Manifest „Haltung zählt“
"Wir erleben eine Verrohung der Sprache“
Beleidigungen auf dem Schulhof, Hassreden in der Pause: Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerverbands, warnt vor einem aggressiven Umgangston – und richtet diesen Appell auch an Kollegen, Eltern, Journalisten und Politiker. Denn: „Kinder lernen am Vorbild.“
Frau Fleischmann, der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband BLLV hat im Sommer 2016 das Manifest „Haltung zählt“ veröffentlicht. Darin warnen Sie vor einer Spaltung der Gesellschaft vor allem durch Rechtspopulisten und Rechtsextreme und wenden sich gegen die zunehmende Aggressivität in der Sprache und den Umgangsformen. Warum wurde ein solches Manifest notwendig?
Das hat mehrere Gründe: Ich war in meiner Funktion als Präsidentin des BLLV zur ersten Lesung des Integrationsgesetzes im Bayerischen Landtag zu Gast und habe erlebt, wie aggressiv die Stimmung war, und dass die Landtagspräsidentin die debattierenden Abgeordneten mehrfach zur Disziplin rufen musste. Dann haben immer mehr Kolleginnen und Kollegen berichtet, dass sie verbal angegangen werden, wenn sie sich in irgendeiner Form in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Ein weiterer Grund waren die verstärkt aufkommenden Beschwerden von Eltern, die befürchten, dass ihre Kinder weniger gefördert werden, weil für Flüchtlingskinder Deutschkurse eingerichtet werden.
Die oft polarisierend geführte gesellschaftliche Diskussion über Flüchtlinge ist ein wesentlicher Ausgangspunkt für Ihren Appell. Was beobachten die Lehrerinnen und Lehrer bei diesem Thema?
Die Schule ist das Spiegelbild der Gesellschaft. Manche Politiker versteigen sich in der Wortwahl – etwa über Flüchtlinge –, und diese politisch-aggressive Debatte überträgt sich über die Medien in die Elternhäuser. Umso schärfer die politische Auseinandersetzung – auch verbal – geführt wird, umso deutlicher verankern sich Ressentiments in den Köpfen der Bevölkerung, und umso rücksichtsloser äußern sich die Menschen. Das ist auch in den Schulen zu spüren: Da wird „Scheiß Ausländer“ gebrüllt, da werden Minderheiten diskriminiert. Wir erleben eine Verrohung der Sprache, die dazu führt, dass demokratische Prozesse für Kinder nicht mehr spürbar sind.
Worin sehen Sie die Ursache für diese Entwicklung?
Kinder lernen am Vorbild. Wenn sie merken, dass Erwachsene Konflikten mit Schimpfwörtern begegnen, dann übernehmen sie das. Gerade bei Kindern und Jugendlichen wandeln sich Denkweisen besonders schnell zu Handlungen. Davor warnen wir: Wir wollen vermeiden, dass wir eine Generation heranziehen, die andere nicht nur durch aggressive Worte, sondern auch mit aggressiven Taten verletzt.Das Manifest endet mit dem Aufruf, Haltung zu zeigen für eine weltoffene Gesellschaft und einen respektvollen Umgang miteinander. Was bedeutet dies konkret?
Wenn ein Jugendlicher in der Aula „Scheiß Ausländer“ brüllt, muss ich als Lehrkraft sofort hingehen und mit klarer Körperhaltung, mit klarer Sprache deutlich machen: „So nicht!“ Und dann wiederum Vorbild sein: den Schüler oder die Schülerin nicht im Gegenzug anschreien, sondern im persönlichen Gespräch herausfinden, was dahinter steckt. Konkret wünschen wir uns, dass die Lehrerinnen und Lehrer im Schulalltag einschreiten und Beschimpfungen unterbinden – im Unterricht, in der Pause, auf dem Schulhof, aber auch auf dem Elternabend. Dass sie die Beteiligten auffordern, fair miteinander umzugehen und niemanden zu diskriminieren. Unser Ziel ist aber auch, dass dieses Manifest eine breite Unterstützung in der Gesellschaft erfährt. Wir rufen alle auf, den Mut zu haben, in schwierigen Situationen aufzustehen und „Stopp!“ zu sagen.
Wer braucht vor allem Nachhilfe im „Haltung zeigen“: Schüler, Lehrer, Eltern, Journalisten oder Politiker?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, bei der wir alle gefragt sind. Wir müssen gemeinsam Haltung zeigen – ob am Stammtisch, in der Schule, in den Medien. Mit welchem Unterton ist ein Artikel geschrieben? Was geschieht, wenn einer den anderen diskreditiert? Was sagt die Lehrerin in der Schule? Wie sprechen die Menschen beim Metzger über die Flüchtlinge von nebenan? In diesen Situationen müssen wir alle aufmerksam sein und uns einmischen.
Was sollte die Politik zu einer verbesserten Kommunikation beitragen – abgesehen von einer besonnenen Wortwahl?
Manche Politiker bringen ganz bewusst Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Die werden wir mit unserem Manifest sicher nicht erreichen. Wir brauchen mehr Raum für Demokratie-Erziehung in den Schulen. Es darf nicht darum gehen, den Lehrplan stumpf durchzuarbeiten, sondern wir müssen jetzt auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren. Wir müssen uns die Zeit nehmen können, mit den Schülern zu besprechen, wie demokratische Prozesse funktionieren. Wie kommen wir zu einer Entscheidung? Wie gehen wir mit anderen Meinungen und Standpunkten um? Brüllen wir unser Gegenüber nieder oder hören wir zu und verhandeln? Wir müssen den Schülerinnen und Schülern zugleich Vorbild sein, und sie erleben lassen, was eine demokratische Auseinandersetzung bedeutet.
Wie sehen Sie die Chancen auf ein respektvolles Miteinander in den Schulen und in der Gesellschaft?
Wir wollen mit dem Manifest den Finger in die Wunde legen und versuchen, Menschen zu unterstützen, damit sie sich trauen, Haltung zu zeigen. Ich bin Pädagogin geworden, weil ich immer davon überzeugt war, dass man gerade mit Kindern und Jugendlichen positive Umgangsformen trainieren, besprechen und leben kann. Alle Schulen haben den Auftrag, zu bilden und zu erziehen. Integration, Inklusion und Digitalisierung sind drei große Herausforderungen für die Schulen. Wir Lehrerinnen und Lehrer leisten einen wesentlichen Beitrag, diese Aufgaben zu bewältigen und ich bin optimistisch, dass uns das auch in Zukunft gelingen wird.