Kerstin Godschalk lebt und arbeitet als Kuratorin und Kulturmanagerin in Berlin. Seit 2014 hat sie die künstlerische Leitung an der HB55 Kunstfabrik inne, einem 7.000m2 großen Ateliergebäude mit mittlerweile über 200 spartenübergreifenden Kulturschaffenden. Auf 600m2 Ausstellungsfläche organisiert sie dort Ausstellungen und kulturelle Veranstaltungen.
Unter dem Titel “L’espace de l’espèce” fasst sie ausgehend von Henri Lefebvres Studien über die Produktion von Raumordnungen aufstrebende Positionen zusammen und erschafft Kontexte, die Interaktionen mit Raum und Mensch befördern. Fernab von einer Disziplinierung der Künste, Sehgewohnheiten und Herangehensweisen eröffnet sie interdisziplinäre Erfahrungsräume, die den Dialog antreiben und multimedial zu allen Sinnen sprechen. Gezielt werden Kontrollmechanismen überwunden, um neue Wege der Reflexion über bestehende und kommende soziale Realitäten zu ebnen.
Während ihres Studiums der Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Kunstsoziologie zog es Kerstin Godschalk zunächst für ein Jahr nach Argentinien.
Darauf folgend arbeitete sie mit Andreas Siekmann, Alice Creischer und Max Jorge Hinderer zunächst als Praktikantin am Haus der Kulturen der Welt, Berlin, dann begleitete sie sie mit dem Ausstellungsprojekt “Das Potosí Prinzip” nach La Paz, Bolivien, ans Museo Nacional de Arte (MNA)/ Museo Nacional de Etnografia y Folclore (MUSEF). Postkolonialismus, Globalisierungsphänomene und aktuelle gesellschaftspolitische Debatten spielen seitdem eine zentrale Rolle in ihrer kursorischen Arbeit.
Als Kulturmanagerin hielt sie die Produktionsleitung der Konzertagentur Handshake Booking, Berlin, sowie des Stattbad Weddings, Berlin, inne. Diese berufliche Erfahrung verstärkte ihren interdisziplinären und multimedialen Ansatz in der Entwicklung von Veranstaltungsformaten, die Bildende und Darstellende Kunst mit Musik vereinen.
Von 2013 bis 2015 war sie als kuratorische Assistentin von Anselm Franke und Projektkoodinatorin der Ausstellungsserie “Das Anthropozän-Observatorium #2-4” am Haus der Kulturen der Welt, Berlin, tätig. Im Laufe des vergangenen Jahres veröffentlichte sie darüber hinaus Artikel und gab zu verschiedenen Anlässen Talks.
Im Sommer 2015 nahm Kerstin Godschalk mit den Künstlern der HB55 Kunstfabrik als Partnerin an der ersten Berlin Food Art Week teil. Unter dem Motto “LEBENSMITTELpunktKUNST” versammelte sie internationale Positionen, die zu Zeiten der Foodcourts, des Globalfoods und des gesunden und ethisch korrekten Essens, die Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit von Nahrung in unserer heutigen Gesellschaft hinterfragt. Neben einer Ausstellung hielt die Woche an der HB55 Kunstfabrik auch interaktive Performances bereit. Gespeist wurde zur Eröffnung, zu Dinner-Performances und zur Abschlussveranstaltung an einer langen Tafel im Ausstellungsraum, die das Herzstück der Ausstellung darstellte und zum Austausch und der Reflexion unseres Konsumverhaltens einlud.
Im Zwei-Jahres-Zyklus wird die Berlin Food Art Week zukünftig wieder aufgenommen. Kerstin Godschalk plant in Zusammenarbeit mit dem Forager Collective in Bangalore während ihrer Residency ortsspezifische Positionen herauszuarbeiten, die sie im kommenden Jahr in das Festival integrieren kann. Ihre Recherche ist angetrieben von der Frage, was das Essen und Leben auf der Straße in Bangalore im Vergleich zu Berlin bedeutet: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind erkennbar, welche globalen Überformungen gleichen die Städte an und welche Traditionen widersetzen sich? Vor allem geht es hierbei auch darum herauszufiltern, worin die lokale Motivation, der Anspruch und die gesellschaftliche Funktion einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema liegt. Ihre Ergebnisse wird sie zunächst in Form eines Artikels für das Forager Magazins zusammenfassen.
Abschlussbericht
“Der Geruch von Holz, Wald liegt in der Luft. Rosenduft doch keinerlei Rose in Sicht.
Nur die unendliche Weite des Landes. Vögelgezwitscher mischt sich unter das Zischen und Rattern des Zuges. Diesig breitet sich das Land aus. Flirrend die Hitze. Heiß der Fahrtwind, der mir ins Gesicht schlägt und meine Füße umspielt!Vier Wochen Indien ein Rausch! Und auch hier haben die Züge Verspätung.”
Dies waren die ersten und letzten Zeilen, die ich während meines Bangalore Aufenthalts schrieb. Auf dem Weg zurück aus Mysore, vom gemeinsamen Abschlussausflug der Residenten mit Christoph und Maureen.
Eine wahnsinnige Zeit, die mich bis heute, einem Monat danach, sprachlos zurücklässt, überwältigt und doch jeden Moment Wert war. Das Goethe Institut Bangalore hat ein großartiges Residencyprogramm auf die Beine gestellt, das einem die nötige Freiheit lässt, sein Projekt vor Ort zu entwickeln und es gleichzeitig in die richtigen Bahnen lenkt, um den sozio-kulturellen Nährboden aufzutun und das eigene Netzwerk auszuweiten.
“Greifvögel kreisen über den Dächern. Im Hintergrund ruft der Muezzin sein Gebet in die rauchende Stadt. Müll liegt in der Luft.”
Betritt man Bangalore, betritt man Indien, so scheint es mir als Neuankömmling. Ein sehr modernes, junges Indien. Trotzdem: hier treffen alle Kulturen, alle Religionen, Sprachen, Regionen und Ausformungen von modern bis konservativ orthodox zusammen. Jeder, so scheint es, ist sich hier seiner Tradition und dem Umfeld bewusst, passt sich dem jeweiligen Strom des Bezirks und der Umgebung an, schwimmt wie ein Chamäleon mit. Denn: jeder Tag, jeder Bezirk hält komplett andere Welten parat, die sich begierig einfangen lassen und zugleich für mich unkategorisiert im Schwebezustand verweilen. Denn: jede Minute und Sekunde erlebt man etwas komplett Neues. In dem Moment, wo man eigentlich dachte, jetzt habe ich etwas begriffen, weiß, wie ich mich zu verhalten habe, begegnet man einer völlig fremdartigen Situation. Zu jedem Zeitpunkt ist man angehalten konzentriert aufzunehmen, Zusammenhänge zu verstehen und vorsichtig, jedoch nicht verhalten, zu reagieren.
Abschalten kann man hier nur schwer, sich treiben lassen erst recht nicht. Man muss mit dem Lauf der Stadt mithalten, sonst ist man verloren. Trotzdem habe ich mich nie wirklich bedroht oder unfrei gefühlt. Gerade als Frau war das meine größte Sorge. Doch die lange Hose, das T-Shirt und der Schal, den ich mir immer umschlug, stellten keinerlei Einschränkungen dar, sondern Schutz vor Staub, Rückzugsmöglichkeit und vor allem Respekt gegenüber der anderen Kultur.
Alles schien mir so auffällig, dass ich selbst nicht noch unnötig Aufsehen erregen wollte.
Geleitet von dem Bedürfnis, in der Masse unterzugehen, war ich als Beobachterin nach Bangalore gekommen. Dennoch war es für mich ungewöhnlich, dass mir die Worte fehlten. Nach zwei Wochen hatte ich das erste Mal das Gefühl, ich könnte das, was in dieser riesigen Stadt passiert, greifen. Aber wie sollte ich in den noch verbleibenden zwei Wochen, zu all den Orten zurückkehren? Wie mich mit den Straßenverkäufern, die meist kein Englisch sprachen verständigen? Ich musste mich damit abfinden, dass eine Recherche zum Thema Streetfood in diesem Sinne nicht möglich war. Gemeinsam mit meinen Hosts, dem Forager Collective, fiel uns jedoch auf, dass meine Verwirrung eines ganz klar offenbarte: Streetfood stellte hier, im Gegensatz zu meinem eigenen Konsumverhalten in Berlin, einen Moment des Innehaltens und eine Ruhepause her.
Streetfood war Rast, der Aufenthalt am Straßenrand für die Menschen der Stadt ein Halt im Alltag. Der aus der Ferne überlegte Themenschwerpunkt stellte nicht nur für mich einen guten Anhaltspunkt dar, nach dem ich mir die Stadt erschloss, sondern es brachte mir die Stadt näher. Stereophon ist Anlaufstelle für jeden, der Bangalore betritt. Hier kommt man an und kehrt in eine andere Welt und Esskultur ein. Man verständigt sich auch ohne Worte und betrachtet die Dinge mit Abstand zum Kommen und Gehen, zum Treiben der Straße und zum unaufhörlichen Wachstum der Stadt. Man schöpft Vertrauen im Wissen, dass dieser Ort beständig ist. Findet einen Anknüpfungspunkt, von dem man sich die Stadt ständig neu erschließen kann, von dem unendliche Wege abzweigen.
Kontrolliertes Chaos: auch wenn die Stadt aus allen Nähten platzt, man ihr anmerkt, dass sie schnell, viel zu schnell gewachsen ist. Sie ist überfordert. Die Menschen in ihr haben sich jedoch eingerichtet in ihrem Mikrokosmos des eigenen Bezirks, haben ihre Routinen und Anlaufstellen aufgebaut. Jeder Bezirk hat seine eigene Logik und Kultur. Auch wenn oder gerade weil es immer wieder neue Impulse gibt und die Stadt wächst, zollt sie der Vielfalt der Einwohner Bangalores und ihrer Herkunft aus ganz Indien und der Welt Tribut. Die Varietät an Kulturen, Sprachen und Einflüssen ist vor allem auch am Essenangebot erkennbar. Längst gibt es viel nordindisches Essen, reicht die Foodlandkarte über die Grenzen Karnatakas weit hinaus. Natürlich gibt es durch die Tech-firmen und die IT-Brache auch ein verwestlichtes Angebot an Essen und Lebenskultur. Berater bringen Ansprüche mit, Firmen ihre Kultur. Die Foodtrucks mit Hamburgern und Hot Dogs vor Firmen und Shopping Malls bedienen eine andere Klientel als die Carts auf den Straßen mit traditionellem indischen Essen und Snacks.
Indien: ein Land der Kontraste; für mich jedoch nicht so sehr zwischen Armut und Reichtum. Bangalore zeigte mir ein anderes Gesicht. Ich habe dort Dinge erlebt und gesehen, die man sonst nicht an einem Abend erfährt. Habe in wenigen Stunden Welten durchstreift, Spuren hinterlassen und Eindrücke mitgenommen. Habe an einem Abend im traditionellen Sari an einer konservativen Gesellschaftshochzeit mit 2800 Gästen teilgenommen, einem Grunge Konzert bei einer Vernissage in einem hippen Co-working Space mit französischen Barkeepern gelauscht und die Nacht in einem zum Startup-Office umfunktionierten Einfamilienhaus zum Tag gemacht, Zwischen der alten Möblierung und Dekoration, zwischen Post-its und Whiteboards, war ich Berlin auf einmal wieder seltsam nah, die selbe Musik, dieselben vom Rausch aufgeheizten Gespräche. Doch der Balkon hielt in der Hängematte Geschichten von Tigern und dem einzigen lebenden schwarzen Panther in Indien parat.
Eins ist klar: die Stadt ist sändig in Bewegung, aber beim Essen wird innegehalten. Dann verschwindet die Hektik aus dem eigenen Blick und es kehrt Ruhe ein. Auch wenn man alleine is(s)t, steht man zusammen um den Cart, entzieht sich dem Rausch und genießt.