Deutsche Serien in Indien
Queer Eye Deutschland: Radikale Positivität und gutes TV

Werbeposter (Zuschnitt) der Netflix series "Queer Eye Germany" zeigt die Gruppe fab 5: Jan-Henrik Scheper Stuke, David Jakobs, Ayan Yuruk, Leni Bolt, Aljosha Muttardi.
© Netflix Photo: Thomas Schenk

Binge-Watching ist praktisch gleichbedeutend mit Thrillern, die den Zuschauer in ihren Bann ziehen und nicht mehr loslassen: Schockierende Wendungen der Handlung. Cliffhanger-Enden. Alles sehr gnadenlos und intensiv. Dagegen laden uns Reality-Shows, ob im Streaming oder im Fernsehen, oft zum Lachen oder zum Schaudern ein, wenn Fremde gezwungen sind, zusammenzuleben und irgendwie miteinander auszukommen, oder wenn es um Paarungsrituale geht, bei denen unweigerlich Whirlpools ins Spiel kommen. Empathie und Mitgefühl sind kaum Markenzeichen des Genres. Queer Eye Germany bietet eine ganz andere Sichtweise wie so eine Serie aussehen kann. Die Serie ist einfach ... nett. Charmant. Inspirierend, sogar. Die Grundprämisse ist, dass ein Team von Experten, alle sehr queer und stolz darauf, in jeder Folge eine andere Person besucht und ihr hilft, ihr Leben zu überdenken, unterstützt und motiviert von einer neuen Garderobe und einer renovierten Wohnung. Die wahren Veränderungen finden aber auf der psychischen und emotionalen Ebene statt.

Von Josef Markus

Neues Spiel, neues Glück

Popkultur-Kenner erinnern sich vielleicht noch, dass Queer Eye 2003 als Queer Eye for the Straight Guy auf dem amerikanischen Bravo Network startete. Die bahnbrechende Show war über Nacht eine Sensation und lief schließlich über 100 Folgen in fünf Staffeln, die mit Emmys und GLAAD Media Awards gleichermaßen ausgezeichnet wurden. Diese frühere Inkarnation wurde auch in ein internationales Franchise umgewandelt, mit einer kurzlebigen deutschen Version namens Schwul macht cool.

Netflix hat Queer Eye 2018 neu aufgelegt, nicht nur mit einer neuen Fab 5 (wie die Moderator:innen und Makeover-Expert:innen genannt werden), sondern auch mit der genialen Idee, die Show von New York nach Georgia und später nach Missouri zu verlegen, also in die "roten" Staaten Amerikas, wo die Akzeptanz von stolz geouteten LGBTQ+-Menschen und gleichgeschlechtlichen Beziehungen kaum gewährleistet ist. In der Show geht es jedoch nicht um Kulturkriege, sondern darum, Gräben zu überbrücken. Die Fab 5 bezaubern und inspirieren Menschen, die noch nie jemandem wie ihnen begegnet sind (oder denken, dass ihnen das nicht passieren könnte).

Queer Eye v. 2.0 hat seine Darsteller schnell zu Promis gemacht und läuft nun schon seit sechs Staffeln. Es ist also keine große Überraschung, dass Netflix mit 221 Millionen Abonnenten in 190 Ländern versucht, diesen Erfolg in regionale Franchises zu versilbern. Den Anfang machte Queer Eye Germany, das im März 2022 seine Premiere feierte. In jeder Folge reisen die deutschen Moderator:innen und Berater:innen, die Fab Fünf, mit dem Fabmobile in ein anderes Dorf, um jemandem, der in seinem Leben feststeckt, zu helfen, eine neue Richtung einzuschlagen.

Die Herzlichkeit von Fremden

Auf den ersten Blick liegt der Reiz von Queer Eye darin, die Zuschauer stellvertretend an der Fantasie eines gratis Einkaufsbummels teilhaben zu lassen, bei dem die fünf neuen besten Freunde, die wirklich wissen, wovon sie reden, wenn es um Klamotten und Frisuren geht, einem zunächst bei der Zusammenstellung eines neuen Kleiderschranks helfen und dann dazu übergehen, den eigenen Wohnraum so umzugestalten, dass er besser zum Ausdruck bringt, wer man wirklich ist. Das Publikum wird dazu inspiriert, sich von der Flaute und den Spinnweben zu befreien, die sie vielleicht auch in ihrem eigenen Leben zurückhalten.
Werbeposter (Zuschnitt) der Netflix series "Queer Eye Germany" zeigt die Gruppe fab 5: Jan-Henrik Scheper Stuke, David Jakobs, Ayan Yuruk, Leni Bolt, Aljosha Muttardi. © Netflix Photo: Thomas Schenk
Die Fab Fünf sind ausgesprochen gut besetzt und auf ihre Art schon unterhaltsames Fernsehen. Der sympathische Ayan Yuruk ist der Designexperte, der nachdenkliche Aljoscha Muttardi der Gesundheits- und Ernährungsberater und die charismatische Avi (früher David) Jakobs die Haar- und Schönheitsbeauftragte. Ihre Superkraft ist, wie sie sagt, "eine Haarflüstererin" zu sein. Die ebenfalls nicht-binäre Leni Bolt besetzt das Life-Coach Ressort, und Jan-Henrik Scheper-Stuke ist für die Mode zuständig. Jan-Henrik ist selbst das beste Aushängeschild für seine Dienste: Er scheint Kleidung aus dem gesamten 20. Jahrhundert ausgewählt zu haben, um nicht nur eine elegante Garderobe, sondern auch eine dandyhaft-intellektuelle Persönlichkeit aufzubauen. (Wenn man ihn sieht, denkt man: Das ist sicher ein Mann mit einem gut sortierten Bücherregal.)
Werbeposter (Zuschnitt) der Netflix series "Queer Eye Germany" zeigt: Jan-Henrik Scheper Stuke, Ayan Yuruk. © Netflix Photo: Thomas Schenk
Queer Eye basiert auf der Prämisse, dass wohlwollende Außenseiter die besten Leute sein könnten, um die Lebenssituation von Menschen zu verbessern, die unter Depressionen oder einer Vertrauenskrise leiden. Wenn man sich eine Folge von Queer Eye Deutschland ansieht, weiß man zu schätzen, wie viele Fähigkeiten die deutschen Fab 5 für diese Aufgabe mitbringen: Innerhalb weniger Tage müssen sie das Vertrauen von Fremden gewinnen und Lösungen vorschlagen, ohne jemals so zu klingen, als würden sie ihre neuen Freunde herabwürdigen. Wir sehen dabei, wie sehr Aufrichtigkeit und ehrliche Neugierde auf andere Menschen dazu beitragen, echtes  Vertrauen zu schaffen. Und ein unbändiger Sinn für Humor kann auch nicht schaden.

Du gibst mir das Gefühl (mächtig echt zu sein)

Man kann sich eine Kritik an Queer Eye etwa so denken: Stellen Sie sich einen hausbackenen Akademiker vor, der wütend darüber schimpft, dass die Sendung Konsumverhalten verherrlicht. Aber, um Oscar Wilde (Original Rädelsführer der Queer-Ästhetik) frei wieder zu geben, nur oberflächliche Menschen würden denken, dass ein komplettes, fachmännisches Makeover - ein schmeichelhafterer Haarschnitt und/oder eine bessere Brille, eine schicke neue Garderobe, eine von Unordnung befreite Wohnung - nicht Wunder für die Stimmung und das Selbstvertrauen einer Person bewirken würde.
Werbeposter (Zuschnitt) der Netflix series "Queer Eye Germany" zeigt: Leni Bolt, Avi Jakobs © Netflix Photo: Thomas Schenk

Es ist auch erwähnenswert, dass die Fab 5 ihren Zauber nicht einfach dadurch entfalten, dass sie eine Person mit großen Designernamen ausstatten. Das Talent der Fabs liegt im Gespür dafür, welche Kleidung und Frisur eine buntere, entspanntere Version ihrer Testpersonen zum Vorschein bringen könnte. Eine gesunde Portion Wellness-Tipps hilft jedem Gast, schlechte Angewohnheiten oder selbstzerstörerische Denkweisen zu überwinden, die ihn in einem Trott gehalten haben. Kein Wunder, dass am Ende jeder Folge die neue, glücklichere Inkarnation jedes Gastes auch ein paar Jahre jünger aussieht - ganz ohne Schönheitsoperationen.

Zusammen verkörpern die Fab Fünf radikale Positivität, und jeder empfindsame Fernsehzuschauer wird wahrscheinlich zustimmen, dass dies eine Eigenschaft ist, von der die Welt mehr gebrauchen könnte. Queer Eye Germany ist inspirierendes Wohlfühlfernsehen, aber auch so respektlos, dass es nie süßlich oder sentimental wird. Leider hat Netflix keine weitere Staffel geplant, so dass wir wohl nie eine Folge bekommen werden, in der die Fabs ins tiefste Thüringen reisen, um einem AfD-Mitglied ein dringend benötigtes Makeover zu verpassen.

QUEER EYE DEUTSCHLAND
Streaming auf Netflix, weltweit
Fünf Episoden, jeweils ca. 50 Minuten.
Darsteller: Leni Bolt, Avi Jakobs, Aljosha Muttardi, Jan-Henrik Scheper-Stuke und Ayan Yuruk
Produziert bei ITV Studios Germany, Produzentin: Christiane Ruff, Executive Producer: Christiane Schiek Tajima, Senior Producer: Britta Maiwald.

 

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