Julius Gabriel (*1988 in Ost-Berlin) ist Saxophonist und arbeitet als freischaffender Musiker. Im Zentrum seiner Arbeit als Solokünstler steht hauptsächlich die Erforschung des Saxophons. Er ist der Improvisation zugewandt, nutzt erweiterte Spieltechniken und erkundet die multidimensionale Entfaltung des Sounds seiner Instrumente durch Raum- und Elektroakustik. Seit 2017 hat er die Soloalben Dream Dream Beam Beam, Ætherhallen, Geminga und Eyes in Orbits veröffentlicht. Derzeit arbeitet er an neuer Musik für ein mit mehreren Schallwandlern präparierten Tenorsaxophon und ein mit Doppelmundstück und Bordunröhre erweitertem Sopransaxophon.
Er hat Solo, als auch mit großen Ensembles, als Gastmusiker sowie mit eigenen Projekten in ganz Europa u.a. auf den Festivals blurred edges, Fusion, Open Source, Moers Festival, unerhört!, Sidéral Psych Fest, Keroxen, Rainy Days, Ad Libitum, Krakow Jazz Autumn, Jazztopad, Tremor, Jazz em Agosto, Milhões de Festa, Primavera Sounds, Sonic Blast, SWR Metalfest, Waking Life, Zigurfest gespielt und u.a. auf Alben mitgewirkt, die auf den Labels Rocket Recordings, Lovers&Lollypops, Subcontinental Records, Creative Sources, Ana Ott, Umland Records, Not Two Records und Intakt Records erschienen sind.
An der Folkwang Universität der Künste in Essen (Nordrhein-Westfalen) hat er in Ensembles für Neue Musik gespielt, u.a Kurse in Akustik und Notation belegt und in 2015 den BA Jazz Performing Artist absolviert. 2016 hat ihn ein Künstlerstipendium nach Portugal geführt, wo er seitdem regelmäßig gearbeitet hat. Er lebt zur Zeit zwischen Porto und Berlin.
Während der bangaloREsidency 2022 in dem Indian Music Experience Museum plant er ein antikes diatonisches Sopraninosaxophon in Kooperation mit einem lokalen Instrumentenbauer zu rekonstruieren, mit lokalen Perkussionisten zu spielen, Fieldrecordings als auch Studioaufnahmen zu machen und Unterricht für karnatisches Saxophon zu nehmen.
Abschlussbericht
Mitte Oktober kam ich endlich mit meinen Saxophonen in Bangalore an. Das Residenzprojekt war für mich wegen der Pandemie um zwei Jahre verschoben worden, was mir aber etwas Zeit zur künstlerischen Vorbereitung gegeben hatte. Mein Partner vor Ort war das Indian Music Experience (IME), Indiens einziges interaktives Musikmuseum. Ihr Ziel ist es, das Verständnis und die Wertschätzung für die Vielfalt der indischen Musik zu fördern.
Die erste Phase war geprägt von viel Organisation, einer starken Magenverstimmung und dem Ehrgeiz, sofort musikalisch loszulegen. Zunächst erkundete ich das Museum, wo ich durch die Musikgeschichte Indiens wandern und täglich im Learning Center üben konnte. Lakshmi, die Koordinatorin des Museums, unterstützte mich täglich bei meinem Zeitplan.
Bald nach meiner Ankunft traf ich meinen Freund Arun N, auf dessen Label Subcontinental Records ich 2020 bereits eine CD veröfentlicht hatte. Er bot mir an, mich für eine Woche zu beherbergen, da meine Unterkunft noch immer ungeklärt war. Wir fuhren zu einem verlassenen Steinbruch im Bannerghatta-Nationalpark, um Feldaufnahmen zu machen. Schon bald hatte ich einen Soloaufritt in den Walkin Studios bei einer Veranstaltung namens Noise Drips und eine spontane Session mit Yashas Shetty.
Aufgrund des ofensichtlichen Mangels an städtischen Instrumentenbauern beschloss ich, meine Idee, ein kleines antikes diatonisches Saxophon nachzubauen, aufzugeben. Bald darauf besuchte ich ein wunderbares Konzert in der Chowdiah Memorial Hall - "Weaving Voices" mit vier prominenten Sängern und vier Instrumentalisten aus den verschiedenen klassischen Strömungen der indischen Musik. Mit Hilfe der örtlichen Auto-Rikschas navigierte ich durch die Stadt. Die Tage waren lang, aufregend und erschöpfend, die Nächte eher kurz. Ich muss zugeben, dass der ungewohnte Lärm des Verkehrs und der Baustellen in der Nähe es mir im ersten Monat schwer machte, gut zu schlafen.
Meine Priorität als Saxophonist war es, Unterricht zu nehmen, zu üben, Ideen auszutauschen, zu proben und sechs Wochen später mit anderen Musikern aufzutreten. Die erste Session fand mit Tavil Raja statt, einem Pionier der karnatischen Jazz-Fusion-Musik. Dann traf ich einen bekannten Ghatam-Spieler, Giridhar Udupa. Die Sessions machten viel Spaß und führten mich in die rhythmische Komplexität der karnatischen Musik ein. Udupa engagierte mich für einen Aufritt, und auf sein Angebot hin hatte ich sogar eine Künstlerunterkunf in Aussicht. Er organisierte auch ein Trefen mit Vidwan Dakshinamurthy, einem Nadaswaram-Spieler par excellence, der mein Guru werden sollte. Ich verbrachte viele Stunden mit Dakshinamurthy, und an einem Morgen spielten wir sogar gemeinsam in einem Tempel. Die Nadaswaram hatte mich schon lange fasziniert und motivierte mich, mein Klangspektrum auf dem Saxophon zu erweitern. Durch den Unterricht bei ihm bekam ich einen ersten Einblick in die karnatischen Ragas und die Kunst der Verzierung. Unter seiner Anleitung begann ich, eine Tillana aus dem legendären tamilischen Film Tillana Mohanambal von 1968 zu lernen und in westliche Notation zu transkribieren. All dies geschah, ohne dass wir uns viel auf Englisch verständigen konnten.
Ich nahm auch Unterricht bei Sridhar Sagar, einem Disciple von Kadri Gopalnath, dem Pionier des karnatischen Saxofons. Sein 12-jähriger Sohn, Meister Tridhaat S., war ebenfalls anwesend und seine Fähigkeiten beeindruckten mich sehr. Es war eine bereichernde Erfahrung, mit ihnen zu interagieren. Ich war eingeladen, Tridhaats Konzert am Karnataka College of Percussion zu besuchen, einer Institution, die mein Interesse bereits durch eine auf einem Album von 1981 dokumentierte Kollaboration mit dem legendären Krautrock-World-Jazz-Kollektiv Embryo und dem amerikanischen Saxophonisten Charlie Mariano geweckt hatte.
Ich ging mit guter Laune in die zweite und letzte Phase meiner Residenzzeit. Doch die Situation nahm schnell eine Wendung. Die Termine für zwei Aufritte bei der Indian Music Experience wurden mit so viel Verspätung festgelegt, dass meine geplante Zusammenarbeit nicht mehr stattfnden konnte. Eine zufällige Begegnung mit der Sitarspielerin Navya Rudrappa in dem Kunstraum Kāṇike kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Es folgte ein langes, inspirierendes Gespräch über unsere jeweiligen musikalischen Hintergründe, das der Beginn einer neuen Zusammenarbeit sein sollte. Navya arrangierte bald ein Trefen mit dem Parai-Spieler Naresh Kumar.
Es folgte ein sehr spontaner und feuriger Aufritt auf dem RhythmXchange Festival in der IME mit seinem Perkussionsensemble AGNI. Meine Zusammenarbeit mit Navya wurde bald zum zentralen Projekt der Residenz. Sie brachte mir mehrere hindustanische Ragas bei, und im Gegenzug konnte ich mein Wissen über Jazz und westliche Musiktheorie weitergeben. Der Prozess war so bereichernd, dass wir zwei Wochen lang von früh morgens bis spät abends arbeiteten. Wir hatten auch Sitzungen mit Dakshinamurthy und diskutierten die Vergleiche zwischen hindustanischen und karnatischen Ragas und die spezifschen Intonationssysteme.
Für meine Abschlusspräsentation am 1. Dezember am IME haben wir den erfahrenen Tabla-Spieler Muthu Kumar eingeladen. In derselben Woche leitete ich in der IME einen spielerischen Workshop mit den Kindern und Studenten des Learning Centers. Kurz darauf reiste ich zur JSS-Musikkonferenz nach Mysore, um dort eine Lecture-Demonstration zu geben. Ein Aufritt der Malladi Brothers auf demselben Festival war für mich der Höhepunkt. Zurück in Bangalore fand ein Hauskonzert mit Navya Rudrappa und Naresh Kumar in Kāṇike statt. In den folgenden zwei Tagen führte ich Tonaufnahmen im IME-Auditorium durch, um einige vorangegangene Kollaborationen zu dokumentieren. Schließlich ging es mit der gesamten bangaloREsidency Gruppe nach Kochi, um die Biennale zu besuchen. Nach einer Performance in der Foreplay Society, einem Of-Space der Biennale, war ein kleiner Urlaub längst fällig.
In letzter Minute entschied ich mich, meinen Rückfug nach Berlin zu verschieben, da ich das Gefühl hatte, dass mein Lernprozess gerade erst begonnen hatte und einige künstlerische Kooperationen gerade im Entstehen begrifen waren. Eine interessante Einladung zu einem Konzert am historischen königlichen Hof von Anegundi war ebenfalls in Aussicht.