Kinder und Jugendliche in Indien
Die Auswirkungen von Ausgangssperren auf die psychische Gesundheit

Trostlose Zeiten – so erlebten viele Kinder den Lockdown in Indien.
Trostlose Zeiten – so erlebten viele Kinder den Lockdown in Indien. | Foto (Ausschnitt): © Adnan Sharda

Die Pandemie trifft Kinder besonders hart. Der indische Journalist Nimish Sawant schreibt über die Folgen von Ausgangssperren für die Kleinsten in unserer Gesellschaft. Welche Folgen haben Schulschließungen und das Verbot sozialer Kontakte? Er wirft einen Blick auf Verhaltensänderungen und Störungen bei Kindern, während die vollen Auswirkungen der Lockdowns weiterhin erforscht werden.

Von Nimish Sawant

Noch bevor die indische Regierung am 24. März 2020 einen landesweiten Lockdown ankündigte, waren bis zum 16. März bereits zahlreiche Schulschließungen angeordnet worden. Ein Präsenzunterricht an Schulen war von diesem Moment an, bis weit in das Jahr 2021 hinein, nicht mehr möglich.

In einer Entwicklungsphase, in der Kontakte mit der Außenwelt nicht nur aus sozialen Gründen, sondern auch für das psychische Wohlergehen notwendig sind, waren viele Kinder in Indien in ihrem Zuhause eingesperrt. Und auch nachdem die Lockdown-Beschränkungen ab Oktober 2020 gelockert wurden, mussten Kinder zahlreiche Veränderungen in ihrem Alltag bewältigen.

Folgen für die psychische Gesundheit

Im Zusammenspiel mit sozialer Isolation, längeren Bildschirmzeiten und Trauer über den Verlust von Familienangehörigen durch COVID-19-bedingte gesundheitliche Komplikationen waren die Lockdowns von einem Gefühl der Unsicherheit bestimmt. Indische Wissenschaftler*innen wie Rishi Kumar, Prateek Kumar Panda und Juhi Gupta konnten nachweisen, dass Angstzustände, Depressionen, Reizbarkeit, Langeweile und Furcht vor einer Ansteckung mit COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen immer häufiger zu beobachten war.

Preti Das aus Ahmedabad, Lehrerin und Mutter eines achtjährigen Sohnes, ist überzeugt, dass die Ausgangssperren deutliche Spuren bei ihrem Kind hinterlassen haben. „Die psychischen Folgen sind nicht zu übersehen. In den letzten drei bis vier Monaten ist er aggressiver und launischer geworden und hat einige Ticks entwickelt. Wir haben Ärzt*innen konsultiert, die uns sagten, dass sie es mit vielen solcher Fälle zu tun hätten. Dies zeigt, mit welchen emotionalen Belastungen unsere Kinder zu kämpfen haben“, so Das.

Dr. Anjana Thadani, Spezialistin für Entwicklungsstörungen bei Kindern, behandelt auch Kinder mit besonderem Förderbedarf. Nach ihren Angaben ist die medizinische Versorgung solcher Kinder, die beispielsweise aufgrund von Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen, Autismus und anderen Krankheitsbildern in Behandlung sind, in den ersten Monaten des Lockdowns vollständig zusammengebrochen. „Daraufhin verstärkten sich schlagartig die Verhaltensauffälligkeiten. Erst im Juni 2020 wurden mit den meisten Kindern, die sich in Behandlung befanden, die ersten Onlinesitzungen durchgeführt“, berichtet Dr. Thadani.

Kinder entwickelten soziale Phobien in den langen Phasen, in denen sie keinerlei Kontakte außerhalb des engsten Familienkreises hatten. Dr. Thadani merkt dazu an: „Bei Kindern, die zu Beginn der Pandemie ein Jahr alt waren, sind heute im Alter von drei Jahren aufgrund der Isolation Rückschritte bei der Entwicklung ihrer sprachlichen und sozialen Kompetenzen zu beobachten. Dies hat bei jungen Eltern große Besorgnis ausgelöst.“
Die Pandemie reduzierte soziale Interaktion auf ein Minimum, mit fatalen Folgen vor allem für Kinder.
Die Pandemie reduzierte soziale Interaktion auf ein Minimum, mit fatalen Folgen vor allem für Kinder. | Foto (Ausschnitt): © Adnan Sharda

Auswirkungen auf Jugendliche

Kinder im Alter von über sechs Jahren waren in der Lage, Verhaltensregeln zum Schutz vor dem Virus nachzuvollziehen. Laut Dr. Thadani machten viele von ihnen Erfahrungen mit Trauer entweder innerhalb der Familie oder beim Betrachten von Fernsehbildern. „Eltern müssen ihren Kindern die Wahrheit sagen. Die schlechten Nachrichten waren allgegenwärtig. Ständig gab es Neuigkeiten über Familienangehörige oder Nachbar*innen, die an COVID-19 erkrankt waren. Es war unvermeidlich, Kinder daran zu erinnern, warum das Tragen von Masken oder Hygienemaßnahmen notwendig waren“, so Das, die sich im April 2021 während der zweiten tödlichen Welle in Indien selbst mit dem Virus infizierte.
UNICEF hat in Indien eine Rapid-Assessment-Studie in sechs Bundestaaten mit einem Stichprobenumfang von mehr als 6.000 Eltern, Kindern, Jugendlichen und Lehrkräften durchgeführt. Hier geht es um die Antwort auf die Frage: „Hatte (Name) in den vergangenen drei Monaten während der Schulschließungen Zugang zu Inhalten oder Angeboten des Distanzunterrichts?“
UNICEF hat in Indien eine Rapid-Assessment-Studie in sechs Bundestaaten mit einem Stichprobenumfang von mehr als 6.000 Eltern, Kindern, Jugendlichen und Lehrkräften durchgeführt. Hier geht es um die Antwort auf die Frage: „Hatte (Name) in den vergangenen drei Monaten während der Schulschließungen Zugang zu Inhalten oder Angeboten des Distanzunterrichts?“ | Illustration (Ausschnitt): © UNICEF Indien
Nach den ersten Ausgangssperren begannen die Schulen den Unterricht über Online-Videokonferenztools wie Google Meet, Microsoft Teams oder Zoom wieder aufzunehmen. Bereits vor der Pandemie zeigten sich Mediziner*innen zurecht besorgt über die Zunahme der Bildschirmzeiten. Doch wie nicht anders zu erwarten, schnellten die Bildschirmzeiten nach der Pandemie erst recht in die Höhe. „Die längeren Bildschirmzeiten von Kindern brachten zahlreiche Probleme mit sich. Besonders häufig waren Schlafstörungen zu beobachten. Während der Pandemie mussten die Schüler*innen an vier bis sechs obligatorischen Online-Unterrichtsstunden teilnehmen, gefolgt von Nachhilfeunterricht und Hausaufgaben, ebenfalls online. Der Großteil ihrer Freizeitaktivitäten fand ebenfalls online statt, weil sie nicht nach draußen zum Spielen gehen konnten“, sagt Dr. Thadani und stellt fest, dass diese Situation für Eltern nicht leicht zu bewältigen war.

Frau Dr. med. Naina Picardo, Professorin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Christian Medical College Krankenhaus in Vellore, vertritt die Auffassung, dass der Lockdown sowohl die sozialen als auch die wissensbasierten Fähigkeiten beeinträchtigt hat. „Für Kinder aus allen wirtschaftlichen Schichten ist ein Rückgang der sozialen Kompetenzen zu beobachten. Dies kann langfristige Folgen für die Entwicklung eines Kindes nach sich ziehen“, betont Dr. Picardo.

Gewalt in der Offline- und Online-Welt

Eltern befanden sich bereits unter enormem Druck durch wirtschaftliche Unsicherheiten und die Belastungen, die das Arbeiten im Homeoffice und die Haushaltsführung unter Lockdown-Bedingungen mit sich brachten. Ihre wachsende Frustration bekamen schließlich auch die Kinder zu spüren.

Die Childline India Foundation verzeichnete auf ihrer speziell für Kinder in Not eingerichteten Hotline einen sprunghaften Anstieg der Anrufe wegen Missbrauchs und Gewalt gegen Kinder. Innerhalb der ersten zehn Tage des Lockdowns im Jahr 2020 gingen bei Childline mehr als 92.000 Anrufe mit Hinweisen auf Gewalt gegen Kinder ein. Seit Beginn der Pandemie vermeldete die Organisation eine Zunahme der Zahl der Anrufe um 50 Prozent. In der Online-Welt waren Kinder zudem Zielscheibe vieler Cyberkrimineller.

Nach Angaben von Das setzte die so viel online verbrachte Zeit Kinder auch unerwünschten Bereichen des Internets aus. „Einer der Nachteile des Online-Unterrichts war, wie wir feststellen mussten, dass unser Kind Zugriff auf YouTube-Videos hatte, die für seine Altersgruppe nicht geeignet waren. Ein Alptraum für Eltern, und in Zeiten wie diesen ist es einfach nicht möglich, das eigene Kind ständig unter Beobachtung zu haben“, so Das.
Die digitale Kluft in Indien lässt sich aus dem Diagramm ablesen. In der Erhebung nannten die befragten Eltern die Kosten für eine Internetverbindung und die Erschwinglichkeit von Geräten als wichtigste Schwierigkeiten mit Blick auf die Schulbildung ihrer Kinder während der Pandemie.
Die digitale Kluft in Indien lässt sich aus dem Diagramm ablesen. In der Erhebung nannten die befragten Eltern die Kosten für eine Internetverbindung und die Erschwinglichkeit von Geräten als wichtigste Schwierigkeiten mit Blick auf die Schulbildung ihrer Kinder während der Pandemie. | Illustration (Ausschnitt): © UNICEF Indien
Aufgrund der wirtschaftlichen Situation zahlreicher Familien in ganz Indien hat sich für viele sogar der Zugang zum Onlineunterricht als Herausforderung erwiesen. Gemäß einem UNICEF- Bericht aus dem September 2021 sprachen etwa 80 Prozent der Kinder im Alter von 14 bis 18 Jahren von einem geringen Lernniveau während der Pandemie. Und sogar 42 Prozent der Kinder in der Altersgruppe der sechs bis dreizehn Jährigen gaben an, während der Schulschließungen an keinerlei Fernunterricht teilgenommen zu haben. Dies macht deutlich, welchen Einfluss die digitale Kluft auf das Leben in Indien hat.

Nach Auffassung von Dr. Picardo beeinträchtigt die digitale Kluft den Erwerb von Wissen und Fertigkeiten. „Für Kinder aus wohlhabenden Familien waren kaum Nachteile im Bildungsbereich zu spüren. Dagegen wird es Kindern aus wirtschaftlich schwächeren Verhältnissen zweifellos an schulischen Kompetenzen fehlen.“

Jenseits von Bildung

Darüber hinaus haben sich die Schulschließungen unmittelbar auf die Ernährung von Kindern aus wirtschaftlich schwachen Familien ausgewirkt. Das 1995 in indischen Schulen eingeführte Midday Meal Scheme gilt beispielsweise als weltweit umfangreichstes Schulspeisungsprogramm und trägt dazu bei, den Kalorienmangel von Kindern um 30 Prozent zu senken.

Laut einem UN-Bericht haben aufgrund der COVID-19-Lockdowns etwa 100 Millionen Schulkinder bis Februar 2021 keine Schulspeisungen erhalten. Viele Kinder aus benachteiligten Familien mussten so auf nahrhaftes Essen verzichten, was sich entsprechend negativ auf ihre kognitiven Fähigkeiten auswirkte. Laut aktuellen Regierungszahlen aus dem November 2021 gelten 1,8 Millionen Kinder in Indien als stark unterernährt. Im Globalen Hungerindex belegte Indien im Jahre 2021 Platz 101 von 116 Ländern.

In vielen Bundesstaaten, die von Schulschließungen betroffen waren, wurden Lebensmittelrationen nach Hause geschickt. Allerdings war dies keine besonders sinnvolle Lösung, wie Puja Marwaha, Geschäftsführerin von CRY India, feststellte. „Wenn ein Kind bisher eine solche Ration erhalten hat, dann hat es diese Mahlzeit in der Schule auch allein essen können. Nun wird dieselbe Menge nach Hause geschickt, wo nicht nur dieses Kind Hunger hat. Auf diese Weise wird sein Zugang (zu Nahrung) definitiv beeinträchtigt. Ernährung hat einen Einfluss auf die psychische Gesundheit und das geistige Wachstum“, so Marwaha.

Ein großer Teil der Kinder fürchtet sich mittlerweile davor, in die Schule zurückzukehren. „Sie haben Angst, schwer krank zu werden. Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Kinder wieder an den Schulbesuch gewöhnt haben. Die Mehrzahl der Schulen bietet inzwischen hybride Formate an, damit der Übergang langsam erfolgen kann“, berichtet Dr. Thadani.

Verlorene Jugend und Kindheit

Nach Meinung von Dr. Picardo hatten der Lockdown und die damit einhergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit den Verlust eines Teils der Jugend und Kindheit zur Folge. „In jungen Jahren ist dagegen nichts einzuwenden, solange die Kinder zu Hause genügend Anregung erhalten, auch wenn es bedeutet, dass sie nicht zur Schule gehen können. Doch wir haben während der Ausgangsbeschränkungen Kinder erlebt, die sich daran gewöhnt hatten, viele Stunden mit ihrem Telefon zu verbringen und in ihre eigene Welt abzutauchen. Dadurch entwickeln sie eine Haltung, bei der sie denken, nicht auf die Außenwelt angewiesen zu sein. Das hat viel mit verlorener Kindheit zu tun. Für Studierende bedeutete es, dass sie wegen der Lockdowns auf einen spannenden Teil ihrer akademischen Laufbahn verzichten mussten“, stellt Dr. Picardo fest und merkt an, dass sich diese verlorene Zeit bei ihnen in sozialer Hinsicht bemerkbar machen wird.

Doch es ist noch nicht alles verloren. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit Kindern, die bereits vor der Pandemie mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen hatten, vertritt Dr. Picardo die Auffassung, dass Kinder die in den verlorenen Jahren der Pandemie vernachlässigten sozialen Kompetenzen und das Wissen wieder aufholen können.
 

Literatur

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