Coding da Vinci
Die Digitalisierung der Kultur
Besucher von Museen und Archiven betrachten Kulturstücke für gewöhnlich hinter Vitrinen in abgedunkelten Ausstellungsräumen. Dabei könnten sie heute längst stärker erlebbar sein. Der Kultur-Hackathon „Coding da Vinci“ zeigt, wie Museumsstücke digital zum Leben erwachen.
Von Eva-Maria Verfürth
Klassische Museen bauen auf die Fantasie ihrer Besucherinnen und Besucher: Die schützenswerten Ausstellungsstücke dürfen meist weder angefasst noch ausprobiert werden – wie sie sich anfühlten oder genutzt wurden, müssen sich die Betrachtenden selbst erschließen. Auch Schriftstücke und Informationen werden zwar möglichst anschaulich aufbereitet; doch jeder Besucher und jede Besucherin muss sich eine eigene Vorstellung davon machen, wie sich die Ereignisse abgespielt haben mögen. Dabei zeigen aktuelle Beispiele aus einem Kultur-Hackathon-Projekt: Ausstellungsstücke könnten in der digitalen Welt längst erlebbar gemacht werden, und geschichtliche Orte können virtuell auferstehen.
Wer beispielsweise in den Funktionsanzug des VR-Exponats „Kleid-er-leben“ schlüpft, wird am eigenen Leib spüren, wie die Gewänder vergangener Jahrhunderte aus dem Historischen Museum Frankfurt die Bewegungsmöglichkeiten einschränken. Die Nutzer und Nutzerinnen wählen ein Kleidungsstück aus, bewegen sich darin in virtuellen historischen Räumen und können sich selbst im Spiegel betrachten. Die historischen Telefonapparate der Museumsstiftung Post und Telekommunikation wiederum werden im mobilen RingRing-Spiel lebendig: Stehen die Ausstellungsstücke im Museum stumm und reglos im Regal, beginnen sie in der App zu klingeln, bis die Userin oder der User jedem Modell den richtigen Klingelton zugeordnet hat. Politisch-unterhaltsam wird es in der App „Altpapier“, welche die skurrilsten Zeitungsmeldungen aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zusammenstellt: Entertainment und historische Bildung in Einem, überall verfügbar per Smartphone und Internet.
Selbst die größtenteils nicht mehr existente Berliner Mauer kann in der virtuellen Sphäre erlebbar werden. Das Archiv der „Stiftung Berliner Mauer“ haben Programmiererinnen und Programmierer direkt auf die Straße getragen. Wer sich bei einem Berlin-Spaziergang die App „Berliner MauAR“ herunterlädt, kann auf seinem Bildschirm die Berliner Mauer an ihrem ursprünglichen Ort vor sich sehen oder gar um sie herumlaufen. Per GPS-Lokalisierung zeigt das Smartphone die historischen Bilder genau der Orte an, an denen sich der User oder die Userin gerade befindet. Oder man kann sich über die Webseite „Aufbau Ost-Berlin“ ansehen, wie sich die DDR-Regierung die Zukunft der Hauptstadt ausmalte. Die Webseite und mobile Anwendung schlägt Touren zu unterschiedlichen Themen vor und präsentiert an jedem Ort die jeweilige DDR-Vision.
Von der Tourismus-App bis zum Roboterkäfer: Screenshots und Bilder der Projekte, die bei Coding da Vinci entstanden sind.
| Foto: © Coding da Vinci
Über ein Dutzend neue Projekte in nur sechs Wochen
All diese digitalen Anwendungen machen Wissensaneignung zugänglicher, anschaulicher und auch unterhaltsamer. Dabei sind sie keineswegs das Ergebnis lang angelegter, kostspieliger Großprojekte. Im Gegenteil: Sie sind allesamt in einem Zeitraum von nicht mehr als sechs Wochen während des Kultur-Hackathons Coding da Vinci entstanden. Hier kommen Kulturinstitutionen und Technik-Experten aus unterschiedlichen Branchen zusammen, um neue Ideen für Kulturvermittlung zu entwickeln – ohne kommerziellen Hintergrund und begrenzt auf einen fest definierten Projektzeitraum.Dass dabei in kürzester Zeit komplett neue Anwendungen entstehen können, liegt vor allem daran, dass die Ressourcen dafür längst vorhanden sind: Die meisten Kulturinstitutionen digitalisieren ihre Sammlungen. Viele Museen, Archive, Bibliotheken und Galerien haben digitale Datensätze angelegt, um ihre Bestände zu sichern und zu sortieren. Ob hochauflösende Kopien von Gemälden, historische Soundfiles oder 3D-Scans von Dinosaurierskeletten – Unmengen an wertvollen Daten lagern auf den Servern von Kulturinstitutionen. Genutzt werden sie bisher meist nur intern oder zu Forschungszwecken. Das ändert sich beim Hackathon: Hier geht es darum, die vorhandenen Daten neu zu nutzen.
Ins Leben gerufen hat den Kultur-Hackathon 2014 ein Zusammenschluss von Kultur- und Open-Data-Organisationen – darunter die Deutsche Digitale Bibliothek, das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS), die Open Knowledge Foundation Deutschland und Wikimedia Deutschland. Seitdem fand er ein- bis zweimal jährlich in unterschiedlichen deutschen Regionen statt; weitere acht Hackathons sollen dank einer Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes im Zeitraum 2019 bis 2022 hinzukommen. Bei einem Auftaktworkshop präsentieren die teilnehmenden Kulturinstitutionen ihre Datensammlungen. Interdisziplinäre Teams aus Designerinnen, Entwicklern, Grafikerinnen, Museumskuratoren, Künstlerinnen, Hackern und Spieleentwicklerinnen sammeln daraufhin Ideen für Projekte – seien es Apps, Spiele oder visuelle Infografiken –, die sie in der anschließenden sechswöchigen Arbeitsphase direkt umsetzen. Aus den ursprünglich bereit gestellten Daten entstehen so gänzlich neue Produkte: Im Schnitt über ein Dutzend Projekte in nur wenigen Wochen.
Potential von Kultur nutzen
Mit dem Projekt möchten die Organisatoren von Coding da Vinci Kulturinstitutionen dazu ermutigen, ihre digitalisierten Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: „Wenn sie mit öffentlichen Geldern erstellt wurden, sollten sie jedem frei zur Verfügung stehen“, so die Begründung. Längst nicht alle Kulturgüter werden auch als Exponate ausgestellt, viele verbleiben in den Magazinen der Museen. So sind sie für die Öffentlichkeit nicht sichtbar. Wären sie digital zugänglich, würde sich das ändern – davon sind zumindest die Macher von Coding da Vinci überzeugt. Ziel der Hackathon-Projekte ist es zudem, ein junges, digital-affines Publikum für Kultur und Museen zu begeistern. Auch dafür braucht es mehr Material, das digital zur Verfügung steht.Auf der Grundlage der Fotografien von Gisela Dutschmann, die den Wiederaufbau Ost-Berlins mit ihrer Kamera festgehalten hat, haben die Teammitglieder von "Aufbau Ost-Berlin" digitale Stadtführungen erstellt | Screenshot © Aufbau Ost-Berlin Technisch wäre es kein Problem, die digitalen Sammlungen zu öffnen. Dennoch schrecken viele Kulturinstitutionen davor zurück. Sie befürchten, dass die Daten unsachgemäß genutzt oder kommerzialisiert werden könnten. Elisabeth Klein, Projektkoordinatorin von Coding da Vinci Rhein-Main, versteht es daher als Aufgabe des Projekts, Kultureinrichtungen die Angst vor diesem Kontrollverlust zu nehmen. Beim Hackathon können sie sich mit der Hacker-Community vernetzen. Sie bekommen Kontakt zu Programmiererinnen und kreativen Köpfen und erhalten gleichzeitig einen Einblick, welch unterschiedliche Projekte aus offenen Daten entstehen können.
Ruth Rosenberger vom Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sieht ihre Teilnahme an Coding da Vinci durchweg positiv. „Ich bin wirklich beeindruckt vom hohen Niveau der Projekte. Spannend war die Zusammenarbeit mit einem jungen, interdisziplinären Team, das mit einem frischen Blick auf die Fotos aus unserer Sammlung geschaut hat. Ein modernes Museum muss auch seinen Platz im Netz einnehmen. […] Der Kultur-Hackathon hilft uns, neue Möglichkeiten zu entdecken.“
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