Goethe-Institut in Shillong
Als wir uns um die Feuerstelle versammelten, hörten wir einander zu und versuchten, die Bedeutung hinter den Worten zu verstehen.
"Übersetzung ist eine Art Wesensverwandlung; ein Gedicht wird zu einem anderen. Man wählt seine Übersetzungsphilosophie genauso wie man sich für einen Lebensweg entscheidet: die freie Übersetzung, bei der Sinn vor Genauigkeit geht, oder die wörtliche Übersetzung, bei der Genauigkeit vor Sinn geht. Der Dichter bewegt sich vom Leben zur Sprache, der Übersetzer von der Sprache zum Leben; wie der Immigrant versuchen beide, das Unsichtbare zu identifizieren, das, was zwischen den Zeilen steht, die geheimnisvollen Bedeutungen." Anne Michaels, ‘Fugitive Pieces’ ('Flüchtige Stücke') An einem kalten Winternachmittag Anfang Januar in Shillong machten sich drei Dichter und zwei Übersetzer auf den Weg zum "Tripura Castle", um sich zum ersten Mal zu treffen. Sie wirkten entspannt und angespannt zugleich. Alles, was die Dichter voneinander kannten, waren die translinearen Übersetzungen der eigenen Gedichte, aus dem Khasi ins Deutsche, aus dem Deutschen ins Assamesische und anders herum. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen.Als wir uns zur ersten Sitzung versammelten und überlegten, wie sich dieser Prozess des gegenseitigen Verstehens und die Diskussion gestalten könnten, verdichtete sich die uns umgebende kalte Luft, Erwartungen und Fragen standen im Raum: "Wie sollen wir das in den wenigen Tagen, die wir gemeinsam haben, bewerkstelligen? Wo setzen unsere Erklärungen ein, und wann wird gegenseitiges Verstehen einsetzen?" Diese Fragen beschäftigten uns sehr.
Die erste Runde begann mit Kerstin Preiwuss, einer Lyrikern und Prosa-Schriftstellerin, die soeben aus Leipzig eingetroffen war. Sie bezeichnet ihre Sprache als Tier in ihrem Mund, aus dem das rebellische Wort hervorbricht. Wanphrang Diengdoh, der ‘einheimische Dichter’ aus Shillong, der auch Filmemacher und Musiker ist, und meint, dass jede Sprache tief in ihrem Inneren eine Geschichte und das Zeugnis einer Sprachgemeinschaft birgt, sowie Maitrayee Patar aus dem Nachbarstaat Assam, die ihre Lyrik als ihre Meditation bezeichnet. Drei Menschen, drei Sprachen und mehr als drei Perspektiven. Kerstin hat Vieles mitzuteilen und zu erklären über all die Dinge, die sie sagen will und die nicht in den von ihr geschriebenen Versen und Worten stehen, sondern dazwischen, dahinter und deren ungeachtet.
“Have you seen my fish?
It was hunted by an octopus.
That had tentacles like I have fingers on every hand.
Maybe it mummified my fish.
Maybe I’m sitting in the belly of the fish.
Maybe the fish touched both of us”
(Translation by Bradley Schmidt)
Habt ihr meinen Fisch gesehen?
Er wurde von einem Kraken gejagt.
Der hatte Tentakeln wie ich Finger an jeder Hand.
Vielleicht hat er meinen Fisch mumifiziert.
Vielleicht sitz ich im Bauch des Fischs.
Vielleicht hat es uns beide berührt.
Through the window I see rooftops
Behind them a view of the forest
At the community water tap people fill up their buckets
They grow flowers in front of their homes in worn out jeep tyres
(Translation by Mary Therese Kurkalang)
Durch das Fenster hindurch sehe ich Dächer
Dahinter der Blick auf den Wald
Am Gemeinschaftsbrunnen füllen Menschen ihre Eimer
Sie pflanzen Blumen vor ihren Häusern in alten Jeep-Reifen.
Afternoon casts shadows in the city.
Whistles form on the mouths.
Crimson.
A boulevard stretches through a meadow of songs
Homebound.
(Translation by Maitrayee Patar)
Nachmittag wirft Schatten in der Stadt.
Pfiffe formen sich auf den Mündern.
Purpur.
Ein Boulevard erstreckt sich über eine Wiese aus Liedern
Heimwärts.
Wir trafen uns erleichtert, hungrig oder abgelenkt zu den Mahlzeiten. Beim gemeinsamen Essen sprachen wir über das Essen, unsere Familien und unser Leben, erzählten Geschichten aus unserer Heimat und von den Straßen, die wir zurückgelassen hatten, das Wetter zuhause und über die Sprachen, die wir sprechen und in denen wir denken und träumen.
Eine schnelle Suche (im Internet: Anm. d. Übers.) über die drei Sprachen - Deutsch, Khasi und Assamesisch - zeitigt interessante Ergebnisse. Deutsch ist die Muttersprache von fast 100 Millionen Menschen weltweit, und ist die am häufigsten gesprochene Muttersprache in der Europäischen Union. Als Wissenschaftssprache und auf Internetseiten ist sie die zweithäufigste Sprache nach dem Englischen. Die deutschsprachigen Länder stehen an fünfter Stelle bei Publikationen neuer Bücher, ein zehntel aller Bücher weltweit (einschließlich e-Bücher) werden in deutscher Sprache veröffentlicht.
Khasi gehört zur austroasiatischen Sprachfamilie. Sie wird vom Volk der Khasi gesprochen. Die meisten der 1,6 Millionen Khasi-Sprecher leben im indischen Bundesstaat Meghalaya. Die Sprache wird auch von einigen Khasis in den Bergregionen von Assam und in Bangladesch gesprochen. Die Sprache hatte keine eigene Schrift, erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die bengalische Schrift verwendet, meist für amtliche Mitteilungen und Dokumente. Im Jahr 1841 führte ein walisischer Missionar die lateinische Schrift für die Khasi-Sprache ein. Im Mai 2012 galt die Sprache bei der UNESCO nicht länger als gefährdet.
Assamesisch ist eine östliche indoarische Sprache. Sie ist eine der 22 offiziell anerkannten Sprachen Indiens, und die offizielle Sprache im indischen Bundesstaat Assam. Sie wird von mehr als 15 Millionen Menschen gesprochen. Sie war die Sprache am Hof der Ahom-Könige ab dem 17. Jahrhundert. Gemeinsam mit anderen östlichen indoarischen Sprachen entstand das Assamesische vor dem 7. Jahrhundert aus dem mittelindoarischen Magadhi Prakrit, das sich aus Dialekten entwickelte, die dem vedischen Sanskrit ähnlich aber in gewisser Weise archaischer sind. Die Sprache wird in assamesischer Schrift geschrieben.
Am dritten Abend kuschelten sich Dichter, Schriftsteller und Gruppenleiter aneinander um den ersten Fassungen der übersetzten Gedichte zu lauschen. Die Autoren waren gespannt zu hören, wie man ihre Gedichte übersetzt hatte - Gender, Religion, Geschichte, Glauben und mehr... sie stießen sich an und stellten Fragen, verhandelten und erklärten, waren manchmal frustriert und mal beschwingt, und sie waren dabei alle ein wenig erschöpft. Nach diesem ersten Austausch zog sich jeder zurück, um aufs Neue zu schaffen oder umzuarbeiten.
Am darauffolgenden Nachmittag erreichten wir den Ort, an dem unsere erste öffentliche Lesung stattfinden sollte. In der Einladung zu der offenen Veranstaltung stand "Kommt und schart Euch um das Feuer" - und genau das taten wir. Wir saßen rings herum um ein offenes Holzfeuer, während die Autoren ihre eigenen Gedichte und die Übersetzungen der Gedichte ihrer Kollegen vorlasen. Wir sprachen auch über diese Reise, von der wir nun langsam wieder in die Realität zurückkehrten. Über diese Erfahrung und den Übersetzungsprozess sagte Kerstin: "wenn ich die Gedichte veröffentlicht habe, dann gehören sie nicht mehr mir". Rebekah, die Übersetzerin aus dem Deutschen ins Khasi und aus dem Khasi ins Deutsche sagte, diese Erfahrung sei wie kein anderer Prozess gewesen, den sie in ihrer langen Karriere als Übersetzerin und Sprachlehrerin erlebt habe. Wanphrang teilte mit, die Vorgehensweise habe ihn dazu gezwungen und ihm dabei geholfen, sich verbal verständlich zu machen, da er als Filmemacher und Musiker eher in Bild und Ton zu denken gewohnt sei. "Es ist eine neue Erfahrung für mich und ich habe viel gelernt und lerne immer noch viel dazu," sagte Maitrayee. Die Besucher hörten zu und applaudierten, stellten viele Fragen und äußerten viele Bedenken: "Was geht in der Übersetzung verloren? Soll man überhaupt übersetzen?"
Am selben Abend stiegen wir die Treppen in den Keller eines Hotels im Herzen der Stadt hinab, der Ort nennt sich "Abendclub". Heute Nacht gönnten wir den Autoren eine Pause. Wir ließen die Gläser klingen und setzten uns, bevor es stockdunkel wurde. Ein Lichtstrahl fiel auf eine drahtige Frauengestalt, die Stimme der Schauspielerin erklang - es war Lapdiang Syiem, sie brachte Dichtung, Sprache, und Kultur - sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart - auf die Bühne. Ihr neues Werk trug den Titel "Ich strecke meine Hand aus und greife nach... Wurzeln... entwurzelt stehe ich hier."
Übersetzung: Claudia Richter