt Vicente. „Was wir heute beobachten, ist eine Veränderung der institutionellen Mechanismen der Trauer. Seit dem Mittelalter hat es eine Reihe von sehr strengen Beisetzungsnormen gegeben, die von der Kirche festgelegt wurden und bestimmten, wie Menschen die Trauer erleben sollten, beispielsweise das Gebot, schwarze Kleidung zu tragen, oder die Siebentagesmesse zu feiern. Derzeit gibt es eine Flexibilisierung in dem, wie es zu geschehen hat, allerdings eher nach dem Willen der oder des Betrauerten“, schließt sie.

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