Konzerte auf räumliche Distanz erleben
Digitale Musik-Räume

Alban Gerhardt Stream
Alban Gerhardt Stream | Foto (Ausschnitt): © Martin Tröndle

Die Veranstaltungsbranche, insbesondere die Live-Musik-Industrie, war einer der ersten Wirtschaftszweige in Deutschland, der mit Beginn der Coronapandemie im März 2020 geschlossen wurde. Musiker*innen und Fans ließen sich davon nicht abhalten gemeinsam Musik zu erleben. Digitale Räumen boten eine Zuflucht in Zeiten der Kontaktbeschränkungen. Welche Zukunftsperspektiven bieten sie?

Von Thomas Winkler

Wer weiß, vielleicht hätte die Welt ohne die Pandemie nie erfahren, dass auch Popstars auf einen Staubsauger angewiesen sind. Von Mine jedenfalls weiß man das, seit die Berliner Musikerin die „Quarantöne All Stars“ versammelt hat. Auf Youtube ist zu sehen, wie sie mit vier Kolleg*innen ihren Song Hinterher neu interpretiert. Das Besondere: Alle singen und spielen einzeln von zu Hause, aber mit Hilfe der Technik schlussendlich zusammen, und in Mines Wohnzimmer kann man im Hintergrund deutlich ein handelsübliches, aber wenig glamouröses Haushaltsgerät erkennen. „Hey Mine, wir haben denselben Staubsauger!“, freut sich in den Kommentaren eine gewisse „storlach“. „Dann kann ich auch bald so singen wie du!“

„10 Monate später noch genauso aktuell, genauso schön, genauso inspirierend. Balsam für die geschundenen Seelen. Danke, danke, danke dafür!“,

so ein Youtube-Zuschauer im Jahr 2021 über die Neuinterpretation von Mines Lieds Hinterher .

Mine und ihre „Quarantöne All Stars“, die insgesamt vier Songs mit bis zu 36 Sänger*innen, Rapper*innen und Musiker*innen einspielten und im Juli 2020 auf Youtube hochluden, sind nur eins der prominenteren Beispiele, wie Künstler*innen während des Lockdowns versuchten, die von den Hygieneregeln erzwungene Distanz zu ihrem Publikum zu verringern. Konzerte wurden gestreamt, über Websites und die sozialen Medien, DJs legten in menschenleeren Clubs auf, damit Menschen vor dem eigenen Sofa tanzen können, Fans und Musiker*innen tauschten sich in den Kommentarspalten aus, wie sehr sie der Lockdown belastete.

„Das treibt mir die Tränen in die Augen … von der Gänsehaut einmal abgesehen“,

heißt es von einem anderen Zuschauer auf Youtube.

Dabei entstand des Öfteren eine neue Nähe zwischen Konsument*in und Produzent*in, hat auch der Musikmanager Stefan Habel beobachtet. „Auch Künstler*innen, die bislang nicht so Social-Media-affin waren, haben gemerkt, wie wichtig es ist, künstlerische Bestätigung zu bekommen – und über die sozialen Medien kann man sich zumindest gefühlten Applaus abholen.“

Digitale Avatare machen Stimmung

Obwohl die „Quarantöne All Stars“, bei deren Organisation Habels Agentur entscheidend mitgeholfen hat, ein Erfolg waren, glaubt der Musikmanager nicht daran, dass solch aufwendigen Formate das Ende der Pandemie überleben werden. Konzert-Streaming wird es weiter geben, so wie vor Corona auch, „die ersetzen für etablierte Künstler*innen, die nicht mehr in jeder Kleinstadt auftreten wollen, die bisherige Live-DVD. Aber alle werden froh sein, möglichst schnell zum normalen Rhythmus zurückzukehren. Denn das Gefühl, das ein Live-Erlebnis bieten kann, ist nicht reproduzierbar – weder für den oder die Künstler*in noch für den Fan.“

Eine Meinung, der sich auch Christian Weining anschließt. Trotzdem arbeitet der Kulturwissenschaftler von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen an einem Modellprojekt, in dem versucht wird, einer Konzerterfahrung digital möglichst nahe zu kommen. Weining ist Projektkoordinator des „Experimental Concert Research“, in dem Wissenschaftler von Hochschulen in New York, Bern, Klagenfurt und Karlsruhe versuchen zu ergründen, was ein Konzerterlebnis ausmacht. Die entscheidende Frage, die das zwischen Musik- und Kulturwissenschaften angesiedelte Projekt beantworten will: „Was unterscheidet das Konzert von anderen Arten, Musik zu hören?“
Sneak Peak Yubal Ensemble
Sneak Peak Yubal Ensemble | Foto (Ausschnitt): © Phil Dera
Als die Welt im Lockdown versank, machten Weining und seine Kolleg*innen aus der Not eine Tugend und führten ihr Experiment im digitalen Raum durch. Für die „Digital Concert Experience“ spielte ein Streichquintett um den Cellisten Alban Gerhardt. Zur Übertragung der Aufzeichnung versammeltem sich die Klassikliebhaber*innen dann in einem virtuellen Konzertsaal. Die Zuseher*innen konnten als selbst gestaltete Avatare über Emojis applaudieren oder buhen und sich während des Konzerts im Chat mit dem Sitznachbarn austauschen. „Es gab Konzerte, da kam richtig Stimmung auf im Chat“, erzählt Weining. Der Chat und die virtuelle Cafeteria, in der man nach dem Musikprogramm Gleichgesinnte treffen konnte, wurden von über der Hälfte der gut 600 Proband*innen dankbar aufgenommen, stellten die Wissenschaftler*innen bei der Auswertung fest: „Viele haben sich gefreut, dass sie endlich mal andere Menschen kennengelernt haben, was bei einem klassischen Konzert so gut wie nie passiert.“

Die Ergebnisse der Studie wurden Ende 2021 veröffentlicht, daraus kann Weining verraten, „dass solche Formen vor allem für Menschen interessant sind, die sich eh schon sehr für die Musik interessieren und ein Gefühl bekommen, sie wären bei einem exklusiven Event dabei“. Wenn der Wissenschaftler ein Fazit ziehen müsste, dann dieses: „Es ist eine Alternative, aber kann niemals ein Ersatz werden.“
Sneak Preview Alban Gerhardt and Friends
Sneak Preview Alban Gerhardt and Friends | Foto (Ausschnitt): © Phil Dera

„Wir sind noch da!“

Eine Erfahrung, die auch die Veranstalter*innen von United We Stream machen mussten. Die digitale Plattform wurde von der Berliner Club Commission gleich zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 ins Leben gerufen, um aus den weltberühmten, aber verwaisten Clubs die Auftritte von DJs vor leeren Dancefloors zu streamen. Es ging vor allem darum, den Kontakt zum Publikum zu halten und einer größeren Öffentlichkeit zu signalisieren: Wir sind noch da!

Das gelang so gut, dass sich schnell Clubs aus anderen Städten aus der ganzen Welt anschlossen. Mittlerweile ist die Initiative viel mehr als nur eine Website, auf der Streams zu sehen sind, sagt Anna Harnes, sondern „ein dezentrales Netzwerk, eine Bewegung, eine Open-Source-Plattform“, auf der über 500 Veranstaltungsorte in über 120 Städten in Europa, Asien, Australien, Nord- und Südamerika miteinander verbunden sind und mittlerweile mehr als 1,5 Millionen Euro an Spenden für Clubs, Künstler*innen und die Seenotrettungs-Organisation Sea-Watch eingesammelt werden konnten: „Der Zuspruch war so groß, dass wir bis heute mit dem Aufbau der Strukturen kaum hinterher kommen.“

Aber Harnes, die Vorsitzende des Trägervereins, sagt auch: „Es gibt keinen Ersatz für die menschliche Interaktion in diesen Club-Räumen, die ja auch immer Schutzräume sind für Frauen, Queers und andere Minderheiten.“ Das ist auch der Grund, warum kaum ein Bereich so sehr von der Pandemie betroffen ist wie die Clubkultur. Eine Feierkultur, deren Reiz nicht zuletzt Exzess, Selbstinszenierung, Zügellosigkeit und die Anonymität der Nacht ausmachen, ist mit Abstandsregeln, Maskenpflicht oder Kontaktverfolgung schwer vorstellbar. Dieses Erlebnis ins Netz zu transportieren bleibt ein Wunschtraum.

Durch Initiativen wie United We Stream und dass die DJs – statt um die Welt zu jetten – online mit ihrem Publikum Kontakt halten konnten, „ist eine größere Bindung entstanden und ein größeres Bewusstsein, was Clubkultur bedeutet – und wie wichtig sie ist.“

„Please never end!“ (Bitte niemals enden!),

schreibt „C-Real“ zum Stream aus dem Ritter Butzke in Berlin am 27. März 2020.

Harnes glaubt, dass in einem Post-Corona-Nachtleben neben der größeren Verbundenheit noch am ehesten der „hybride Dancefloor“ eine Rolle spielen wird. Schon jetzt gibt es Experimente, Clubs in Manchester und Berlin miteinander zu verbinden: Im Idealfall wird hier wie dort zum selben Beat getanzt und die Tänzer*nnen können sich auf riesigen Bildschirmen dabei sehen. Auch klassische Streams von DJ-Gigs wird es weiter geben, dann aber von etablierten Anbietern wie Boiler Room oder Hör Berlin, die auch schon vor der Pandemie ihr treues Publikum gefunden hatten.

United We Stream dagegen wird im März 2022, anlässlich des zweiten Geburtstages der Plattform, seine Ausrichtung ändern. Statt Abspielort für Streams will man künftig vor allem der weiteren Vernetzung von Clubs in aller Welt und dem Austausch innerhalb der Szene dienen. „Weg vom Spendensammeln, hin zu einer Kommunikations- und kulturellen Plattform, auf der clubtypische Themen wie Diversität Raum bekommen, aber auch Probleme in der Szene wie prekäre Beschäftigungsverhältnisse“, sagt Harnes. „Unser Anspruch war ja auch nie, das Live-Erlebnis zu ersetzen, sondern etwas Zusätzliches zu schaffen. Eine durchtanzte Nacht im Club ist einfach einmalig.“
 

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