„Triff du besser diese Entscheidung“, sagt A. zu E., sichtlich überfordert von seiner Aufgabe: Er, A., ist eine junge Frau in Metropolis, die sich entscheiden muss, ob sie arbeiten gehen oder zu Hause bleiben will, um ein Buch zu schreiben. Außerdem ist A. ein Teilnehmer von PLAN, PLUG & PLAY, einem feministischen Game Creation Workshop, den ich anleite.
E. hat das Spiel geschrieben und ich bin zu diesem Zeitpunkt die einzige Frau im ganzen Raum. Sie nimmt A. die Entscheidung nicht ab, und so eilen alle anderen Männer im Raum zur Hilfe, um durch dieses unbekannte Terrain zu navigieren. Sollten sie sich von ihrem herablassenden Ehemann scheiden lassen und zu ihrer Familie zurückkehren? Die Gruppe entscheidet dagegen. Sollten sie ihren Boss damit konfrontieren, dass sie erheblich schlechter bezahlt werden als ihr männlicher Kollege? Die Gruppe entscheidet sich dafür und erntet einen verächtlichen Kommentar ihres Chefs, wie emotional sie doch seien.
Es ist eine seltsame und lustige und frustrierende Situation und wir enden mehrfach in solchen Szenarios. Die Teilnehmer präsentieren Spiele, in denen der Spieler einen Fluss zu überqueren hat, jedoch, ganz gleich, was für Entscheidungen er trifft, letzten Endes immer ertrinken wird. Spiele, in denen wir der Briefträger sind, der die Liebesbriefe zwischen Hannah Ahrendt und Martin Heidegger überliefern muss. Spiele, in denen wir mit Robotern darüber sprechen, was für eine Art Leben wir führen möchten, und Spiele, in denen wir ein Dinosaurier sind, der aussterben wird, ganz gleich in welche Ära er zeitreist. Wir vergrößern unseren Weg durch eigenartige, farbenprächtige Traumlandschaften und treffen Bugs Bunny, der uns vor einem abgedroschenen Anime-High-School-Hintergrund von den Freuden des Lernens erzählt.
Unter den Teilnehmern ist ein Indie-Developer, der an einem Spiel über die Ausbreitung des Universums arbeitet und der lernen möchte, wie er andere Spieler für die Geschichte seiner Welt interessieret und sie dazu bringen kann, empathisch auf die Charaktere in dieser Welt zu reagieren; dann eine Frau, die sich weder zu sehr für Videospiele noch fürs Programmieren interessiert, jetzt aber Interesse am Schreiben von Interactive Fiction entwickelt hat; ein Mann, der die Auswirken von Technologie auf interpersonelle Beziehungen untersucht und nun vielleicht Spiele zur Vertiefung dieser Studien nutzen will; ein Mann, der eher zufällig mitten in den Workshop hineinplatzte und dann zwei Tage lang kämpfte, bis er genau so viel Code verstanden hat wie alle anderen auch; viele junge, schüchterne Designstudenten, die mit Codeschnipseln und Pixeln und Bugs und Fehlermeldungen ringen, um etwas zu produzieren, dass grob sein wird, einfach, noch immer voller Bugs und Fehlermeldungen, aber funktionierend, empfindsam, ehrlich und vielversprechend: Darauf kann man aufbauen.
Wir hatten nur drei Tage, um so weit zu kommen, und unsere Wege trennen sich mit einem Versprechen: Wer hier etwas gelernt hat, mit dem er etwas anfangen kann, will es auch jemand anderem beibringen. Um etwas auszulösen, um anderen Menschen zu ermöglichen, ebenfalls selbst Spiele und Interactive Fiction zu kreieren. Spiele, die davon handeln können, dass man die Prinzessin rettet und alles erschießt, was sich bewegt, aber auch von anderen Dingen; je mehr Menschen etwas vom Designen und Schreiben ihrer eigenen Spielwelten verstehen, so meine naive Überzeugung, desto mehr Vielfalt können wir erwarten und umso mehr Themen haben wir, aus denen Spiele entstehen können.
Mit vielen der Teilnehmer stehe ich noch in Kontakt, und sie schicken mir Updates zu ihren Spielen und Projekten. Dies ist der beste Ausgang, den Blank Noise, mein Host in Bangalore, und ich und wünschen konnten. Wir haben etwas organisiert mit einem kleinen, aber bleibenden Eindruck auf die Teilnehmer, während wir ganz selbstverständlich über Race, Class und Gender in Videospielen geredet und dabei Storytelling, World Building und die Basics des Codes vermittelt haben.
Bangalore ist voller Moskitos, während ich diesen Workshop gebe, und ich verdiene mir meinen Anteil roter und violetter Markierungen auf meinen blassen, dünnen Beinen. Dengue-Fieber macht die Runde und jeder neue Stich und viele, viele Menschen erinnern mich daran, dass ich nicht konstant Shorts tragen sollte – egal unter wie viel Schichten Insektenschutzmittel ich meine Haut vergraben habe. Unter meinem rechten Auge wächst ein Pickel, ich leide dank des niemals endenden Hupenorchesters in meiner Nachbarschaft an chronischem Schlafmangel, vor ein paar Tagen habe ich mein Kamm irgendwo verloren und du lieber Gott, mein Rücken bringt mich um – kurz gesagt, weder sehe noch fühle ich mich sehr lehrermäßig (aber dafür umso mehr wie ein Medienkünstler), und trotzdem ist das Starten von Diskussionen über Spiele als Kunstform überraschend einfach. Und Blank Noise, deren Ziel unter anderem ist, in der digitalen Welt Fuß zu fassen, behandeln mich als hätte ich schon immer mit ihnen gearbeitet und geben mir das Gefühl, dass meine Beiträge zu ihren Projekten wertvoll sind.
In den vier Wochen, die ich nach Bangalore eingeladen wurde, komme ich eine Menge in der großen Stadt herum, und noch nie zuvor habe ich so viele Taxis gerufen. Zwei Fremde, die über eine Stunde oder länger im selben Auto eingesperrt sind, können zu einer gewissen Vertraulichkeit untereinander führen. Es hilft wahrscheinlich, dass ich ein Tourist bin und offensichtlich das Land in wenigen Wochen wieder verlassen werde, und so fangen einige der Männer – ich habe nie eine Taxifahrerin getroffen – an, mir Geschichten über ihre Arbeits- und Familienprobleme und Geheimnisse vor Arbeitskollegen zu erzählen, äußern Kritik an der lokalen Politik oder erklären ihre persönlichen Gedanken zu Menschenrechtsangelegenheiten. Andere versuchen, so viel wie möglich über mich oder meinen kulturellen Hintergrund herauszufinden, inklusive meiner Verdienste und wie das Leben in Deutschland momentan sei („kalt“ ist meine am meisten genutzte und am besten verstandene Antwort). Und wenn der Verkehr langsam sein sollte – das ist er oft – finde ich mich gelegentlich in Situationen vor, in denen ich lange FAQs gebe über Religion, Essen, Vegetation, Wetter, Sprache und Familienverhältnisse. Und manchmal, wenn keiner von uns der Sprache des anderen ausreichend mächtig ist, nutzen wir eben Handgesten und peinlich berührtes Lächeln – denn irgendwo muss ich ja aus dem Wagen auch wieder aussteigen, und, na ja, sagen wir mal, es sind der Straßenname und die Hausnummer in deinem Herzen, die zählen, statt der, wo du aussteigen willst. Insbesondere, da Straßennamen und Hausnummern generell keine so übliche Sache sind.
Ich besuche Orte, die zu sehen ich mir bereits in Deutschland vorgenommen habe – das Goethe-Institut, naheliegender Weise, das Büro von Blank Noise im Srishti Institute, den Botanischen Garten, die National Gallery of Modern Art – und Orte, von denen ich entweder nicht wusste, dass sie existieren, oder die zu besuchen ich definitiv niemals vorhatte. Wie etwa ein Krankenhaus (man erinnere sich an den „Du lieber Gott, mein Rücken bringt mich um“-Absatz: Medikamente aus dem Krankenhaus helfen definitiv in diesem Bereich im Austausch für ein Magengeschwür, oder was immer es ist was mich mitten im Monsun in Mysore kotzen lässt, was als Bild etwa so romantisch ist, wie es klingt), eine ganze Reihe großer Malls und eine sehr dekadente Konditorei. Ich erwische mich in diesem indisch-chinesischen Restaurant, wie ich einem jungen Mann, den ich letzte Woche kennen gelernt habe, beibringe, mit Stäbchen zu essen, mich ganz erwachsen gebend und nicht als hätte mir eine Freundin aus Südkorea erst vor zwei Jahren beibringen müssen, wie ich Nudelsuppe mit Bambusstäbchen zwischen meinen Fingern esse. Ich verbringe eine halbe Stunde in den dicht bevölkerten, engen Gängen eines Supermarkts, fasziniert davon, dass einfach alles hier vegetarisch ist. Lebensmitteleinkauf ist gerade ein gutes Stück einfacher für mich geworden, vorausgesetzt dass ich bei einem Kassierer lande, der Zugriff auf eine Kasse hat, die die im Laden angebotenen Produkte überhaupt kennt. In einem Buchladen entdecke ich, dass ausgerechnet Archie hier sein eigenes Regal hat, gleich neben einer indischen Comicbuchserie über Hindugottheiten. Auf einem Straßenmarkt bereue ich ernsthaft, dass ich meine Seilsandalen mitgebracht habe, und ich und meine Seilsandalen jetzt hier sind, im Monsun, die Straßen überflutet mit scheußlich braunem Wasser, und mein Sandalen saugen jeden einzelnen Tropfen davon aus und riechen auch nach zweimaligem Waschen noch unverwechselbar kotig.
Um meine Eltern nicht (zu sehr) zu enttäuschen, zwinge ich mich Fotos zu schießen. Ich schieße nie Fotos. Die einzigen Selfies, die ich je aufgenommen habe, entstanden unter Gruppenzwang, als ich 16 war. Als ich in Bangalore ankomme, befinden sich genau 0 Fotos auf meinem Smartphone, das ich mir übrigens gerade erst zugelegt habe, weil ich natürlich zu cool für Smartphones bin (nebenbei: Sollte man jemals ein Taxi kriegen wollen, ist ein Smartphone in Bangalore essentiell), aber mein gewohntes Stück beeindruckender Zukunftstechnologie aus dem Jahr 2003 ist gerade kaputt gegangen und ein Freund hat mir sein altes – ich meine ALT, alt genug, dass mich die Taxifahrer bemitleidet haben und mir aufzählten, wo ich günstig ein neueres Modell kaufen könnte – Smartphone überlassen, so dass ich wenigstens irgendwie kommunizieren kann, und meine Güte, bin ich froh darum. Wie auch immer, als ich gehe, gehe ich mit – lass mich zählen – etwa 60 Fotos, was bedeutet, dass ich rund 2 Fotos pro Tag aufgenommen habe, was für mich einen absoluten Rekord darstellt. Zuvor habe ich niemals Fotos gemacht, weil ich mich dann wie ein Tourist fühle, und nun kann ich offen sagen, dass ein Tourist sein harte Arbeit und die Mühe nicht wert ist, weil alle Bilder, die ich mache, von Dingen sind, die ich interessant finde, und die Dinge, die ich interessant finde unterscheiden sich sehr von den Dingen, die meine Freunde und Familienmitglieder interessant finden. Was ich sagen will ist, ich mache hauptsächlich Bilder von Affen, Plakaten, Überlandleitungen und dem Wi-Fi-Passwort meines Apartments, und manchmal von besonders malerischen Szenen, in denen der Gedanke „Meiner Mutter würde das gefallen“ mir durch den Kopf schießt (es hat ihr irgendwie gefallen). Die Reaktion meiner Familie auf die Fotos ist dennoch interessant, denn als ich sie das erste Mal zeige, sagen sie mir, dass sie sich Indien sehr viel malerischer und hell und in wärmeren Farben vorgestellt haben. Und das ist wahrscheinlich das Bild, das die meisten, die Indien nie besucht haben, davon haben, fürchte ich: Dass es dieser „andere“ Ort ist, wo alles strahlend hell und rot und golden ist und, was weiß ich, voll mit reichlich verzierten Elefanten vor einer endlosen Anhäufung von Palmen und Taj-Mahal-Repliken – und eben kein Land in dem eine Stadt, groß, stressig, beschäftigt, verworren und verregnet wie Bangalore, oben auf dem Deccan Plateau sitzt und sehr damit beschäftigt ist, groß und stressig zu sein.
Habe ich das Essen erwähnt? Ich bin enttäuscht, aber das ist hauptsächlich so, weil ich ein Trottel bin. Weil ich GEHÖRT habe, dass indisches Essen dazu tendiert, scharf zu sein, habe ich in Deutschland meinen Magen für vier ganze Wochen darauf hin trainiert. In meiner Küche züchte ich Chilis, und für einen Monat gibt es Chilis auf alles. Chilipizza. Chilipasta. Chilibrot. Chilisalat. Chilisuppe. Es war übrigens ein großartiger Monat. Ich stoppte mich selbst erst, als ich darüber nachdachte, Chiliflocken über meine Haferflocken zu streuen. Und dann bin ich in Bangalore und mein Magen ist voll im Modus „Come at me, bro“ und das Essen ist eher so „Guten Abend, mein Herr. Wie kann ich ihren Gaumen kitzeln?“, weil ich eben geglaubt habe, was ich über Indien als Ganzes GEHÖRT habe, anstatt nachzuforschen und herauszufinden, dass die Küche von Karnataka als sehr mild gilt, und jetzt sitze ich hier mit meinem eisernen Magen und bitte den Kellner, mir ein paar rohe Chilis zu bringen, weil meine Geschmacksknospen tot sind. Zimtäpfel und Jujuben sind dafür toll. Und ich mag es, dass ich hinter jeder Ecke rohe Erdnüsse kaufen kann, und ich erzähle besser niemandem, wie viele Kilogramm ich gekauft und während meiner regelmäßigen Allnighter, in denen ich geschrieben, gecodet oder designt, einen experimentellen Chatroom aufgesetzt, Ressourcen verlinkt, ein Poster erstellt, insgesamt heruntergeschlungen habe. Seltsamerweise fühle ich mich, als ich gehe, als hätte ich nicht genug getan. Es muss noch an so viel gearbeitet werden.
Was kann ich noch sagen? Es war eine großartige Erfahrung. Ich habe das Arbeiten in Bangalore geliebt und hoffe, dass ich dorthin zurückkehren kann, um für Blank Noise und auf eigene Faust zu arbeiten. Und die Tatsache, dass zurück in Deutschland die Deutsche Bahn es geschafft hat, mein Gepäck zu verräumen, so dass alles, was ich in Bangalore dabei hatte oder gekauft habe einfach für drei Wochen verschwunden und dann mysteriöser Weise in Wuppertal wieder aufgetaucht ist? Nicht meine liebste Anekdote dieses Jahres, insbesondere dank des unverwechselbaren Geruchs von Schimmel, als ich endlich meinen Koffer für den lächerlichen Preis von 35 Euro und ein paar überanstrengte Nervenzellen zurückbekam und ihn öffnete, aber in den Top Ten. Es ließ mich die Erinnerungen mehr wertschätzen als die lächerlichen kleinen Souvenirs, aber das heißt immer noch nicht, dass ich nicht sauer bin über dieses fehlende Kilogramm roher Erdnüsse in meinem Koffer.