Jan Künemund
Wilde Idylle oder: die Raststätte

Autobahnraststätte „Garbsen Nord“ an der A2 (Garbsen, 2019)
Autobahnraststätte „Garbsen Nord“ an der A2 (Garbsen, 2019) | Christian Werner

Beine vertreten, Espresso trinken und pinkeln gehen? Das ist längst nicht alles, was auf Autobahnraststätten passiert. Raststätten führen ein geheimnisvolles Doppelleben. In der Schwulenszene sind sie als Cruising-Orte bekannt, an denen sich Menschen zum Sex treffen. Jan Künemund hat die Geschichte der Raststätten als Orte sexueller Dissidenz aufgeschrieben.

Von Jan Künemund

„Unser Parkplatz wird Sie in Kürze in völlig neue Zusammenhänge bringen!“
Elfriede Jelinek in: „Raststätte oder Sie machens alle“

„Nur mit der bitte räumt euren Müll wieder weg !!! danke“
Tomas001 auf gay.de über den Pendlerparkplatz-A4, Ausfahrt Düren

Erzkaul, Bucheneck, Mönchberg, Am alten Hau, Löwenburg, Fuchsgrund, Höllenplacken. Diese naturromantisch verfangenen Namen bezeichnen Autobahnparkplätze in Deutschland, manchmal mit angeschlossenen sanitären und gastronomischen Einrichtungen, und stammen wahrscheinlich noch aus nationalsozialistischen Gründungskonzepten für die „Reichsautobahn“, die die Strapazen langer Autofahrten mit der Idee verklärten, jederzeit in der Nähe von natürlichen und historischen Sehenswürdigkeiten rasten zu können.

Im Schwulen Museum in Berlin, das ein freies Archiv der queeren Community beherbergt, tauchen diese Namen in Ordnern auf, die die Bezeichnung „HS [Homosexualität] als Ärgernis“ aufweisen. In der Schwulenszene sind die Raststätten und Parkplätze als Cruising-Orte bekannt, an denen sich Menschen zum Sex treffen. Und im Archiv wurden Berichte aus Regionalzeitungen gesammelt, die diese Aktivitäten aus bürgerlicher Sicht dokumentieren. Die romantische Idylle des deutschen Autobahnraums scheint darin durch den queeren Gebrauch beschmutzt, besudelt. Der angrenzende Wald des Rastplatzes Erzkaul verkomme zur „Müllhalde“. Der Rastplatz selbst erhielte ein „Schmuddel-Image“. An den diversen Parkplätzen am Walldorfer Kreuz seien „Schweinereien“ gefunden worden (Kondome, Papiertücher, Gleitmittelverpackungen und Aktfotos). Am Rastplatz „Am alten Hau“ würden durch diesen Müll sogar Wildschweine angezogen.

Fast immer geht es in den Berichten um Umweltbelastung, nie um moralische Bedenken gegenüber einem originellen Sexualverhalten. Und obwohl man im Umkehrschluss natürlich Konstruktionen von Reinheit und menschlicher Ordnung ausmachen kann, die hier in Gefahr geraten, scheint der Nachrichtenwert vor allem im Durcheinander von Zeichen der Nutzung des öffentlichen oder halbprivaten Raums zu liegen. Raststätten sind zur Erholung von Autofahrer*innen gedacht, nicht zum anonymen Sex und auch nicht zur Nahrungsversorgung von Tieren. Das „Ärgernis“ entsteht, wenn diese Kartografierungen durcheinandergeraten – oder sich gar überlappen: Die durchreisende verheiratete Frau, die sich auf dem Parkplatz mit ihrem Liebhaber trifft; der heterosexuelle Trucker, der in der Toilette einen Blowjob gibt; das Wildschwein, das den Wald kurz verlässt, um über den halb aufgegessenen Schokoriegel herzufallen.

Die Öffentlichkeit als Ort körperlicher Intimität

Innovative Orte für Sex zu finden, wird nicht selten als queere Kulturtechnik verstanden. Die Tradition des strukturellen Unsichtbargemachtwerdens führt zu originellen Strategien, sich zumindest für einander sichtbar zu machen. Cruising kartografiert den öffentlichen Raum gemäß den jeweiligen Formen des Begehrens und ignoriert seine offiziellen Ordnungen. Die anonyme Öffentlichkeit kann zum Ort körperlicher Intimität und Privatheit werden, in einem aufregenden Spiel von Sicht- und Unsichtbarkeit, Sicherheit und Gefahr, Scham und Stolz. Das Wissen um diese Orte wird informell geteilt. Kontrollinstanzen, besorgte Bürger und Regionalzeitungen finden meist nur die Spuren des erregenden Austauschs vor. Alle Cruising-Orte, seien es Toiletten, Darkrooms, Strände, Parks, Schwimmbäder oder die Keller und Hinterzimmer von Bars, haben spezifische Eigenarten, Charakteristika. Weshalb also Erzkaul, Mönchberg und Höllenplacken?

Sex und Naherholung

Die Cruising-Ökologie benötigt die öffentliche Infrastruktur: wichtige Verkehrswege, einfache Zugänge, Fluchtmöglichkeiten, Architekturen, die zulassen, dass man von der einen Ordnung wieder in die andere wechseln kann. Wenn man sich die kollektiv gesammelten Listen von Autobahn-Cruising-Orten (differenzierend – aber nicht immer – für Schwule, Voyeure und Paare) ansieht, die man online relativ leicht finden kann, sind es weniger die kommerziellen Raststätten-Anlagen, an denen „etwas los ist“. Beschrieben werden meistens Parkplätze (sanitäre Anlagen sind ein Plus, aber nicht nötig), die in weiträumiges Gelände übergehen: Wald, Felder, große Wiesen, Seeufer, Gebüsch, größere Bäume, hinter die man sich zurückziehen kann. Ein Spiel zwischen Sichtbarkeit und Versteck. Ebenso die Codes: verschiedenfarbige Bänder an den Antennen oder präzise Hinweise auf den tagesaktuellen Sexort, die auf die Deckelunterseite bestimmter Mülltonnen geklebt werden, für alle potenziell sichtbar, aber nur für Eingeweihte verständlich. Kontaktaufnahmen, Aktivitäten und sogar Rastorte zur Erholung von „der Jagd“ finden zwischen verschiedenen Sphären statt: der privaten der PKW und LKW, der öffentlichen der Toiletten, und der Wege dazwischen.

John Hollister [1] hat in den frühen 1990ern Autobahnraststellen in den USA als Cruising-Orte soziologisch erforscht und festgestellt, dass dort – anders als in Darkrooms oder sogenannten Klappen – öfter auch verbale Kommunikation stattfindet, Smalltalk, ein kurzer Austausch über das Wetter. In den Community-Listen werden an manchen Parkplätzen Spaziergänge empfohlen (zum Betrachten der Sterne) oder Liegeflächen zum Ausruhen. Wieder überlappen sich hier die Ordnungen: die Sex-Kontaktaufnahme und die Naherholung. Natürlich sind Parkplätze als Cruising-Orte nicht immer sicher, auch die Hater informieren sich und lernen die Codes. Immer wieder passieren Überfälle, ein Mordversuch im Jahr 2006 am Parkplatz Höllenplacken (A6 bei Kaiserslautern) wurde für das ZDF-Format Aktenzeichen XY reinszeniert.

Raststätten als Nicht- und Gegen-Orte

Der Journalist Florian Werner hat sich in der Tradition des „fine art of hanging around“ des New Journalism im Sommer 2019 für längere Zeit an der Autobahnraststätte Garbsen Nord aufgehalten, um Beobachtungen und Interviews für sein Buch Die Raststätte – Eine Liebeserklärung zu machen. Auf Cruising-Aktivitäten stieß er dort nicht, jedenfalls fiel ihm aus seiner nicht-eingeweihten Perspektive nichts dergleichen auf. Von einem Hauptkommissar der örtlichen Autobahnpolizei erfährt er allerdings von einem Parkplatz, der in der Vergangenheit von der homosexuellen Szene frequentiert worden sei.

Werners kulturwissenschaftliche Recherche nach den Charakteristiken von Raststätten enthält einige Hinweise, warum sich diese als Orte für sexuelle Dissidenz sehr gut eignen. Dazu gehören die Abgeschnittenheit des (Nicht-)Orts von seiner Umgebung (queer gelesen: die fehlende soziale Kontrolle), das Heterotopische (Gegen-Orte für alles, was von der bürgerlichen Gesellschaft ausgelagert wird), die räumliche Hybridität (Gleichzeitigkeit von Privatheit, zum Beispiel des eigenen Begehrens, und Öffentlichkeit, zum Beispiel potenzieller Sexpartner*innen) und die Identitätslosigkeit: Ein Besuch der Raststätte verknüpft niemanden mit der Geschichte oder den regionalen Traditionen des Ortes. Er sagt nichts darüber aus, wer oder was man ist.

Von Truckern und Anhaltern

Raststätten sind subkulturelle Kontaktzonen zwischen Bewegungen, Fixierungen fallen schwer. In Schwulenpornos bilden Trucker-Fantasien ein eigenes Genre, verknüpft mit den Figuren des Anhalters, der sich im sexuellen Reifeprozess befindet, und des LKW-Fahrers, dessen Identität die permanente Bewegung ist, ohne Herkunft und Ziel. Trucker gehören zum Fetischkosmos des Zeichners Tom of Finland. In der „Einhandliteratur“ im Bibliothekskatalog des Schwulen Museums finden sich Bücher mit Titeln wie Autobahnbruder (Ace Brunner) oder Truckerträume (Janos Solko).

Die Raststätten sind Knotenpunkte, die neue, verheißende Kontakte versprechen: „Das ist Vince, er fährt mit mir bis Istanbul, habt ihr an eurem Tisch noch Platz für uns?“ Das gilt auch für Hetero-Swinger-Fantasien: In Elfriede Jelineks Theaterstück Raststätte oder sie machens alle (2002) wollen sich zwei verheiratete Frauen mit Tieren treffen, die sie online kontaktiert haben. Hier überlagern sich die dissident-menschliche und die tierische Kartografie der Raststätte so interessant wie in der Angst vor Wildschweinen, die vom schwulen Cruising angelockt werden.

Cruising in Zeiten von Dating-Apps

„Zum Glück haben Homosexuelle es ja mittlerweile nicht mehr nötig, sich in irgendwelchen finsteren Ecken auf Rastanlagen zu treffen“, glaubt der Autobahnkommissar in Florian Werners Liebeserklärung an die Raststätte. Dabei denkt er wahrscheinlich an die größere gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen, die sich heute nicht mehr in Heterotopien, sondern inmitten der Gesellschaft zur Kontaktaufnahme treffen. Andere würden Dating-Apps als wesentliche Sterbehelfer der Cruising-Kultur nennen, durch die man sich erst dann in Bewegung setzen muss, wenn man Pics ausgetauscht, Ort und Zeitpunkt festgelegt, und die Art der Sexualität bestimmt hat, auf die man gerade Lust hat.

Tatsächlich verändert sich die Cruising-Kultur ständig (Klappen im Zeitalter von Sanifair?), aber in lauen Sommernächten im Berliner Tiergarten sind immer noch Hunderte von Menschen auf der Suche nach Sex, und die kollektiven Listen der Parkplatz-Cruiser sind immer noch halbwegs aktuell. Vielleicht ist es ja gerade die Unvorhersehbarkeit der Begegnungen, die mögliche Intimität zu Bewohner*innen anderer Welten, die ohne Dating-Filter und allumfassende Absprachen möglich ist, jenseits von Identitäten, race-, class-, alters- und orientierungsübergreifend. An den Rändern der Schnellstraßen, auf denen produktive Menschen ihr Ziel verfolgen, entstehen Begehrensräume, die nicht sein sollen und in denen die Unvorhersehbarkeit zum Spiel gehört. Sie bedürfen keiner institutionellen Legitimation.
 
„A7
Wegbeschreibung: Prkplatzt Lonetal dirkt an der A7 zwischen Heidenheim und Ulm
Beste Zeiten: Von 1Uhr bis 3uhr
Besonderheiten: Leider ist direkt daneben eine Raststätte,deßhalb sehr viele Leute. Aber dass stört uns nicht!“
anoym, Google-Gruppe
[1] John Hollister: A Highway Rest Area as a Socially Reproducible Site. In: William L.
Leap (Hg.): Public Sex/Gay Space. New York 1999 (= Between Men-Between Women:
Lesbian and Gay Studies), S. 55–70.

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