Helden und Götter
Eine mythologisch-psychologische Perspektive auf Maskulinität
Die Jungsche Psychologie untersucht in Märchen und Mythen die Reisen von Held und Heldin. Demzufolge repräsentieren Götter, Göttinnen und Dämonen bestimmte natürliche Konstanten der unterbewussten Psyche bzw. die Art und Weise, wie sich die emotionalen und die kreativen Elemente einer Person zueinander verhalten.
Von Rashna Imhasly-Gandhy
Durch das Studium solcher mythischen Reisen gelangt man zu einem Verständnis von bestimmten Grundwahrheiten und von unbewussten Verhaltensmustern, die der Jungianer Archetypen nennt. Es versetzt uns in die Lage, allgemeine Reaktionen, Tendenzen und miteinander verbundene Muster der menschlichen Psyche zu beobachten, wodurch zu Tage tritt, wie sich natürliche Instinkte in kulturellen Kontexten auswirken.
„Damit ein Archetypus größeren Einfluss auf unser Leben gewinnt, bedarf es gewisser Verstärkungen des Musters von außen: ein Ereignis in unserem Leben oder wiederholt in der betreffenden Kultur erzählte Geschichten, die dieses Muster verstärken. Daher hängt es sowohl von unserer persönlichen Geschichte als auch von unserer Kultur ab, welche Archetypen in unserem Leben dominieren.“ *)
Im vorliegenden Artikel wird der Blick auf einige unbewusste Hauptursachen gerichtet und beleuchtet, was es im indischen Kontext bedeutet, heute, im Jahr 2021, ein ‚richtiger Mann‘ zu sein. Gehen wir nach wie vor konform mit der Vorstellung von dem, was ein richtiger Mann ist – oder sollte sie durch eine stärker differenzierende Perspektive ersetzt bzw. ergänzt werden?
Eine archetypische Geschichte, welche den politisch-kulturellen Diskurs unseres Landes seit Jahrzehnten beherrscht, ist zweifellos das Ramayana. Es ist über die Jahre getanzt worden, rezitiert, schauspielerisch dargestellt und diskutiert. Und es scheint immer noch weite Teile unserer Gesellschaft zu beeinflussen. Seit den Achtzigern, nämlich seit dem Tag als in der BabarMoschee in Ayodyha eine Rama-Statue auftauchte, beherrscht der Archetypus Ramas auch den politischen Diskurs. Dies kulminierte 1992 in der Zerstörung der Moschee und erreichte 2019 einen neuen Höhepunkt mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, den Bau eines Ram-Tempels genau dort zu erlauben, wo diese Moschee gestanden hatte.
Im Ramayana ist Rama nicht nur der herrschende König, sondern auch der maryada purushottam, der ‚ideale Mann‘. Man kann also davon ausgehen, dass er den Archetypus verkörpert, die Basis für das kollektive Unterbewusstsein bezüglich dessen, wie der ideale Mann beschaffen sein muss. Der mythische Rama wurde zum Regenten und Verteidiger seines Gebiets erhoben, der die Kunst der Kriegführung beherrscht, Macht ausübt und sein Königreich beschützt. Daher muss jeder Mann den Archetypus des Kriegers in sich tragen.
Aber ist das alles, was ein Mann braucht, um ein ‚vollkommener Mann‘ zu sein? Ich würde dagegen anführen, dass dieser Archetypus lediglich einen Teil der männlichen Psyche repräsentiert.
MYTHOLOGISCHER SYMBOLISMUS – RETTUNG DER FEMININITÄT
Auf mythologischer Ebene repräsentieren ‚König‘ und ‚Königin‘ den Ausdruck des vollständigen inneren Selbst, und zwar in der Form von maskulinen und femininen Energien. Aber beide, sowohl Mann als auch Frau, müssen diese Energien aufweisen, wenn auch in unterschiedlichen Graden.
Sie sind inhärenter Teil eines jeden von uns. Hat Rama seinen Aspekt verinnerlicht? Das ist die Frage, die wir stellen müssen. Die Gefühlsfunktion gilt als Teil der femininen archetypischen Energie. Wenn sie blockiert ist, wird sie zu einem Symptom einer psychischen Entwicklung, der es an Einbindungskraft und Ausdrucksfähigkeit mangelt. Die mythologische Erzählung drückt dies in Form der Befreiung der in Lanka ‚gefangen‘ gehaltenen Königin aus.
Der männliche Held muss sie retten. Gefangenschaft bedeutet, dass sich die maskulinen und femininen Aspekte nicht im Gleichgewicht befinden. Demnach stellt Sita die feminine Seite der Entwicklung dar. Ihre Befreiung bedeutet die Freisetzung der gefangenen Gefühlswelt. Dies ist eine weitere Stufe bewusster Entwicklung: Der Mann kommt mit seiner inneren Stimme in Berührung, befreit sich und wird zu einem vollständigen menschlichen Wesen
HAT SICH DER REGENT UND KÖNIG MIT SEINER KÖNIGIN VEREINT?
Man könnte argumentieren, Ram habe Sita erlöst und auf diese Weise die Werte des befreiten Femininen in sich integriert. Aber hat er auch seine generelle Verdächtigung des Weiblichen – seine inneren Schattenseiten - überwunden? Jeder, der das Ramayana gelesen hat, weiß, dass er seiner Königin weiterhin misstraut. Nach wie vor gilt Sita als potentiell untreu und daher als nicht vertrauenswürdig. Die Geschichte berichtet davon, wie er sich nicht dazu durchringen kann, sie wieder als herrschende Königin in sein Reich einzusetzen. Anders ausgedrückt: Er ist immer noch gefangen in den patriarchalischen kollektiven Werten, die ihm nicht erlauben, seine Königin – Femininität – auf den inneren Thron zu erheben und damit zu sich selbst zu finden.
Warum muss ein König eine Königin als gleichrangig anerkennen? Aus psychologischer Sicht kann die menschliche Psyche ohne den Ausgleich durch ihr Gegenstück nicht gesund existieren. Männliche Kraft ohne Liebe und Mitgefühl entbehrt des Gefühls – ein Antrieb, der im Unbewussten bleibt. Anders ausgedrückt: Seine emotionale Funktion bleibt unterentwickelt.
Innerhalb der kollektiven Psyche repräsentiert Sita die Seele. Ihr Exil und ihre anhaltende Verbannung sind eine Beschreibung davon, wie die patriarchalische Denkweise Femininität völlig aus der Kultur vertrieben hat. Sie wurde jeglichen Schutzes beraubt und wird in allem, was Beziehungen anbelangt, laufend verletzt. Und dies sind die verwundbarsten und am meisten des Vertrauens bedürftigen Aspekte des geschundenen ‚Selbst‘. Rama hat Sita aus Lanka gerettet. Aber er traut ihrer ‚Unschuld‘ nicht, weshalb sie nicht Königin mit allen ihren Rechten sein kann. Schließlich erreicht sie ein Stadium, in dem ihr Innerstes verletzt wird, und sie verschließt sich.
Dies ist der größte Verlust, schlimmer als ihr Exil, wo sie als ein Beispiel für Tugendhaftigkeit geachtet worden war. Es ist dies die Geschichte von vielen Sitas – auch noch im heutigen Indien. Auf diese Weise wird uns bewusst, dass eine sorgfältige Analyse des Aspekts der Beziehungen in der Sage patriarchalische Denkweisen enthüllt. Und indem Rama der ‚maryada purushottam‘ – der vollkommene Mann – bleibt, entwürdigt unser kollektives Unbewusstes weiterhin weibliche Werte – sowohl bei Frauen, als auch bei Männern. In einer Kultur, die genau diese Sichtweise hochhält, kann Sita nicht überleben.
Dies gilt übrigens nicht allein in Bezug auf Männer und Frauen. Die gleichen Werte setzen wir auch in Bezug auf ‚Mutter Erde‘ an, wenn wir gewissenlos Reichtum ohnegleichen anhäufen, indem wir sie ausbeuten und in nie dagewesenem Grad zerstören. Wir sind nach wie vor gefangen in der Gier, Land und Wohlstand zu vermehren und uns unsere eigenen Schlösser zu bauen.
Bei den weiblichen Werten von Sita geht es um Liebe, Beziehungen, Elternschaft, Partnerschaft, Selbsteinsicht und Gespür. Sofern wir lebendig sind und wach, können wir sehen, was um uns herum passiert. Ohne Ausgleich durch die weibliche Kraft des Fühlens und der Anteilnahme verhindert der männliche Trieb, dass eine Gesellschaft diese Werte umsetzt. Sita bleibt die vertriebene Königin, während wir weiterhin blindlings den mythischen Rama verehren und vergöttern, der seine femininen Werte nicht in sein ideales Rollenvorbild aufgenommen hat.
Sita ist nicht irgendeine mythologische Figur, die gelebt haben mag oder auch nicht. Sie ist das lebendige mythische Symbol, das eine große Mehrheit indischer Frauen der Gegenwart repräsentiert, ebenso wie die Gesellschaft insgesamt. Die weiblichen Elemente, die Sita personifiziert, bleiben unter der Oberfläche und aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen. Aber wenn wir aufhören, unsere Gefühlsfunktion aufrecht zu erhalten, lassen wir auch Mitgefühl missen, und wir handeln insgeheim im Einverständnis mit der kollektiven patriarchalischen Praxis der Diskriminierung von Frauen.
Die Frau ist die Beschützerin menschlichen Lebens und der Heiligkeit der Natur. Feminines Bewusstsein sowohl in Männern wie in Frauen setzt voraus, dass wir mit unserem Innersten in Verbindung stehen. Dieses Bewusstsein gibt Raum für Empathie und ermahnt uns, nicht anderen anzutun, was uns angetan worden ist. Zu gewissen Zeiten war die Göttin heilig und ihre Sexualität wurde verehrt. Diese Haltung und ihre ursprüngliche Kraft und Würde müssen wir wiederherstellen.
DIE RELEVANZ DES RAMAYANA HEUTE
Welche Botschaft vermittelt uns der Mythos hinsichtlich ehelicher Beziehungen? Die psychologische Untersuchung von Sagen als ordnendes Prinzip psychischer Kräfte in uns erklärt unsere Verhaltensmuster als Ausdruck tief in uns vorhandener archetypischer Zusammenhänge. In diesem Sinn kann das Ramayana als kulturelles, historisches und sozial-anthropologisches Material für die Festlegung von Prinzipien für richtiges Verhalten in einer patriarchalischen Gesellschaft angesehen werden.
Rama in seiner Eigenschaft als der ideale König stellt das vorherrschende patriarchalische Gesetz einer Gesellschaft dar, die diese kollektiven Werte von Generation zu Generation weitergibt. Es verlangt, dass die Frau in ihrem Mann einen Halbgott sieht. Das Ideal einer Ehefrau in der patriarchalischen Gesellschaft wird auf Sita projiziert, die zum perfekten Vorbild als Partnerin und Mutter wird. Wie die Jungfrau Maria, die westliche Parallele zu Sita, wird letztere ‚rein‘ und zu einem asexuellen Wesen gemacht – genauer: gezwungen eines zu werden – in ihrer Eigenschaft als höheres und reineres Wesen, jedoch in konstanter Trennung von ihrem Ehemann.
Bei solch einem untauglichen Vorbild bleibt jungen Männern heutzutage wenig Raum, ihre eigenen Vorstellungen ihrer Maskulinität abzuwägen. Wie also könnte das uralte archetypische Vorbild Rama verändert werden angesichts unseres überholten Begriffs von Sexualmoral, welches nicht mehr zu einem gesunden Vorbild für Beziehungen taugt? Sind diese neurotischen Eigenschaften einer antiken Gesellschaft unbemerkt in die Modernität gesickert? Wohin, zu welchem Ziel sollen sie führen? Wenn wir sie nicht in Frage stellen, verbleiben wir womöglich in einer Verfassung von Schuld und Scham, die zu weiterem neurotischem Verhalten führen kann, welches gesundes Sexualverhalten verhindert.
Sita steht symbolisch für einen Archetypus, der in unserer heutigen Gesellschaft nur vage gesehen oder erkannt wird. Auch nachdem sie eine eigene Stimme gefunden und die Notwendigkeit von Chancengleichheit erkannt hat, führt das noch lange nicht zu voller Gleichwertigkeit und respektbestimmten Verhältnissen. Anders gesagt: Der Archetyp der ‚heiligen Weiblichkeit’ wird nach wie vor kulturell unterdrückt. ‚A-yodhya‘ bedeutet wörtlich: ‚Ort, an dem es keinen Krieg gibt‘ – aber der innere Konflikt geht weiter. Rama ist unfähig, Sita für die zu nehmen, die sie ist.
Dies spiegelt die Struktur von beschädigten menschlichen Verhaltensmustern. Solange Sita vertrieben bleibt, wird es auch im Königreich keinen Frieden geben. Das tangiert nicht nur Rama, der nichts anderes ist als eine Metapher für das in unserer Gesellschaft vorherrschende patriarchalische Prinzip. ‚A-yodhya‘ und seine ursprüngliche metaphorische Symbolik hat sich verändert: In unserer gegenwärtigen geschichtlichen Periode steht es für den umstrittenen Hotspot eines politischen Konflikts.
Heute können wir einen Veränderungsprozess herbeiführen, vorausgesetzt wir kommen zu einem Verständnis des tieferen Symbolgehalts der Sage. Es könnte das Ende eines untauglichen Paradigmas bedeuten und den Anfang eines neuen. Aber zunächst bedarf es der Erkenntnis, dass wir, um des Respekts für unser eigenes Selbst willen, Sita in uns selbst als regierende Königin etablieren müssen, damit sie auch in den Tempeln draußen ihren Platz neben Rama einnehmen kann. Die Konstruktion eines neuen Mythos – und einer neuen Realität – liegt in unseren eigenen Händen.
*) Carol Pearson, The Hero Within, 1989, p. XXVI
Rashna Imhasly-Gandhy arbeitet als Transpersonale Psychologin. Sie lebt und praktiziert in Mumbai und unterrichtet und hält Vorträge in der Schweiz, Deutschland, in den Niederlanden und Mexiko. Sie ist mit einem Schweizer verheiratet und lebte siebzehn Jahre lang in der Schweiz, wo sie Jungsche Psychologie studierte.
Sie ist Autorin der Bücher "Psychology of Love - Wisdom of Indian Mythology" (Roli Books 2001) und "The Emerging Feminine - Discovering the Heroine Within" (Yatra Books 2014). Beide Bücher beziehen sich auf indische und griechische Mythen, die als therapeutische Hilfsmittel für ein besseres Verständnis von Liebe, Ehe und Beziehungen eingesetzt werden. Sie hat auch an "In Search of Sita" (Penguin Books 2009) mitgearbeitet.