Björn Lengers ist ein deutscher Theatermacher, Programmierer und Digitalkünstler. Zusammen mit Marcel Karnapke bildete er 2016 das Kollektiv CyberRäuber. Ihre Arbeiten, die an zahlreichen Stadt- und Staatstheatern im Deutschsprachigen Raum oder auf renommierten Festivals gezeigt werden, verknüpfen Digitale Medien und Darstellende Künste, zum Beispiel mithilfe von Virtueller Realität oder sog. Künstlicher Intelligenz.
In Bangalore wird Björn mit der Natya & STEM Dance Kampni an der digitalen Erforschung und Visualisierung traditioneller Indischer Tanzformate arbeiten.
Abschlussbericht
Ausgangspunkt für meine Teilnahme am Residenzprogramm war das Gastspiel meines Kollektivs CyberRäuber im Januar 2022 in Bangalore. Im Rahmen der Attakkalari Biennale 2021/22konnten wir CyberBallet dort zeigen, eine interaktive Arbeit von 2020, in der Tanz und Virtuelle Realität verknüpft werden. Am Rande dieses Besuches ergaben sich viele Kontakte, unter anderem der zu Madhu Natraj, der künstlerischen Leiterin der Natya STEM Dance Kampni, und Kamya Ramachandran, der künstlerischen Leiterin von BeFantastic, einer Organisation, die sich um die Vermittlung und Verbreitung von digitalen Künsten in Südasien kümmert und an das Digitalunternehmen Jaaga angebunden ist.
Die Natya STEM Dance Kampni ist im nördlich des Zentrums von Bangalore gelegenen Stadtteil Malleswaram ansässig, ist seit über 25 Jahren eine von Indiens maßgeblichen Tanzensembles in der Verbindung von klassischen, indischen Elementen mit zeitgenössischem Tanz. Unter der künstlerischen Leitung von Madhu Natraj ist die Company regelmäßig zu Gast bei namhaften Tanzfestivals in Südasien und weltweit.
Marcel Karnapke und ich arbeiten seit 2016 gemeinsam als CyberRäuber, als digital performing arts collective, und beschäftigen uns intensiv mit der Verbindung und künstlerischen Erforschung von Darstellenden Künsten und Digitalität; wir bringen Virtuelle Realität oder Künstliche Intelligenz auf die Bühne oder Schauspiel, Oper, Tanz in digitale Realitäten. In den letzten Jahren haben wir uns verstärkt mit Tanz und Ballett befasst, und insofern entstand mit Madhu und Kamya schnell die Idee einer gemeinsamen Erforschung von traditionellem indischen Tanz, insbesondere Kathak, im Kontext unserer speziellen Arbeit. Wichtig war dabei, dass wir dabei während der gesamten Residenz ergebnisoffen vorgehen konnten, ich musste also nicht schon mit einem konkreten Projektplan nach Indien kommen, sondern die TänzerInnen, die Choreographin und ich konnten völlig frei einander unsere Kunst vorstellen, miteinander improvisieren und ausprobieren.
Nach der für die Residenten obligatorischen Einführungswoche starteten wir am 22. Oktober mit einem Experimentaltag im Studio in Malleswaram, an dem ich sowohl einen Einblick in die laufende Arbeit der CyberRäuber in den Feldern Virtual / Mixed Reality und Neural Theatre geben konnte, als auch für die TeilnehmerInnen die Möglichkeit bestand, VR-Erfahrungen auszuprobieren, selbst in VR zu Inhalte zu kreieren und tänzerisch damit zu interagieren. Mit diesem sehr erfolgreichen und inspirierenden Anfang wurde auch die Vorgehensweise für die folgenden Wochen klarer: zum einen würde ich an möglichst vielen der täglichen Übungen und Proben als Beobachter teilnehmen und versuchen, einen Eindruck der Arbeit und Tanzformen zu gewinnen, anderseits in regelmäßigen Einheiten mit einzelnen Ensemblemitgliedern auf Video und in VR zu arbeiten. In den folgenden Wochen konzentrierten wir uns dabei mehr und mehr auf die tänzerische Auseinandersetzung mit in Echtzeit in VR geschaffenen 3D-Skulpturen und Umwelten, sowie auf eine mögliche szenische Umsetzung für ein Publikum, das dem Bühnengeschehen nicht in VR beiwohnt. Hier war und ist also insbesondere die Frage zu klären, wie das von den Tänzerinnen selbst in VR gestaltete und wahrnehmbare, immersive Szenenbild über Video-Livestreaming und die Reaktion der DarstellerInnen für ZuschauerInnen erlebbar wird.
Diese Forschungs- und Probentätigkeit wurde auch wesentlich durch den Abschluss einer Arbeit beeinflusst, die Marcel und ich über den Sommer des Jahres 2022 unter dem Titel „Things Fall Apart“ entwickelt hatten. Es handelt sich dabei um eine musikalische Installation in Mixed Reality, BesucherInnen bewegen sich mithilfe von VR-Headsets gemeinsam durch einen physischen, sowie einen durch Neuronale Netze für Bild-, Video-, Text- und Stimmenkreation geschaffenen, virtuellen Raum. Die Premiere dieses Stückes in Berlin fand am 4. November und damit genau während meiner Residenzzeit statt. Eine Stärke unserer digitalen Formate ist allerdings schon immer, dass sie häufig ortsunabhängig möglich und daher meist sehr Gastspiel-tauglich sind. In diesem Fall hatte ich kurz nach meiner Ankunft in Bangalore Kontakt zum Bangalore Creative Circus aufgenommen. Hierbei handelt es sich um einen Artspace mit besonderem Konzept: mit dem übergreifenden Ziel, Bewusstsein für den Klimawandel zu schaffen und darüber aufzuklären, aber auch für die Stadt und konkret für die Nachbarschaft, sowie für freie KünstlerInnen einen kreativen Ort zu schaffen, sind in einer alten Fabrikhalle ein Treibhaus, ein Fablab, eine Werkstatt, Coworking-Räume, eine multifunktionale, zentrale Halle und ein hervorragendes, für seine Innenarchitektur international ausgezeichnetes Café entstanden. Diese erst vor einem Jahr gegründete Initiative ist nicht zu einem meiner Lieblingsorte der Stadt geworden, sondern ich konnte auch die künstlerische Leiterin Manisha Vinod davon überzeugen, unsere Arbeit „Things Fall Apart“ dort, keine drei Wochen nach der Berlinpremiere, am 24. November zu zeigen. Ein voller Erfolg, vor allem aber auch für mich persönlich ein besonderes Erlebnis und wiederum ein Anlass für interessante Gespräche und Vernetzungen am Rande. Darüber hinaus hat die räumliche Gestaltung des Bangalore Creative Circus, sowie die besondere Reaktion der BesucherInnen auf Bangalore auf unser sehr von einem westeuropäisch geprägten Kunstkanon beeinflusstes Werk uns nachhaltig neue künstlerische Wege aufgezeigt, die zu deutlichen Änderungen bei weiteren Aufführungen führen werden.
Die in diesem Projekt und in der Reaktion darauf gesammelten Erfahrungen konnten sehr gut in die Arbeit mit den Tänzerinnen des STEM Tanzensembles einfließen, insbesondere weil mit dem Element von Mixed Reality, wenn es durch Echtzeit-Video auf die Bühne projiziert wird, eine gute Orientierung auch für passive ZuschauerInnen gegeben ist. Insofern ergeben sich szenisch interessante Situationen, die noch weitestgehend unerforscht sind – spannend!
Bangalore ist Indiens Zentrum für Informationstechnologie und damit auch weltweit einer der Hotspots für neueste IT-Entwicklungen. Über die Arbeit mit Jaaga / BeFantastic und die Überlegungen über das Festival FutureFantastic gab es bereits erste Berührungspunkte mit dieser High Tech-Welt, für die Residenz ergab sich aber zusätzlich eine besondere Gelegenheit durch den Kontakt zum ABAI Centre of Excellence. Diese teilweise durch den Bundesstaat Karnataka geförderte Organisation betreibt neben einer finishing school für 3D-Modellierer, Animatoren und weitere Mediengestalter, mehrere Laboratorien und Studios, zum Beispiel auch ein Studio für Motion Capture. Von exzellenten Fachleuten auf Weltniveau betrieben, werden hier Bewegungsaufnahmen für die Film- oder Videospielindustrie angefertigt, auch für internationale Kunden.
Wir wurden eingeladen, einen halben Drehtag dort zu verbringen. In vier Vorbereitungstagen erarbeiteten Madhu und ich gemeinsam einige Kurzchoreographien, die sowohl einen kleinen Einblick in das Spektrum der Company geben sollten, als auch voraussichtlich in VR oder MR gut funktionieren würden. Vor Ort wurden diese Sequenzen dann in mehreren Takes aufgezeichnet und direkt mit Standard-Videospiel-Charakteren visualisiert. In weiteren Prozessen sollen diese Aufzeichnungen jetzt noch durch sogenanntes Tracking und Cleaning verarbeitet werden, bis dann die Bewegungsdaten genutzt werden können. Wir denken derzeit (Januar 2023) darüber nach, aus diesen Daten eine kleinere Mixed Reality-Installation zu produzieren, die von STEM im Rahmen von indischen Tanz- oder Digital Arts-Festivals gezeigt werden kann.
Ein weiterer Kontakt aus dem Januar führte mich Anfang Dezember ins nordöstlich von Bangalore gelegene Chennai. Dort traf ich die Tänzerin, Choreographin und Wissenschaftlerin Swarnamalya Ganesh, die sich insbesondere mit indischen Tempeltänzen beschäftigt, und mit der ich im Verlaufe des Jahres einen intensiven Austausch über erweiterte digitale Möglichkeiten hatte. In Chennai konnten wir uns endlich persönlich treffen, und sie hatte die Gelegenheit sowohl bestehende Arbeiten bessere kennenzulernen, also auch bestimmte, vorab diskutierte Ideen und Konzepte auszuprobieren. Wir haben einen weiteren Austausch vereinbart und möchten gegebenenfalls gemeinsam arbeiten. Den Abschluss meines Besuchs in Chennai bildete eine Performance von STEM beim Amrit Yuva Kalotsav Festival, stimmungsvoll umrahmt durch den tropischen Wirbelsturm Mandous, der uns durch seine starken Winde und Regenfälle, und den dadurch ausgefallenen Rückflug eine improvisierte Rückfahrt im Minibus durch die Nacht nach Bangalore bescherte...
Die Abschlussveranstaltung meiner Residenz und Präsentation der Projektergebnisse fand hingegen schon am 5. Dezember im Studio in Malleswaram statt. Konzipiert als lecture performance stellten die Tänzerinnen Adrika Subhash und Deeksha Kumar gemeinsam mit mir in kleineren szenischen Einheiten Teilaspekte unserer Arbeit während der Residenz vor. Ein sehr wichtiger Bestandteil des Abends war der Austausch mit dem Publikum, wir konnten zahlreiche Fragen beantworten, Gespräche führen, sowie den Raum für das konkrete Ausprobieren und Erfahren von VR/MR bieten. Aus meiner Sicht ein voller Erfolg.
Obwohl mit einer Reise ins im Bundesstaat Kerala gelegenen Kochi und dem Besuch der dortigen Kunst-Biennale der offizielle Teil der Residenz endete, konnte ich kurz vor Weihnachten in Bangalore noch an einem weiteren, uns wichtigen potenziellen Projekt arbeiten. Für das FutureFantastic-Festival im März 2023 wurden wir gebeten, eine neural theatre-Arbeit für den Stadtraum von Bangalore zu konzipieren. Angelehnt an unsere Bühnenstücke mit Künstlicher Intelligenz (Prometheus Unbound, Der Mensch ist ein Anderer, Mensch am Draht) und James Joyce's Ulysses sollen hierbei lokale Performer über 24 Stunden den stream of consciousness / Bewusstseinsstrom eines Neuronalen Netzes sprechen und spielen. Am 21. Dezember konnte ich hierfür bei einem Workshop in den Räumlichkeiten von Jaaga im Zentrum der Stadt zahlreiche interessierte, potenzielle DarstellerInnen gewinnen.
Die bangaloResidency war somit für mich persönlich eine ausgesprochen gute Erfahrung. Künstlerisch / professionell konnte ich meine vorab gesteckten Ziel nicht nur erreichen, sondern zahlreiche weitere, interessante Entdeckungen machen und Kontakte knüpfen, die mir und uns hoffentlich nicht nur in unserer Arbeit in Europa, sondern auch bei künftigen Projekten in Indien behilflich sind. Die Zusammenarbeit und das Zusammensein mit meinen Gastgebern, insbesondere natürlich Madhu Natraj, war ungemein freundlich, freundschaftlich und angenehm. Ich habe mich immer sehr willkommen gefühlt, und sie haben mir einen Einblick in die ungeheuer reiche und großartige indische Kultur gegeben, für den ich zutiefst dankbar bin.
Dasselbe gilt für das Team im Goethe-Institut. Hierbei möchte ich insbesondere den Kontakt mit Nandita Nirgudkar hervorheben, die immer ein offenes Ohr für mich und meine Fragen und Probleme hatte. Auch diese sehr gute Betreuung hat den Aufenthalt so besonders angenehm gemacht. Und zuletzt bin ich immer noch begeistert von Menschen, Natur und Kultur der Orte, die ich in diesen zweieinhalb Monaten kennenlernen durfte. Dieser Aufenthalt in Südindien war für mich ganz besonders. Wenn ich eine Sache hervorheben müsste, wäre das die ungeheure Freundlichkeit und Neugierde, die mir immer entgegengebracht wurde. Danke!