Rauschen im Netz
Konfrontation statt zivilisierter Auseinandersetzung

Projekt Colônia Juliano Moreira, Jacarapaguá, Brasilien 2019. Das Foto ist im Rahmen der Künstlerresidenz des Programms CASA B des Museums Bispo do Rosério für Zeit-genössische Kunst, Rio de Janeiro, entstanden.
Projekt Colônia Juliano Moreira, Brasilien 2019. | Foto (Ausschnitt): © Marlon de Paula

Überall auf der Welt und in Brasilien vor allem haben die Algorithmen sozialer Netzwerke zu einer Zunahme von politischem Radikalismus, Polarisierung und zum Verfall menschlicher Beziehungen beigetragen. Wieso bringen soziale Netzwerke Menschen gegeneinander auf, anstatt sie zusammenzuführen?

Von Juliana Vaz

In der COVID-19-Pandemie sind soziale Netzwerke zum wichtigsten Fenster zur Außenwelt geworden, haben den Austausch von Informationen ermöglicht und Personen aus der Isolation heraus wieder in Kontakt gebracht. Zugleich kam es, je mehr Zeit vor den Bildschirmen verbracht wurde, zu einer bis dahin nicht gekannten Zirkulation von Verschwörungserzählungen, Hassreden und Fake News im Netz – allen voran über den Twitter-Account des brasilianischen Präsidenten, der die Krankheit kleinredete, die Wirksamkeit von Impfungen leugnete und Lügen über unwirksame Medikamente und Behandlungsmethoden verbreitete.

Nach 18 Monaten Pandemie und insgesamt 600.000 Toten spricht einiges dafür, dass die brasilianische Bevölkerung mittlerweile vorsichtiger geworden ist im Umgang mit Informationen aus dem Internet. Nach einer umfassenden Erhebung des Reuters Institute und der Universität Oxford äußern 82 Prozent der Brasilianer*innen sich besorgt über die Verbreitung von Falschmeldungen im Jahr 2021, und die Nutzung von Whatsapp und anderen Applikationen als Informationsquelle ging im Verhältnis zu 2019 zurück. Die Unsicherheit durch die offensichtliche Krise der Gesundheitslage führte zu einer verstärkten Suche nach belastbaren Nachrichten, denn in einer Pandemie können Gerüchte, das Leugnen von Umständen und Desinformation nicht nur zu virtuellen Auseinandersetzungen, Zerwürfnissen und politischer Polarisierung führen, sondern tatsächlich zu Schlimmerem bis zum Tod.

Die jüngsten Initiativen von Twitter, Youtube und Facebook, Corona-leugnende Posts zu verbannen, hat Reaktionen der brasilianischen Regierung provoziert, die zumindest bislang noch erfolglos versucht, das Eingriffsrecht dieser Kanäle zu beschneiden. Es stellt sich trotzdem die Frage, ob die sozialen Netzwerke es schaffen können, wieder zu weniger toxischen Räumen zu werden, ohne Gewaltdiskurse, auf denen zum Dialog aufgerufen und Demokratie gefördert wird, wie man es sich zu Anfangszeiten des Internets noch utopisch vorstellte.

Echokammern

Ana Regina Rêgo, Koordinatorin des Nationalen Netzwerks zur Bekämpfung von Desinformation, die an der Universität von Piauí lehrt, erläutert, wie sogenannte „Echokammern“, also das Entstehen von Räumen, in denen alle gleicher Meinung sind, zur Architektur der sozialen Netzwerke gehören. Anders als offline, wo man permanent die Erfahrung der Konfrontation mit abweichenden Ideen macht – und Strategien zum Umgang damit entwickelt.

„Facebook ist ein Daten-Geier. Der Algorithmus versucht dem User eine möglichst gute und stressfreie Zeit im Netz zu bereiten. Es geht darum, in der Timeline eine möglichst glatte Umgebung ohne Widersprüche zu schaffen. Doch das führt zum Entstehen von Blasen und ‚Echokammern’, in denen man ausschließlich mit Personen umgeht, die genauso wie man selbst denken“, erklärt Rêgo. In den sozialen Netzwerken im Allgemeinen sind „Menschen dazu angehalten, alles zu bewerten, sich zu allem zu äußern. Also fühlen sie sich mächtig, weil sie die Nachrichten, die sie konsumieren wollen, ebenso wie die Wirklichkeit, die sie gern hätten, selbst auswählen. Für die kommerzielle Strategie ist es wichtig, den User*innen vorzugaukeln, es ginge ausschließlich um sie, und ihre Werte seien das Maß aller Dinge“, sagt Richard Miskolci, Soziologe an der Universidade Federal de São Paulo.

Emotionales Engagement

Falschmeldungen, Verschwörungsmythen und Hassreden sind Inhalte, die emotional ansprechen und User*innen mobilisieren. Zu Beginn der Pandemie verbreiteten sich im Netz Bilder von angeblich leeren Särgen, die in Manaus beigesetzt worden sein sollten, und erhielten enorme Aufmerksamkeit. Die „Nachricht“ wurde sofort von auf Faktencheck spezialisierten journalistischen Agenturen widerlegt. Trotzdem wurde die Falschmeldung von vielen Menschen, die sie erhielten, geglaubt, sie empörten sich, und das generierte „Likes“ und Kommentare – dazu Zerwürfnisse, Irritationen, Beschimpfungen –, und die Nachricht verbreitete sich immer weiter.

Auf virtuellen Plattformen sind unsere menschlichen Beziehungen einem Geschäftsmodell unterworfen, das auf der Nutzung unserer Daten basiert, erklärt Anna Bentes vom MediaLab der Universidade Federal do Rio de Janeiro. Somit liegen Polarisierung, Spaltung, auch Desinformation, im ureigenen Interesse der Plattformen, weil sie Engagement erzeugen.

„Die Plattformen leben davon, dass die Menschen so lange wie möglich online sind. Sie suchen nach psychologischen Überzeugungsmechanismen, um die Aufmerksamkeit der Nutzer zu binden, damit sie weiter interagieren, die größtmögliche Menge an Daten preisgeben und so lange wie möglich der Werbung ausgesetzt sind“, sagt Bentes. Dafür werden durch unterschiedliche Mechanismen Angriffsflächen, Emotionen und kognitive Neigungen der Nutzer*innen erschlossen, etwa durch Push-Nachrichten, die wie psychologische Trigger den oder die Nutzer*in wieder auf die Plattform zurücklocken. „Das ist sicherlich gut für die Plattformen, aber nicht unbedingt für die Nutzer*innen. Erst recht nach der Pandemie, wenn wir alle gewissermaßen die Bildschirme leid und von Nachrichten überfüttert sind“, sagt die Wissenschaftlerin.

Cancel-Culture

Richtig ist, dass durch digitale Technologien Räume entstanden sind, über die sich Gruppen, die historisch gesehen vom öffentlichen Diskurs in Brasilien ausgeschlossen waren, im Kampf um ihre Rechte Gehör verschaffen konnten, wie zum Beispiel die Schwarzenbewegung, Feminist*innen oder die LGBTIQ+-Bewegung. Andererseits hat sich in diesem Kontext auch eine aktivistische Praxis des „Cancelns“ entwickelt, eine Art virtueller Pranger und der Boykott einer in der Regel öffentlichen Persönlichkeit, die sich über ein Thema kontrovers äußert. Dieses „Canceln“ kann Angst oder Zurückhaltung bewirken und die aktive Beteiligung an virtuellen Debatten beeinträchtigen. Aus Furcht, „gecancelt“ zu werden, zieht man sich aus Debatten zurück oder meidet sie, um nicht beim ersten Zögern Gefahr zu laufen, bestraft oder im Ansehen beschädigt zu werden.

Für Miskolci können berechtigte Anliegen in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit in eine Verweigerung des Dialogs münden, einen Kontext, in dem „einer spricht und einer hört, einer befiehlt und der andere gehorcht“. „Bezeichnenderweise nähert sich Identitätspolitik damit dem antidemokratischen Verfahren ihrer Gegner und zeigt, dass der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit nicht automatisch damit einhergeht, den autoritären Charakter unserer Gesellschaft infrage zu stellen“, warnt Miskolci. „Onlineaktivismus, ganz gleich ob von rechts oder links, funktioniert nach der Logik des Marktes, in der Ideen nach ihrer kollektiven Resonanzfähigkeit durch Likes oder möglichst häufiges Teilen beurteilt werden. Medien neigen dazu, die größte Sichtbarkeit denen zu geben, deren Vermittlung von Ideen kein Nachdenken durch Follower, Zuschauer*innen oder Leser*innen verlangt“, beobachtet der Soziologe.

Obwohl sie offiziell Nähe und Verbindungen herstellen sollen, erzeugen soziale Netzwerke in der Praxis sehr oft Distanz: „Die Kommunikation über Netzwerke nährt die Erwartung, alle gingen mit dem, was wir sagen, konform, und ersetzt den Dialog und die zivilisierte Auseinandersetzung durch Konflikt und Konfrontation“, schließt Miskolci.

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